Lieber Carl-Christian Elze, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Meistens zu früh geweckt werden von meinem 4-jährigen Sohn (das betrifft natürlich auch meine Frau), dann frühstücken (er: Müsli, ich: vorerst nur Kaffee), auch den größeren Sohn (11) wecken, entweder den Größeren oder den Kleineren in die Kita bzw. die Schule bringen, dann selbst zur Arbeit fahren oder nochmal nach Hause gehen.
Ich unterrichte zur Zeit Biologie an einer Berufsschule, als Brotjob gut geeignet, meistens macht es sogar Spaß. Dadurch aber auch oft ziemlich zerfranste Tage, meistens nur kleinere Schreibinseln täglich oder nicht täglich, für Gedichte meist ausreichend, für längere Prosa eher schwierig (sehr schwierig). Nicht selten der Wunsch, einfach am Schreibtisch sitzen zu bleiben, wenn gerade die Sätze gut fließen, aber dann heißt es: Aufstehen, Biologie, Zellenlehre, Genetik, Immunsystem, Hormonsystem, Nervensystem … Lauter interessante Dinge, aber gerade nicht romanrelevant:)
Ab 16 Uhr sind meistens ebenfalls alle Schreibinseln geschlossen, weil der Kleine (Mio) aus der Kita abgeholt und beschäftigt werden will (Eis essen, mit Duplo-Steinen bauen, auf den Spielplatz gehen, Unsinn machen, …), alles wunderbar im Grunde (solange die Kinder nur gesund sind!) und letztlich ist es auch das erzwungene richtige Leben fern des Schreibtisches, dass es unbedingt braucht, um später am Schreibtisch über genau dieses Leben schreiben zu können.
Abends nach den kleinen Raubtierfütterungen und weiteren Raubtierritualen ca. 21 Uhr endlich Ruhe im Karton. Jetzt kaum noch Energie für echte Schreibtischwunder, zumindest bei mir. Eher schauen, wie weit man noch kommt mit den schweren Augenlidern beim Lesen des neuen Romans von … oder beim Reden mit meiner Frau über … oder beim Bier mit dem alten Freund, den man, seit man Kinder hat, nur noch alle paar Monate sieht statt wie früher jede Woche, jeden Tag.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Etwas zu finden, was uns beruhigt, zumindest für einige Stunden, auch außerhalb des Schlafs.
Diese Welt und ihre tägliche verwirrende, angstgebärende Informationsfülle ist für jedes menschliche Gehirn eine große Herausforderung, ein molekularer Sturm.
Natürlich soll man nicht den Kopf in den Sand stecken und die Probleme dieser Welt ausblenden, im Gegenteil, aber trotzdem den Kopf wieder frei bekommen zwischendurch, zwischen den ganzen Problemen dieser Welt. Am besten hilft es, mit kleinen Kindern zu spielen und sich in ihrer Spielwelt und ihrem kleinen-riesigen Leben aufzuhalten.
Aber auch die Natur hilft, wenn man gerade keine kleinen Kinder zur Verfügung hat, immer der Gang durch die Natur, die bewusste Wahrnehmung einer nicht menschenzentrierten Welt, die ohne uns ihre größten Momente hat und scheinbar völlig losgelöst von uns phantastisch funktioniert.
Die Menschen nicht zu wichtig zu nehmen, das ist das Ziel beim Gang durch die Natur, die Menschen nicht zu wichtig zu nehmen und deshalb auch weniger an ihren Dummheiten zu leiden. Dabei neue Kraft schöpfen, um danach die eigenen und die fremden Dummheiten zu verkleinern, Solidarität zu leben.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich glaube immer noch daran, dass uns Kunst – oder weniger abstrakt gesagt: einfach Geschichten, Klänge, Farben und Tänze – wahrscheinlich zu anderen, besseren Menschen machen können.
Bestenfalls entstehen, wenn Menschen von und mit Kunst berührt werden, synaptische Verknüpfungen im Gehirn, die sie empfindlicher, empathischer, aufmerksamer, dankbarer, hilfsbereiter und hoffentlich auch ungefährlicher machen für den Rest ihres Lebens.
Schon immer gab es das Bedürfnis von Menschen, Kunst zu machen bzw. sich Geschichten auszudenken, zu musizieren, zu malen und zu tanzen, und es gab das Bedürfnis eben jene Geschichten, Klänge, Farben und Tänze von anderen zu erfahren. Das tägliche, hektische Leben bietet scheinbar so wenige Zeitinseln für das Erleben von Kunst, denken sich wahrscheinlich viele. Und dabei entsteht der Gedanke, dass auch Kunst eine Insel sei, was sie nicht ist. Sie ist das Gegenteil von einer Insel, sie ist im Grunde das Meer, das uns schon immer umgibt, die Flüssigkeit, in denen unsere Gehirne schwimmen wollen, um sich zu beruhigen und um zu begreifen, dass wir mit allem verbunden sind, dass niemand allein ist und niemand allein bleibt.
Was liest Du derzeit?
In den letzten Jahren habe ich immer gleich nach Erscheinen jeden neuen Houellebecq-Roman gelesen, diesmal alles mit ein wenig Verspätung. „Vernichten“. Ich bin erst am Anfang, aber denke schon jetzt: anders als sonst, weniger ironisch/zynisch, viel verletzlicher, dabei blitzgescheit und kühn wie immer, wahrscheinlich ein toller Roman.
Vorherige Lektüre: „Crossroads“ von Jonathan Franzen und der anschließende Katzenjammer, der sich bei großer Literatur immer einstellt: Warum muss ich diese Franzen-Welt jetzt schon wieder verlassen? Warum sind diese 825 Seiten so schnell zu Ende gegangen? Verdammt, jetzt muss ich womöglich Jahre warten, bis diese Familiengeschichte weitergeht.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Nur der Mensch kann über etwas sprechen, das gar nicht existiert, und noch vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge glauben.“ (von Yuval Noah Harari aus: Eine kurze Geschichte der Menschheit, Pantheon-Verlag, 2013).
Dieses Zitat scheint mir ein Problem oder womöglich das Problem des Menschseins ganz gut anzudeuten. Menschliche Sprache – das ist Panik und Paradies zugleich. Ich möchte allerdings das gesamte Buch von Harari empfehlen, für mich eine staunenswerte Reise auf fast jeder Seite.
Vielen Dank für das Interview lieber
Vielen Dank für das Interview lieber Carl-Christian Elze, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Carl-Christian Elze, Schriftsteller
Zur Person_Carl-Christian Elze wurde 1974 in Berlin geboren und wuchs in Leipzig auf. Sein Vater war Zootierarzt, sodass er einen großen Teil seiner Kindheit im Leipziger Zoo verbrachte. Später studierte er zwei Jahre Medizin, danach Biologie und Germanistik. Von 2004–2009 war er Student am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er schreibt Gedichte, Prosa und Drehbücher.
Seit 2006 erschienen mehrere Gedichtbände, u. a.: ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist (luxbooks 2013), diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde (Verlagshaus Berlin 2016), langsames ermatten im labyrinth (Venedig-Gedichte, Verlagshaus Berlin 2019) und panik/paradies (Verlagshaus Berlin 2023).
Letzte Prosapublikationen: Aufzeichnungen eines albernen Menschen (Erzählungen, Verlagshaus Berlin 2014), Oda und der ausgestopfte Vater (Zoogeschichten, kreuzerbooks 2018) und Freudenberg (Roman, Voland & Quist/Edition Azur 2022). Carl-Christian Elzes Debütroman Freudenberg stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Lyrikpreis München (2010), dem New-York-Stipendium der Max Kade-Foundation (2010), dem Joachim-Ringelnatz-Nachwuchspreis (2014), dem Rainer-Malkowski-Stipendium (2014) und einem Stipendium im Deutschen Studienzentrum Venedig (2016). 2023 ist er Stadtschreiber von Dresden.
Carl-Christian Elze ist Mitbegründer der Leipziger Lesereihe niemerlang, Monatsjuror bei lyrix, dem Bundeswettbewerb für junge Lyrik, und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Aktuelle Bucherscheinung_ „panik/paradies“ Carl-Christian Elze. Gedichte. Illustrationen Nele Brönner. Verlagshaus Berlin 2023

ISBN: 978-3-910320-01-7
Reihe edition Belletristik
PREIS 22,90 €
panik/paradies
Besprechung _ „panik/paradies“ Literatur outdoors
„panik/paradies“ Carl-Christian Elze. Gedichte. Illustrationen Nele Brönner. Verlagshaus Berlin 2023
Foto_Sascha Kokot
23.5.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.