Liebe Amrei, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Eine klare regelmäßige Routine hat über die ganzen letzten Wochen hinweg noch immer nicht wirklich Einzug gehalten in meinem Tagesablauf. Den Großteil des staatlich verordneten „Lockdowns“ habe ich in Graz verbracht, da wurde die Probenzeit Mitte März zwar abrupt unterbrochen, aber eine WG mit lieben Kollegen erschien mir verlockender, als zurück in (m)eine leere Wohnung nach Wien zu reisen. Drei Projekte sind aufgrund von Corona bei mir nun ausgefallen bzw auf unbestimmte Zeit verschoben, was mich derzeit bis in den Herbst hinein mit sehr viel frei verfügbarer Zeit und viel Ungewissheit zurücklässt.
Hier in Graz genieße ich vor allem den Luxus der Natur, gehe an der Mur spazieren, sitze am Schlossberg in der Sonne, meditiere und suche vor allem in einer Zeit, wo sich Regeln, Anordnungen und Angaben im Außen manchmal fast täglich ändern, Ruhe und Stabilität im Innen – und bin dabei so sehr dankbar, dass all diese Ungewissheit in eine Jahreszeit fällt, die uns Fülle, Leben und Neubeginn zeigt und spüren lässt.
Schon beinahe unbewusst passiert auch eine Reflexion in mir, denn dafür ist nun wirklich einmal Zeit. Den eigenen Weg zu betrachten, zu sehen wieviel davon einem vielleicht einfach „passiert“ ist, was man wirklich forciert und fokussiert erreicht hat und wie man die Weichen für die Zukunft stellen will.
Natürlich fehlt mir das Spielen, das Rollenvorbereiten und -erforschen und all diese stark pulsierende Lebendigkeit, die für mich mit dem darstellerischen Prozess einhergeht und mich ausfüllt, sehr – grundsätzlich fühle ich mich lebendiger, wenn ich spiele/spielen darf.
Neben all diesem „inneren Aufräumen“ kommt auch der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen nicht zu kurz – und sei es manchmal auch nur, um sich gegenseitig aufzubauen und zu versichern, dass man füreinander da ist, dass jede und jeder einzelne von uns relevant ist. Wir sind nämlich systemrelevant – alle in Österreich lebende Menschen. Die Krisenbewältigung und die Maßnahmen rund um das Coronavirus verdeutlichen stark, in welchem Wertesystem unser Staat/unsere Regierung denkt und agiert – und da sind wir von Gleichberechtigung weit entfernt. Niemand ist irrelevant oder weniger wert von einem sozialen und/oder wirtschaftlichen Netz aufgefangen zu werden – nur leider wird von öffentlicher Seite genau das Gegenteil kommuniziert und auch ausgeübt.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich finde es daher gerade jetzt besonders wichtig, dass jede/r einzelne von uns diese Gleichwertigkeit und den mitmenschlichen Respekt propagiert und lebt. Das fängt bei vermeintlichen Kleinigkeiten im Alltag an, wie zum Beispiel aus Respekt zu den Mitmenschen einen Mindestabstand einzuhalten (sei es auch nur aufgrund von potentieller Sinnhaftigkeit – schaden tut es niemanden) und geht hin bis zu Hilfestellungen für Menschen in Not (ältere/kranke Nachbarn, Bekannte, die unter Depressionen leiden, Unterstützung von karitativen Einrichtungen etc.)
Unterm Strich, sitzen wir was diese Pandemie anbelangt, „endlich“ einmal ausnahmslos alle im gleichen Boot – wäre doch toll, wenn uns diese Tatsache wohlwollender und freundlicher miteinander werden lässt und nicht (noch) verschlossener und verbitterter.
Was für uns alle jetzt also besonders wichtig ist? Freundlich zueinander sein, uns herzlich begegnen, anlächeln – geht auch unter der Maske – aufeinander schauen, menschlich sein.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater, der Kunst an sich zu?
Sowohl gesellschaftlich, als auch persönlich fände ich es großartig, wenn wir uns darauf besinnen wieder stärker von innen nach außen zu leben – derzeit kommt es mir so vor, als geschähe oft genau das Gegenteil.
Was einen individuellen Aufbruch und Neubeginn betrifft, so hoffe und wünsche ich mir für uns alle, dass ein Umdenken stattfindet, ein Besinnen auf „was ist mir persönlich wirklich wichtig?“ und ein – wenn auch anfänglich vielleicht nur schrittweises oder zaghaftes – dementsprechendes Handeln. Wesentlich dabei, denke ich, wird vor allem viel Mut und eine große Portion Ehrlichkeit mit sich selbst sein, um all die fremden Muster, Glaubenssätze und eingefahrenen Strukturen zu durchbrechen. Wenn all das weg fällt, bleibt mehr – dann bleibt nämlich alles, was wesentlich ist.
„(…) ein Vergnügen ohne Verlangen, eine Existenz ohne Dauer, eine Schönheit ohne Willen. Denn die Kunst ist die Emotion ohne das Verlangen.“ ( Muriel Barbery, „Die Eleganz des Igels“)
Ich glaube immer mehr, dass Kunst und Kultur uns leben lassen – weg vom nackten Existieren und Funktionieren hin zum Leben. Wohin retten wir uns, wenn wir uns verloren und verzweifelt fühlen, wonach suchen wir, wenn wir endlich mal wieder genießen und feiern oder uns einfach ablenken wollen? Musik, Bilder, Menschen, die uns in andere Welten (ent-)führen und all das in einem „geschützten“ Rahmen, denn ich als RezipientIn bin jederzeit frei zu wählen, wie sehr ich mich auf Kunst einlasse und wann ich lieber distanziert daran teilnehme.
Ich glaube, dass Theater immer mehr und nun auch wieder stärker ein selbstgewählter willkommener Ort der Begegnung sein wird, ein Ort des miteinander Erlebens und des Austauschs. Wir Menschen sind „Herdentiere“ und auf kurz oder lang sehnen wir uns nach Gemeinschaft und Momenten, die wir miteinander teilen können.
Was liest Du derzeit?
Gerade habe ich (endlich einmal) „Sommergäste“ von Maxim Gorki zu Ende gelesen – das hab ich bis jetzt nur auszugsweise gekannt. Als Kopfkino und zum „Abtauchen“ lese ich jetzt (wieder einmal) „Kunststücke“ von Rolando Villazón, eines meiner Lieblingsbücher, das ganz behutsam, mit viel Humor und leiser Melancholie vom Alltag eines Clowns erzählt und dabei Fantasie – und Wachwelt fast unbemerkt zu einem Leben verschmelzen lässt. Große Empfehlung!
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Da gäbe es viele, aber spontan, weil eben gerade erst gelesen, aus Maxim Gorkis „Sommergäste“:
„Im Herzen Herrschaften fühle ich: es ist notwendig, es ist unerlässlich in den Menschen das Bewusstsein ihrer Würde zu wecken. In allen Menschen…in allen. Dann wird keiner von uns den anderen beleidigen. (…) lebt es sich leichter, fröhlicher unter Menschen, die sich ständig über das Leben beklagen? Seien wir doch gerecht (…) Was tragen wir alle zum Leben bei? Sie, ich, du?“
Sollte das als abschließendes Zitat zu trist sein, führe ich gerne noch ein schönes Lebensmotto von Pema Chödrön an:
„You are the sky, everything else is just the weather.“
Vielen Dank für das Interview liebe Amrei, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Theater-, Film- und weiteren Schauspielprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Amrei Baumgartl, Schauspielerin
https://www.amrei-baumgartl.net/
Foto: Nicolas Galani
3.6.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
https://literaturoutdoors.com