„Kunst kann sehr viel zu einem besseren Gesellschaftsbild beitragen“ Amelie Persche, Sängerin_Wien 30.6.2021

Liebe Amèlie, wie sieht  jetzt  Dein Tagesablauf aus?

Momentan gehe ich vormittags noch in die Schule. Endlich wieder – nach dem so langen Lockdown. Nachmittags habe ich musikalischen Unterricht. Bald beginnen die Schulferien und damit auch meine Proben für das nächste Theaterprojekt, wo ich mitspiele. Ich freue mich, dass jetzt alles wieder anfängt.

Amèlie Perschè _ singer/songwriter

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?        

Dass wir wieder hinausgehen, Leute treffen, neue Dinge angehen, gerade junge Leute mussten doch sehr zurückstecken während der Lockdowns.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu? 

Ein Neubeginn ist eine coole Sache. Ich freue mich sehr auf all die Dinge, die ich jetzt wieder tun kann. Vor allem, dass es wieder möglich ist, ins Theater zu gehen und ich auch selbst wieder auf der Bühne stehen kann. Ich freue mich schon sehr auf meine nächste Premiere am 8.9.2021! Das wird die ODYSSEE 2021 – eine ganz neue Version der  bekannten Geschichte im Theater Arche in 1060 Wien. Ich finde Kunst und Theater kann sehr viel zu einem besseren Gesellschaftsbild beitragen. Und bei Leuten zum Umdenken und zu Veränderungen führen.

Was liest Du derzeit?

Gerade lese ich die Odyssee vom Homer. Das ist interessant, weil ich als Kind schon         Percy Jackson gelesen habe. Es gibt da viele Parallelen, da der Autor sich an der griechischen Antike orientiert hat.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?      

Aus „The Hill We Climb“  von Amanda Gorman: „We seek harm to none, and harmony for all.“       

Vielen Dank für das Interview liebe Amèlie, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Musikprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Amèlie Perschè, singer/songwriter

(1) Amélie Persché – YouTube

Foto_privat

30.6.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

        

„Was brauche ich wirklich? Worauf kann und sollte ich verzichten?“ Andrea Cochius, Konzeptkünstlerin_Lübeck 30.6.2021

Liebe Andrea, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich habe ein Morgenritual: Zunächst zwei Seiten schreiben ohne nachdenken, diese zwei Seiten dann lesen – kann ich jedem empfehlen. Ein wunderbares Mittel sich und sein Leben in den Griff zu kriegen oder zu behalten. Mittlerweile habe ich ein Regal, welches mit den täglichen autobiographischen Daten meiner letzten fünf Lebensjahre vollgestellt ist. Da ich nicht vorhabe damit aufzuhören, werde ich für diese Aufzeichnungen einmal einen ganzen Raum brauchen. Dabei kommen mir Ideen zu aktuellen Projekten, diese werden skizziert oder gleich umgesetzt und ich plane den Tag. Zum Abschluss meines Morgenrituals dann Sport – ohne Bewegung werde ich depressiv.

Ich ruhe mich aus. Es folgen Recherche und Projektkonzeption. Für mein aktuelles Kunst-Projekt EUROPEAN VISIONS etwa erforsche ich die Vorlieben von Personen unterschiedlicher sozialer Backgrounds in Bezug auf Kunstgemälde – hieraus entsteht eine Form der Porträt-Malerei. Neben der Malerei sind sehr viel Planung und Organisation nötig. Häufig muss ich jedoch schlicht Besorgungen machen.

Nach einer erneuten Pause endlich der Gang ins Atelier. Hier sind Raum und Zeit ganz meins.

Falls ich eine private Verabredung habe, bleibt für manch genannte Tätigkeit noch weniger Zeit, was mich dann ärgert. Verabredungen waren natürlich während des harten Lockdowns seltener der Fall. Das tat mir aber auch nicht gut – ich hatte den Eindruck ein wenig zu verwahrlosen. Mindestens zwei Stunden mehr Zeit am Tag wären schön.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Sich Wesentliches fragen:  Was brauche ich wirklich? Worauf kann und sollte ich verzichten? Welche Erinnerungen und Menschen bedeuten mir etwas?

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?

Der erlebte Verzicht wird uns zunächst helfen Situationen, Menschen und Dinge bewusster wahrzunehmen, anstatt sie bedenkenlos zu konsumieren – ich hoffe, dass diese potenzielle Wahrnehmungs- und somit auch Verhaltensänderung über diesen Aufbruch hinaus halten wird. Da es seit eh und je die Aufgabe der Kunst ist, die Wahrnehmung zu schärfen, könnte sie sich auf diesen Prozess positiv auswirken.

Was liest Du derzeit?

„Das Adressbuch“ von Sophie Calle.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält.“ (Johann Wolfgang von Goethe)

Und:

„Wer Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“ (Karl Lagerfeld).

Vielen Dank für das Interview liebe Andrea, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Andrea Cochius, Konzeptkünstlerin, Malerin

Andrea Cochius (andrea-cochius.de)

www.european-visions.eu

Facebook: https://www.facebook.com/frida.cochius

Instagram: @acochius

Foto_privat.

4.6.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Nein! Es gibt auch die Möglichkeit zu gehen.“ Veronika Kulcsar, Tänzerin_Romanjubiläum Malina _ Wien 30.6.2021

Ich habe schon als Kind Klavier gespielt und viel Sport gemacht. Bewegung und Musik waren immer wesentlicher Teil meines Lebens. Ich habe auch an Sportwettkämpfen teilgenommen. Erst war es Schwimmen, dann Volleyball. Beim Tanz war es dann zunächst Jazz, hiphop. Ich ging dann nach Wien, um Philosophie zu studieren.

Veronika Kulcsar_Tänzerin, Künstlerin

Dann unternahm ich Reisen nach Asien, Nepal, Thailand. Als ich zurück in Wien war, lud mich ein Freund ein, eine Performance zu filmen. Ich sah auf der Bühne etwas mir nicht Vorstellbares: Bewegung zur Musik, kein Theater, doch ein superstarker Ausdruck, keine feste Form, aber Synchronizität und freie Form. Die Form folgte Inhalt und Ausdruck. Das war wie eine Welt, die sich geöffnet hat. Augen, die sich geöffnet haben. Es war Liebe auf den ersten Blick (lacht). Da war ich zwanzig Jahre alt und habe dann konstant daran weitergearbeitet.

Tanz schafft Empathie. Es verbindet mit Mensch und Raum.

Ich bin niemand, die fest verwurzelt ist. Aber Wien ist mein Zuhause, my base, mein Nest.

Literatur inspiriert mich. Ich las schon als Kind viel und jetzt in den Coronazeiten auch vermehrt. Es ist eine Wechselwirkung zwischen den eigenen Gedanken, was mich beschäftigt, und den Büchern. Bücher verändern auch, es ist ein Geben und Nehmen.

Jede Erfahrung, jede Information, jedes Bild, verändert mich als Mensch, wird ein Teil von mir. Lesen, Tanz, Kunst sind so Treffpunkte, meeting points, und wir schöpfen daraus. Wir sind was wir sind aufgrund der Wechselwirkung von Innen- und Außenwelt und dem gegenseitigen Teilen.

Gesellschaftlich hat sich in den 50 Jahren seit Erscheinen des Romans viel getan. Aber ich denke, es ist wie eine Rolltreppe. Es muss weitergehen, sich weiterentwickeln. Es gilt nicht zu stoppen, nicht anzuhalten. Das betrifft Gesellschaft wie Selbstreflexion. Ich habe in Thailand intensiv Vipassana Meditation praktiziert. Mir wird jetzt immer bewusster, dass Erkenntnis ein aktiver Prozess ist. Wenn ich denke, jetzt „hab`ich`s“, und man stoppt, geht die Rolltreppe nach unten. Und das ist in gesellschaftlichen Fragen auch so. Entweder ist es ein aktives daran arbeiten oder verlieren. Entweder man macht es oder man verliert es. Ich denke Ingeborg Bachmann greift dies ja auch in ihrem Roman auf, dieses Aktivsein in Leben, Gesellschaft, in der Liebe. Und sie macht dies ganz radikal.

Bewusstsein ist nichts Passives. Es ist nicht etwas, das man kaufen kann.

Ich bin jetzt dreißig Jahre alt geworden. Da ist auch das Denken, jetzt habe ich viel hinter mir gelassen. Aber es gilt ständig an sich zu arbeiten, um sich zu entwickeln.

Mit dreißig bin ich nicht aufgewacht und war ein anderer Mensch. Natürlich hat sich viel verändert im Blick zurück auf die Zeit mit fünfzehn, neunzehn Jahren. Aber Geburtstage sind einzelne Schritte, die eher gesellschaftlich eine Bedeutung haben.

Unser Verständnis von Liebe ist freier geworden.

In jeder Form, in der wir eine Beziehung zu einem Menschen eingehen, Freundschaft, Liebe in unterschiedlichster Weise, ist es unglaublich wichtig, sich selbst zu kennen.

Wir spiegeln und entwickeln uns in unseren Freunden, Menschen um uns. Es ist Schönheit und Herausforderung. Dafür bin ich unglaublich dankbar.

Alle Menschen wollen geliebt werden und auch Liebe geben. Ich habe da ein Buch gelesen über eine Studie bei älteren Menschen, denen Haustiere gegeben wurden. Es zeigt sich, dass das Bedürfnis Liebe zu geben ein größeres Grundbedürfnis war als geliebt zu werden. Und Malina drückt dies ja auch aus. Wir sollten uns bewusst sein, dass beides extrem wichtig ist.

Wir tendieren in unserer Gesellschaft, auch in der Liebe, immer mehr zum „Haben-Wollen“, ohne zu fragen – wo ist das Schöne im Geben?

Patriarchale Strukturen gibt es nach wie vor in ganz vielen Gesellschaften. Wenn wir bedenken wie lange dies bestanden hat, wäre es naiv anzunehmen, dass es jetzt nicht mehr da.

In Liebesbeziehungen kann es viel Toxisches geben. Da steckt viel persönliches Erleben, etwa der Kindheit, drin. Bewusstwerden kann aber eine Chance werden. Da braucht es viel Stärke von beiden Seiten.

Wenn eine Frau merkt, wie im Roman, es gibt nur dieses „Verschwinden“ – Nein! Es gibt auch die Möglichkeit zu gehen. Alleine.

Wichtig ist zu sagen – „Ich bin mit mir selbst nicht alleine“. Und ich gehe eine Beziehung nur ein, wenn da etwas entsteht, wenn sich etwas entwickelt. Aber wo nicht etwas weggenommen wird.

Beziehungen entwickeln sich dynamisch. Es gibt Gutes und Schlechtes. Es gilt in einer Beziehung lösungsorientiert zu sein.

Leidensdruck kann ein Motor in der Beziehungsentwicklung sein. Wenn es nicht von beiden Seiten her ist, ist es schwierig.

Das Einzige was wir in einer Beziehung tun können, ist an uns selbst zu arbeiten. Wir tendieren rasch dazu, an anderen arbeiten zu wollen.

Das Selbstbewusstsein von Frauen kann für Männer ein Problem sein.

Gewalt ist Gewalt.

Eine Freundin von mir, nennt es „soul distancing“, dies meint in patriarchalen Gesellschaften, in denen die Frau nicht gehen kann aus der Ehe, Partnerschaft, damit aufzuhören Nähe zu suchen wo Nähe sein sollte aber nicht ist und sich innerlich abzugrenzen, um das was sie als Mensch, den schönen Teil ihrer Selbst, zu schützen. Das ist sehr tragisch, traurig, dass dies so oft und in so vielen Ländern noch nötig ist.

Ich selbst könnte „soul distancing“ nicht lange durchhalten.

Das Zerrissensein zwischen Ivan und Malina ist ja ein Spiegel. Es geht um Freiheit. Es sollte ein „Verschwinden“ im Spiegel sein, sich dort selbst zu finden. Das Finden, Definieren im Außen kann nicht gutgehen.

Es gibt heute so viele Beziehungsformen, Polyamorie, Polygamie, offene Beziehung, Monogamie, serielle Monogamie, monogamisch, ich weiß da wahrscheinlich nicht alle (lacht). Ich finde das superschön, weil Menschen sich da finden können und etwas ausleben können, das nicht geächtet wird, das ist super, nice.

Freiheit ist immer auch Verantwortung. Das gehört zusammen.

Oft funktionieren auch Negativ-Beispiele in der Liebe gut. Ich weiß nicht was ich will, aber ich weiß, was ich nicht will.

Wir sollten von anderen Erfahrungen lernen können, ohne auch selbst auf die Herdplatte greifen zu müssen.

Liebe auf den ersten Blick gibt es.

Liebe ist ein Tun. Liebe besteht solange man danach handelt. Es ist mehr als ein Gefühl.

Liebe ist nie ein „Ich liebe das“. Liebe ist Bewegung, Verstärkung. Da ist Verbindung, Zuneigung, die gezeigt werden.

Liebe ist aktives Handeln. Schöne Gefühle kommen und gehen.

Liebe ist ein Wert, den ich konstant erhalten will.

Man kann sich in der Liebe entscheiden, sich von etwas abzuwenden, dann endet die Verbindung, die Liebe.

Es gibt auch einseitige Liebe. Das ist zu unterscheiden und ein schmerzvoller Prozess.

Liebe ist Sehen und Gesehen-Werden. Liebe ist Dasein.

Gegenseitiges Arbeiten in der Liebe verbindet.

Wir haben als Menschen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Im Guten wie Schlechtem.

Veronika Kulcsar_Tänzerin, Künstlerin

50 Jahre Malina _ Roman _ Ingeborg Bachmann _ im Gespräch:

Veronika Kulcsar_Tänzerin _Künstlerin_Wien _ Station bei Ingeborg Bachmann _Mercure Grand Hotel Biedermeier_Wien_5_2021

veronikakulcsar.com | -Art is not a thing; it is a way.-

Interview und alle Fotos_Walter Pobaschnig _ 5_2021.

https://literaturoutdoors.com

„He: geht es euch auch so – da draußen?“ Lu Bonauer, Schriftsteller_Basel 29.6.2021

Lieber Lu, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Tagesablauf?

Da wage ich mich kurz aus dem alltäglichen Getöse – und damit aus den geistigen Niederungen von all den unbedeutenden Pips und Klicks empor, die uns ständig anzuspringen und zu besetzen wünschen. Und sage forsch: Als freie Seele will ich mich gerne dagegen sperren, Worte wie „Tagesstruktur“, „Ablauf“, „Programm“ zu benutzen. Das sind eigentlich bereits Laute, die das eigene, das innere Rauschen überlagern, nach dem ich mich immerzu sehne; den Zustand – Leere oder Stille – den ich für die Gedankengärung brauche – letztlich um mich denken zu hören, um schreiben zu können. Diese Phasen des Schreibens sind derzeit rar. Verschiedenes Privates mithin Persönliches umtreibt mich. Dazu gehören für mich die Bubbles der vorherrschenden Wirklichkeit kaum. Wenn ich mich da ab und an nicht einklinken würde, meine Ohren hineinhalten würde, gerieten mir auch einige globalstattfindende Tragödien – welche Kräfte da auch immer mitwirken mögen – ein wenig mit ins Durcheinandertal. Wirrwarr und Schein. Da bevorzuge ich oft die Betrachtung von für mich wahren Dingen. Hüpfschritt eines Kindes. Felder im Wind. Was nicht heißt, dass ich mich nicht informiere, sehe jedoch weitaus Essenzielleres die Welt durchdringen und verdunkeln. Aber lassen wir das mal beiseite. Zum guten Glück hatte ich die Möglichkeit, für einige Monate im Schreibexil verschiedene Literarische Projekte anzugehen.

Tagesablauf?

Ich versuche früh aufzustehen. Immer mal wieder Kaffee. Sonst derzeit das Notwendige. Anderswo rauscht die Seele.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Diese Frage zielt für mich irgendwie auf ein kollektives Bewusstsein ab. Für mich lässt sich darüber im Sinne „des Menschen im Kosmos“ reden. Aber ich verweigere mich dem Vorhandensein des kollektiven Bewusstseins gegenüber, wenn es sich aus etwas Diffusem herausbildet. Aus etwas heraus, das sich für mich in seiner Gesamtheit kaum verstehen lässt. Ein tragisches Ereignis – mit vielen damit verknüpften tragischen Schicksalen – durchstößt seit Monaten die Welt. Doch leitet sich daraus auch ein Kollektiv der Wichtigkeiten, der Dringlichkeiten, des Aufhorchens, der Sehnsüchte und so weiter ab? Gibt es nun plötzlich eine Gesellschaft mit einem gemeinsamen Sehnsuchtskern? Woraus speist dieser sich? Ein neuer Zusammenhalt – doch was sind die Bestandteile dieser Bindesubstanz? Aus welchem Labor stammen sie? Ein gemeinsamer Aufbruch – doch wohin? Gemeinschaft. Demut. Alles wünschenswert, natürlich, ja! Doch es scheint mir, als klaffen eben auch Wahrheit des Individuums und vorherrschende Wirklichkeit mehr und mehr auseinander. Längst beten wir die Herrlichkeit höherer Intelligenzen an, geben uns gottgleich und versuchen uns zugleich durchzuschlagen im Wirrwarr und was auf uns täglich an Nonsens einströmt. Wir sehnen uns nach Raum und Zeit, nach Rückzug, um alles zu ordnen, um wiederum globale Phänomene, Erschütterungen, Verschiebungen in Ruhe beobachten, wahrnehmen zu können. Ohnmachtsgefühl. Überdruss. Wesentlich-Sehnsucht. Vielleicht geht es nur mir – Nein, eigentlich glaube ich das nicht. He: geht es euch auch so – da draußen? Da – in Euch – da drinnen?

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Bevor ich darauf antworte, möchte ich klarstellen, dass ich mir der Relativität von Wesentlichkeit, von Problemen und unterschiedlichen „Weltentwicklungszuständen“ gewiss bin. Wie diese Aufbrüche innerhalb unserer Wohlstandsgesellschaft (und das sind wir nun mal im Vergleich zu Armutsländern) – ob gezwungenermaßen oder erlösend – mitzumachen sind, wird sich wohl erst mit Abstand sagen lassen – nun gut, gelobt seien sie wohl kaum. Unabdingbar? Zu welchem Preis? Die äußeren Bewegungsfreiheiten werden bestimmt nicht grösser und unabhängiger. Die Einschränkungen schon. Gerechtfertigt? Wie ist mit all dem umzugehen? Dafür scheinen mir die inneren Bewegungsfreiheiten entscheidend zu sein. Sie dürfen, nein, sie müssen expandieren. In mehr Zeit. In mehr Raum. Um denken zu können. Um die großen Fragen, welche in den öffentlichen und medialen Debatten kaum vorkommen, wieder neu zu stellen. Ist die geistige Größe einer Gesellschaft nicht daran zu messen, mit welchen Fragen sie sich befasst? Wie sie mit den möglichen Antworten umgeht und diese in die Entwicklung und ihre gesetzliche Verortung einbindet? Dafür sei der Kunst, der Literatur ihren Impetus einzuräumen. Buchstäblich. Raum. Und Zeit haben für diesen Raum. Um sich den großen Fragen stellen zu können. Das wünschte ich mir. Mehr Zeitressourcen. Mehr Mittel dafür. Für alle Künstler.

Was liest Du derzeit?

Auf dem Stapel zuoberst: „Die Abenteuer und Irrfahrten des Gaviero Maqroll“. Die in einem Band zusammengefassten sieben Kurzromane des Kolumbianischen Schriftstellers, Álvaro Mutis, handeln ja von einem rastlosen Suchenden, irrend über die Meere und Flüsse dieser Erde. Das passt eigentlich ganz gut. Vielleicht müssen wir wieder mehr selber suchen und irren können, statt in all dem Gefundenen, was uns verwirrt, umherzuirren.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Eigentlich wollte ich das Interview versöhnlicher angehen. Die Versöhnung mit der Welt ist ja ein ständiges Ringen darum – so wie es das ständige Ringen mit der eigenen Identität und Existenz gibt. Nun spricht aus mir eine gewisse Wut. Wut soll genauso ihren Ausdruck finden – wie andere Empfindungen. Doch bin ich eigentlich ein besonnener Mensch. Deshalb am Schluss diese Textstelle aus dem eben erwähnten Buch von Álvaro Mutis:

(…) Als sie an die Abgründe kamen, gingen die Maultiere unbeeindruckt weiter. Aber gelegentlich bewegten sie die Ohren, als witterten sie in der Ferne eine Gefahr. Am klaren, reglosen Himmel stieg der Mond mit friedlicher, beinahe versöhnlicher Gemächlichkeit auf. (…)

Lu Bonauer, Schriftsteller

Vielen Dank für das Interview lieber Lu, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Lu Bonauer, Schriftsteller

https://www.literaturport.de/Lu.Bonauer/

Fotos_Matthias Dettwiler

1.6.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„High Energy“ Die Achtziger – Das pulsierende Jahrzehnt. Jens Balzer. Rowohlt Verlag.

Es ist ein neues Zeitalter, das mit den 1980er Jahren anbricht.

Da sind Gesellschaft und Politik. Europa ist geteilt, der Eiserne Vorhang hängt mit schweren dunklen Wolken von Rüstung und Abschottung über den Beginn eines Jahrzehnts, in dem sich so viel verändern sollte. Und es beginnt mit Meinungsbildung und mit Kundgebungen besorgter Menschen in Westeuropa. Da ist ein starker Wille zu Veränderung und Frieden spürbar. Die Sorge und der Wille zur Zukunft, der Blick, die Bewegung in die Zukunft…

Da ist Kunst und Kultur. Die Musikbranche erlebt ganz neue Horizonte in den neuen Videoclip Formaten. Songs werden in Bildern präsentiert und eine neue innovative Kunstform erlebt Höhepunkte. Dies zieht auch in das TV ein. Charts, Hit Paraden werden zu Fixsternen am Fernsehhimmel. Und die Musik trägt auch zur Öffnung, Annäherung von West und Ost bei…“Ist das der Sonderzug nach Pankow?“…

Und da ist der Sport, der zunächst Olympia-Boykotte in Moskau (1980) und Los Angeles (1984) erlebt. Aber auch hier gibt es Öffnungen, Grenzen werden überschritten in Veranstaltungen und Kontakten…

Ein Jahrzehnt, in dem die Welt in Bewegung kommt und die gegen Ende des Jahrzehnts Ungeahntes ermöglicht…

Der renommierte Autor und Kolumnist, Jens Balzer, legt eine fulminante Darstellung, Beschreibung und Analyse des „High Energy“ Jahrzehnts der 1980er Jahre vor.

Es ist eine sehr gut Lesart, die einem gleichsam in Ereignisse und Diskussionen der Zeit eintauchen und teilhaben lässt. Zudem werden wesentliche Themen des Jahrzehnts anschaulich geöffnet.

„Ein Buch als fulminante Zeitreise in ein facettenreiches Jahrzehnt wie kein zweites!“

Walter Pobaschnig 6_21https://literaturoutdoors.com

„Ich war so sehr bereit etwas zu tun, zu lesen, zu singen, tanzen, streiten“ Julia Weber, Schriftstellerin_ Bachmannpreisteilnehmerin 2021 _ Zürich 29.6.2021

Rückblick_Bachmannpreis 2021_Interview-Blitzlicht:

Julia Weber_Schriftstellerin_Zürich__Teilnehmerin _Tage der deutschsprachigen Literatur _ 2021

Julia Weber_Schriftstellerin

Liebe Julia, herzlichen Dank für Deine Teilnahme, Deinen spannenden Text wie Lesung!

Wo und wie hast Du die Preisverleihung und den Abschluss der Literaturtage in Klagenfurt miterlebt?

Ich saß in meinem Atelier am Zürichsee und draußen kreischten Kinder und auch andere Menschen in der Hitze. Freunde warteten in einem anderen Raum und nach der Preisverleihung bin ich zu ihnen gegangen und habe einen Kaffee getrunken. Dann bin ich in den See gesprungen. Er war leider nicht mehr sehr kalt, aber dennoch, das Tauchen, war wunderbar.

Wie sieht Dein Rückblick auf die Literaturtage aus?

Während der Lesung, bei der ich dabei war, aber passiv, weil sie bereits aufgezeichnet worden war und nun abgespielt wurde, war ich so voller Adrenalin, dass ich mich selbst in der Lesung unglaublich lahm fand. Das war seltsam. Ich war so sehr bereit etwas zu tun, zu lesen, zu singen, tanzen, streiten, irgendwie das Adrenalin in eine Aktion umzusetzen, aber alles, was ich tun konnte, war mir absolut motiviert beim Lesen zu zusehen.

Danach war ich glücklich.

Und als die Leere, die oft nach einer Aufregung einsetzt, weil man merkt, dass sich die Welt nicht verändert hat und man selbst auch nicht und überhaupt die Aufregung in keinem Verhältnis zur Realität steht, einsetzte, langsam Platz einnehmen wollte in mir, kamen Nachrichten von Menschen, die von Ruth berührt wurden, die mir mitteilten, dass es etwas gemacht hat, die Worte etwas angestellt hatten in Ihnen, da war ich wieder angefüllt. Und nun, das ist das Gute an einem vollen Leben, ist Klagenfurt wieder in die Weite gerückt und ich mache meine Sachen.

Welche Inspirationen nimmst Du für Deine Literaturprojekte mit?

Ich hatte nach diesen Tagen, direkt nach der Lesung und Diskussion große Lust zu arbeiten, schreiben, das ganze Leben lang soviel wie möglich. Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass in der Diskussion über meinen Text die Meinung vertreten wurde, der Text mache sich lustig über die Frau mit dem Becken auf dem man Picknicken könne oder der weiche Bauch, in den man einsinke. Das hat mich sehr erschreckt, denn niemals, niemals will ich mich lustig machen über eine Figur. Das ist nicht meine Kunst. Es gab viele Menschen, die das gar nicht gelesen haben, das hat mich sicher beruhigt, dennoch will ich doch schlussendlich auch Menschen mit meiner Sprache erreichen, die vielleicht diese Möglichkeit der liebevollen Betrachtung eines inperfekten Körpers nicht mitbringen, die vielleicht zu sehr gefangen sind in der gesellschaftlichen Auffassung von Schönheit und die sich gar nicht vorstellen können, dass, wenn man das Imperfekte beschreibt, es vielleicht nicht mehr imperfekt sondern sich zur Schönheit wandelt in unserem Blick. Daran will ich weiterschreiben.

Was sind Deine nächsten Schreibprojekte?

Aus Ruth, die bereits über 240 Seiten spricht und das Erzählte der anderen Figuren wiedergibt, soll ein Roman, ein Buch werden.

Liebe Julia, vielen Dank für das Interview! Viel Freude und Erfolg weiterhin wie schönen Sommer!

Bachmannpreis 2021_Rückblick_Blitzlicht:

Julia Weber_Schriftstellerin_Bachmannpreistelnehmerin 2021

TEXT Julia Weber (CH) – Bachmannpreis (orf.at)

Live und on demand – Alle Videos 2021 – Bachmannpreis (orf.at)

Walter Pobaschnig 28.6.2021

screenshots _ Bachmannpreis 3sat – Walter Pobaschnig.

https://literaturoutdoors.com

„Auf der Straße begegne ich ganz vielen leeren Blicken“ Birgit Graschopf, Bildende Künstlerin_Wien 28.6.2021

Liebe Birgit, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Meine Tagesstruktur hat sich während Corona nicht viel geändert, als selbstständige Künstlerin bin ich unabhängig von fixen Arbeitszeiten und bin außerdem sowieso gewohnt, alleine zu arbeiten. Sowohl im Atelier, als auch in der Dunkelkammer.

Allerdings war ich seit über einem Jahr nicht mehr auf Reisen, die für meine Fotoprojekte eine große Rolle spielen.

Das wird sich jetzt schnell wieder ändern, denke ich.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Genaues Hinschauen. Ich bin viele Wege zu Fuß gegangen während der Lockdowns, mit mehrstündigen Gehzeiten quer durch die Stadt, die Dunkelkammer, in der ich arbeite, ist in einem Außenbezirk Wiens und dorthin bin ich dann halt auch immer gegangen, anstatt öffentlich zu fahren.

Durch das Gehen nehme ich die Stadt im Besonderen sinnlich wahr, zum Beispiel der Geruch. In vielen Gassen und Gegenden riecht es aufgrund von Märkten, bestimmter Firmen und Geschäften und Grünflächen und vielen anderen Faktoren eigentümlich ortsbezogen. Doch ändert die jeweilige Jahreszeit und das Wetter ebenso den olafaktorischen Charakter eines Grätzels. Die unterschiedliche Gerüche sind mitunter begleitet von verschiedenen Geräuschen, Sprachen und Stimmungen.

Ich habe eine Veränderung der Menschen beobachten können bzw mir ist zunehmend mehr Resignation und Aggressivität im letzten Jahr aufgefallen. Auf der Straße und in den öffentlichen Verkehrsmitteln begegne ich Leuten, die sprichwörtlich „auszucken“ und sich sehr leicht provoziert fühlen, ebenso wie ganz vielen leeren Blicken.

Ich habe mich selbst oft sehr einsam und traurig gefühlt während des letzten Jahres und bin schon neugierig wie die neue Post-Corona-Wirklichkeit jetzt aussehen wird. Es wird jedenfalls anders als vor der Pandemie.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst an sich zu?

Meine Bilder zeigen Inszenierungen an ausgesuchten Orten, die mit dem Unwirklichen, Mysteriösen und in der letzten Bildserie mit dem Dystopischen zu tun haben. Ich werde weiter am Sichtbarmachen bestimmter menschlicher Stimmungen und Atmosphären arbeiten, die ein narratives Momentum beinhalten, das jeder für sich anders interpretiert und aufgrund der persönlichen Erfahrungen anders liest.

Die Kunst per se hat keine Aufgabe, sie muss nichts und ist niemanden verpflichtet. Kunst darf nicht instrumentalisiert werden, den sie hat keinen Zweck, auch nicht, um eine Pandemie aufzuarbeiten. Dann wäre es eine Therapie.

Was liest Du derzeit?

Als Bettlektüre Helmut Lethens jüngstes Buch „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug.“

„Witwe für ein Jahr“ von John Irving höre ich gerade als Hörbuch, wenn ich in der Dunkelkammer aufräume.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Sinngemäß etwas von Peter Ustinov: Der Zweifel ist der Überzeugung vorzuziehen. Denn das Zweifeln lässt ein Umdenken zu und befähigt zu Selbstkritik und Toleranz. Wenn man von etwas überzeugt ist, sieht man keinen anderen Weg und da muss man aufpassen, den es könnte beschränkt sein.

Vielen Dank für das Interview liebe Birgit, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Birgit Graschopf, Bildende Künstlerin

Birgit Graschopf

Foto_Eva Keller

31.5.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Kunst und Kultur sind Balsam für die Seele, egal in welcher Form“ Claudia Sabitzer, Schauspielerin _ Wien 28.6.2021

Liebe Claudia, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Seit Anfang Juni des Jahres probe ich wieder. Vorproben für die neue Saison. Es fühlt sich ungewohnt und fast neu an. Auch stelle ich bei mir eine große Verunsicherung fest. War ich doch fast ein Jahr beinahe Eremitin. So ganz läßig kann ich die Maske noch nicht weglassen. Alle getestet, aber ich noch nicht geimpft.

Also mein momentaner Tagesablauf…

6:30 Tagwach, Frühstück gemeinsam mit den Kindern, Haushalt, Büro, Organisatorisches etc.

10:00 testen im KBB

11:00 Probenbeginn im Volks. Eine wunderbare Truppe hat sich da zusammengefunden. Was genau wir proben, soll an dieser Stelle noch nicht verraten werden. Der neue Spielplan ist noch nicht offiziell…

17:00 spätestens Probenende

Zuhause wartet der Alltag mit 3 Kindern, die alle versuchen das Coronalerndefizit aufzuholen. Ich helfe so gut ich kann und soll. Wenn alle im Bett sind, setze ich mich hin und überarbeite die Probe nochmals. Versuche die Gedanken weiterzuspinnen. Merke wie ich noch nicht so ins Laufen gekommen bin. So nach einem Jahr fern ab vom Theater. Habe das Gefühl für jeden Gedanken dreimal so lange zu brauchen.

1:00 Licht aus.

Claudia Sabitzer, Schauspielerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Umsicht, Nachsicht, Geduld, Vorsicht, Zusammenhalt, Humor, Zeit, Toleranz, Besinnung, Solidarität.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?

Diese Pandemie hat wie ein Brennglas gewirkt. Defizite zu Tage gefördert, gleichzeitig den Blick frei geschaufelt auf das was man vermisst.

In Bezug auf Kunst und Kultur würde ich mir wünschen, dass es einen niederschwelligeren Zugang für ALLE geben könnte.

Kunst und Kultur ist Balsam für die Seele, egal in welcher Form.

Was liest Du derzeit?

Gedichte von Yvan Goll

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Albernheit ist die Erholung von der Umwelt,

Peter Bamm

Vielen Dank für das Interview liebe Claudia, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Schauspielprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Claudia Sabitzer, Schauspielerin

CLAUDIA SABITZER – Volkstheater

Foto_Marcel Urlaub

8.6.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Kontaktfläche sein. Sichtbarmachend sein.“ Sara Hauser, Lyrikerin_Berlin 27.6.2021

Liebe Sara, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich arbeite als Lernbegleiterin an einer Oberschule, jeder Tag ist anders. Während des Lockdowns bestimmte ein Mix aus Sprachnachrichten, Telefonaten, Videocalls und persönlichen Besuchen in einem Übergangswohnheim meinen Alltag. Der persönliche Kontakt mit einzelnen Schüler*innen war eine tragende Konstante für mich, ich wusste: wenn es geht, bin ich ein bis zwei Mal wöchentlich im Übergangswohnheim und habe die Chance drei Jugendliche zu begleiten und mit ihnen zu arbeiten. Die Perspektiven der Jugendlichen beeindrucken und bereichern mich täglich. Wir sprechen über Gott, Racial Profiling, Motivationsschwierigkeiten, Träume, Ziele. Und schreiben Gedichte.

Als Online-Format habe ich eine Facharbeit zum Kreativen Schreiben geleitet, dabei sind tolle Texte entstanden und für uns alle ein bisschen Routine. Die Früchte dieser intensiven Zeit ernten wir nun. Ich begleite eine Gruppe von vier freiwilligen Jugendlichen dabei ein Minibuch  mit eigenen Texten zu erstellen. Es soll Fuck (ed) Up heißen. Täglich flattern Rückmeldungen zum Arbeitsstand, Fragen, Ideen ein. Daran hängt mein Herz gerade sehr, das trägt mich.

Und es zeigt: aus dieser abgekapselten Zeit ist etwas gewachsen. Ein Sprachfindungsprozess und Motivation und Raum eigene Ideen umzusetzen. Dabei sehe ich diese jungen Menschen wachsen, für sich, als Gruppe und als Sprachkünstler*innen, das ist sehr groß.

Sara Hauser, Lyrikerin, Literaturvermittlerin

Aber ja: Auch Ermüdungserscheinungen treten zu Tage. Und sind in ihren Nachwehen spürbar. Dass Corona wie ein Brennglas wirkt und die soziale Schere noch weiter vergrößert, sah und sehe ich mit eigenen Augen. Wer kein soziales Lernbegleitungsnetz und unermüdliche intrinsische Motivation hat, steht vor krassen Herausforderungen. Meine Arbeit mit einzelnen Jugendlichen ist ein Tropfen auf den heißen Stein einer systemischen Schieflage. Vielleicht werfe ich mit meiner Arbeit aber ein paar individuelle Dominosteine um. Ich bin mir sicher.

Und sonst? Ich esse gerade die ersten Male wieder in Restaurants im Außenbereich. Besuche weniger die Schafe auf dem Tempelhofer Feld, wo ich im harten Lockdown täglich war. Ich esse weiterhin Mohn-Marzipankuchen, den in so unfassbar gut bisher nur aus der Bahnhofsbäckerei in Luckenwalde kenne.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Behutsam Räume eröffnen. Formen von Nähe schaffen, trotz Distanz und ihren Nachwehen. Nähe wieder lernen, schätzen, aushalten. Weiter, wieder oder überhaupt mit dem nächsten Umfeld zu interagieren.

Ich hatte das Glück während des Lockdowns in eine neue, tolle Wohnkonstellation zu kommen.  Meine Mitbewohnerin Katleen machte die Idee stark, mehr mit unserer Hausgemeinschaft zu interagieren. Gemeinsam haben wir zu Fasching an allen Türen des Vorder- und Hinterhauses geklingelt und unseren Nachbar*innen das Angebot gemacht mit uns im Flur, maskiert und verkleidet eine Runde Wahrheit, Pflicht oder Gedicht zu spielen. Und ein blauer Hausgeist beauftragte mich in unserem Neuköllner Hausflur eine Poesie-Pandemiebox zu platzieren. In diese konnten alle Hausbewohner*innen Wörter einwerfen. Während des Lockdowns leerte ich die Box täglich und brachte dem Geist sein Futter für neue Hausgedichte, die zunehmend unseren Hausflur schmückten.

Ich setze bewusst dieses Spotlight aufs Möglichmachen und eigene kreative Ressourcen, denen mich die letzten Monate näher gebracht haben. Ich wünsche mir mehr von diesem Machbarkeitsmodus in Bereichen mit Gestaltungsspielraum. Und wann immer es geht für die Eröffnung solcher Räume einzutreten.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Kontaktfläche sein. Sichtbarmachend sein. Unerhörtes artikulieren. Auf eine unerhörte Weise. Eine Sprache für diese neuen, digitalen, viralen Schmerzen finden. Sprachräume öffnen. Künstlerisch, perspektivisch. Für mich sind Kunst, Literatur, Kreativität und soziale Praxis verwoben. 

Was liest Du derzeit?

Mein Prinz, ich bin das Ghetto von Dinçer Güçyeter. Erinnerung eines Mädchens von Annie Ernaux. Immer wieder Lustdorf von Alicia Gamish. Und Texte meiner Schüler*innen.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ein Impuls aus der Fuck (ed) Up-Redaktion. Die Fortsetzung der ersten sechs Worte des Gedichts Cordoba von Fatima Naoot.

Wenn wir Gott die Erde übergeben und er stellt uns nur eine Frage:

Was habt ihr gemacht?

Tut uns leid, wir haben verkackt

Wir haben unsere Erde gefickt

Hunger, Gewalt, Krieg

Und wir lügen so viel

Mein Gott, tut uns leid.

(Mohamad Salman Dalfe)

Vielen Dank für das Interview liebe Sara, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an Künstler*innen:

Sara Hauser, Lyrikerin, Literaturvermittlerin

Foto_privat

18.6.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Weil die Kunst Brücken baut, wo keine sind“ Johanna Sophia Baader, Künstlerin _Wien 27.6.2021

Liebe Johanna Sophia, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Momentan schlafe ich lange, frühstücke in Ruhe und setze mich dann an die Leinwand und male bis in den Nachmittag hinein. Gegen 17.00 gönne ich mir ein Tässchen Tee oder Kaffee, lese ein bisschen, spiele Klavier und mache meine Gesangsübungen. Ich beschäftige mich gesanglich mit meinen Arien, an denen ich derzeit arbeite. Zwischendurch hatte ich das Glück eine Produktion proben zu dürfen und an diversen Projekten mitzuarbeiten und freue mich schon sehr darauf, diese Arbeit bald auf der Bühne zeigen zu können. Ansonsten unterrichte ich meine Schüler oder habe selbst Unterricht und Korrepetiton. Abends koche ich mir etwas Feines und male dann noch ein bisschen oder telefoniere mit Freunden.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Diese seltsame Zeit birgt, trotz ihrer Schwierigkeiten auch eine große Chance: Wir sind, mehr denn je, zurückgeworfen auf uns selbst und müssen uns zwangsläufig mit unseren inneren Dämonen und Schatten auseinandersetzen. Ohne die übliche Ablenkung und dank der Ruhe, die diese Zeit mit sich bringt, haben wir die Möglichkeit, uns noch einmal auf eine ganz neue und intensive Art und Weise mit uns selbst auseinanderzusetzen und uns die wichtigen Fragen zu stellen: Bin ich glücklich? Was bedeutet Glück? Wer möchte ich sein? Wer bin ich? So profan diese Fragen auch klingen mögen, so schwierig sind sie manchmal zu ergründen. Doch es lohnt sich: Wenn wir uns durch diese Konfrontation mit uns selbst mehr mit unserer Essenz zu verbinden wissen, wird sich das positiv auf unsere mitmenschliche Liebesfähigkeit, unsere Empathie, unser tiefes Verständnis füreinander
auswirken, davon bin ich überzeugt und das ist, was wir alle brauchen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an
sich zu?

In dieser Zeit ist es, denke ich, wichtig, sich des gesellschaftlichen Gefüges nochmal aus einer neuen Perspektive bewusst zu werden. Wir sind es gewohnt, als zielstrebige Individuen unsere Träume und unsere Freiheit leben zu wollen und doch wird man sich innerhalb dieser ungewohnten Situation noch einmal mehr darüber im Klaren, wie sehr
die eigene Freiheit in Abhängigkeit zu der der Anderen steht; dass wir ein Zusammenspiel aus Individuen sind, das in sich fragil ist und Achtsamkeit und Menschlichkeit bedarf. Sich auszudehnen, ohne den Raum des Gegenübers zu beschneiden ist eine Kunst, die Reflexion und Empathie voraussetzt und das zu üben, wird nun immer wichtiger werden, wenn wir in einem harmonischen Miteinander leben möchten. Hierbei empfinde ich die Kunst, das Theater, die Musik wie eine zarte Materie, die uns mal weich, mal spiegelnd, miteinander verbindet und uns umhüllt wie ein schöner, funkelnder Königsmantel. Wir brauchen die Kunst in all ihren Ausformungen, weil sie Brücken baut, wo keine sind, weil sie verbindet, was in Distanz zueinander stand, weil sie Alles zusammenzuhalten vermag.

Was liest Du derzeit?

Ich lese ein wunderbares Buch, das mir sehr beim Verständnis meiner Selbst und der Reflexion über unser Wesen hilft: „Eastern Body, Western Mind“ von Anodea Judith. Ein umfassendes Werk über den Zusammenhang des östlichen Prinzips des Chakren-Systems mit der westlichen Psychologie.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„The word ‚love‘ is most often defined as a noun, yet (…) we would all
love better if we used it as a verb“ (Bell Hooks)

Vielen Dank für das Interview liebe Johanna Sophia, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

Danke dir!!! 🙂

5 Fragen an Künstler*innen:

Johanna Sophia Baader, Opernsängerin, Schauspielerin, Malerin.

Foto_privat.

4.6.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com