Lieber Michael, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
An 5-6 Tagen die Woche gebe ich Online-Kurse am Nachmittag und an 6-7 Tagen übersetze ich vormittags. Manchmal mehr oder weniger. Ich bin Freelancer, kann mir Pausen erlauben, aber seit einem Jahr ist mein Arbeitspensum in die Höhe geschossen. Ich genieße es, bis zu einem gewissen Grad. Mein Job ist ein sehr einsamer, aber die Isolationen in den Lockdowns fordern auch mich sehr. Vorher schon existente Schlafstörungen sind noch strapazierender geworden. Mein lyrisches Schaffen leidet ein wenig unter diesem Zusammenspiel aus unterschiedlichen Faktoren. Ich gehe mit einer Idee normalerweise meist Tage lang kopfschwanger, bevor ich den ersten Entwurf in einer frühen Morgenstille aufschreibe. Danach wird er meist ein halbes Dutzend Mal überarbeitet. In diesem Jahr habe ich erst ein Gedicht geschrieben. Im letzten Jahr, nicht zuletzt aufgrund der neuartigen Herausforderungen, und meinem Versuch sie zu verarbeiten, meiner noch stärkeren Reflexion der eigenen Entwicklung, schaffte ich etwa 1 Gedicht pro Monat. Lebensqualität geht verloren, wenn ich nicht ein paar schöne Zeilen zu Papier bringe.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Lieb zueinander sein und die Ruhe bewahren. Freundliche Floskeln wechseln in jeder Alltagsbegegnung. Selbst die erste beste Albernheit ist ein Eisbrecher und macht, dass sich das Gegenüber in meiner Gegenwart wohl fühlt. Die kleinen Dinge bewusster genießen, wie ein Lächeln, das liebevoll gebrühte Heißgetränk To Go wertschätzen, einen Flirt, ein Kompliment. Wer beim Spaziergang anhält, merkt beispielsweise, dass Stieglitze immer im Paar unterwegs sind. Solche Dinge wünsche ich mir für uns, neben verantwortungsbewusstem Tun unserer aller Gesundheit gegenüber, versteht sich.
Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Kunst fehlt generell immer. Derzeit mehr denn je. Ich vermisse es, mit Menschen über Kunstwerke zu sprechen. Das betrifft weniger die Literatur. Ich weiß nicht, maße es mir nicht an zu urteilen, ob Lyrik die gleiche zusammenführende Kraft hat wie die bildenden Künste oder wie die großen Mythen, die sich über teils Jahrtausende überliefert und neue Geschichten und uns alle geprägt haben. Ich bezweifle, dass Lyrik das heutzutage kann; außer bei Lyriker:innen selbst und ihren Leser:innen. Sie wird zur Kenntnis genommen, das ist schon was. Dichterworte wirken über Zoom nicht so nachhallend bei der Zuhörerschaft wie bei einer Live-Lesung. Darüber hinaus bin ich gespannt, wie sich die Gesellschaften und Staatssysteme verändern werden. Vieles ist auf der Welt losgetreten worden. Auch bei uns stellt man fest, dass ein Weiterso, weil es irgendwie funktioniert hat, nicht mehr möglich ist.
Was liest Du derzeit?
Ich war schon immer ein ungeduldiger Leser, der völlig verschiedene Bücher gleichzeitig las. Insgesamt lese ich weniger als je zuvor. Paradox, nicht wahr? Es sind zurzeit sehr viele Verseschmiede aus aller Herren Länder, wie „Barfuß“ von Bela Chekurishvili, „Wildniß“ von Daniela Danz, „weil es keinen grund gibt für grund“ von Axel Görlach, „In Begleitung des Windes“ von Abbas Kiarostami, immer wieder Miłosz und Zagajewski, aber auch der epische Roman „Horcynus Orca“ von Stefano d’Arrigo.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ehrlich gesagt bin ich kein Freund von Zitaten. Und dass nicht nur, weil ich schrecklich darin bin, Text zu memorieren. Aber das von Dürrenmatt stammende „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden“ lässt sich auf die jetzigen Verhältnisse gut anwenden.
Vielen Dank für das Interview lieber Michael, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Michael Pietrucha, Schriftsteller
Foto_privat.
30.3.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.