Lieber Eckhart, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Eigentlich wie immer. Nur, dass jetzt genug Zeit vor dem Frühstück bleibt, gemeinsam mit Sohn James (12) laufen zu gehen: einmal über die Felder zum Lohrberg und zurück. Ein schönes Ritual, das auch durch das anhaltend gute Wetter seit dem Lockdown einfacher zu realisieren ist als sonst. Überhaupt ist das unvorstellbar geworden, schlechtes Wetter. Wie in der Schönen Neuen Welt fühlt man sich auf einmal, in der immer die Sonne scheint. Schon ein paar Wolken an dem nahezu kondensstreifenfreien blauen Himmel sind nach den letzten drei Wochen fast schon ein Schock. Dabei ist das auch nur der nächste Schritt im Klimawandel. Der abflauende Jetstream über dem Atlantik. Gespiegelter Lockdown 34.000 Fuss über dem Meeresspiegel, der das Wetter extremer macht. Das gute Wetter wird immer besser und die Hochdruckgebiete reichen sich die Hand. Oder der Kerndruck der Tiefs wird immer geringer und sie wachsen sich zu katastrophalen Stürmen aus. Wahrscheinlich wird Mitteleuropa wie Kalifornien: vertrocknete Sommer mit Hitzerekorden und eine zu milde Regenzeit mit Flut und Verwüstung im Winter. Aber wie schnell man sich gewöhnt. Vor allem an das Positive. Die Ruhe, schon fast wie damals an den autofreien Sonntagen meiner Kindheit gegen den Smog der Siebziger Jahre, als wir uns wie Rebellen fühlten, einfach über die Autobahn spazieren zu gehen, ein Triumph über den rasenden Alltag. Fast kommt es einem vor, als werde das alles tatsächlich jetzt passieren. Dass nichts mehr so sein wird wie es war, und dass wir schon bald Flughäfen besichtigen werden wie Industriemonumente aus einer anderen Zeit, in der das Unterwegs-Sein nahezu eine Tätigkeit geworden war, die man ausübte wie einen Beruf. Aber zurück zum Tagesablauf. Erst das Frühstück (Espresso, Orangensaft, frisch zubereitetes Müsli mit Beeren und Äpfeln, eine Art Bircher Variante), währenddessen ich das Morning Briefing der New York Times auf dem iPhone SE abrollen lasse, um mich über die neusten Entwicklungen in Amerika und dem Rest der Welt zu informieren. Dann setze ich mich gleich wie gewohnt an den Schreibtisch. Vor Osterferienbeginn war das nur möglich, wenn ich vorher meine Pflichten als Hauslehrer des neuen digitalen Schullebens erfüllt und meinen Sohn mit den Aufgaben des Tages vertraut gemacht habe. Mein Schreibtisch blickt auf einen wunderbar grau verwitterten Jägerzaun, dahinter die skandinavischen Nadelbäume unserer direkten Nachbarn, die alle, wie wir gerade erfahren haben, schon an Covid19 erkrankten, die Kinder leichter, der Familienvater am heftigsten. Vorher wussten wir nur, dass sie nach einem Skiurlaub in der Gegend von Ischgl alle in Quarantäne waren, und es kam uns seltsam vor, wie wenig sie bei dem guten Wetter im Garten waren und wenn, dann nur dick eingemummt. Die Nachricht war tatsächlich wie ein Schock. Bis dahin waren Fallzahlen nur ansteigende Ziffern auf der interaktiven Johns Hopkins Karte des Hamburger Abendblatts und mit keinem bekannten Gesicht hinterlegt. Die erschreckend rot unterlaufenen Augen der Corona-Kreise, deren Pupillen sich mit dem Ansteigen der Todesfälle wie in Italien und Spanien immer mehr teuflisch schwarz erweiterten. Aber vor allem in Deutschland sah es verhältnismäßig normal aus, die grüne Iris des Auges wurde dank der wieder geheilten Patienten immer größer, selbst wenn die Todeszahlen natürlich wie überall sonst auch stiegen. Plötzlich aber hatten wir einen Fall vor Augen, und das sogar noch, ohne es zu wissen, obwohl wir es irgendwie schon geahnt hatten. Das war eine Zäsur, die noch einmal den Trott, der sich inzwischen schon eingestellt hatte mit dem Händewaschen und Desinfizieren der von draußen in den sicheren Hafen des Hauses hereindrängenden verseuchten Dingwelt, ordentlich durcheinander gebracht hat. Also am Schreibtisch und die Forderungen des Tages, wie Max Frisch gesagt hat. Korrespondenz per Email und danach die Betrachtung der aktuellen Lage im Land mit dem Neuladen des Live-Blogs der FAZ zum Corona-Virus. Der überzeugt, weil er abwechselnd von ganz verschiedenen Redakteuren eingepflegt und getextet wird, die mit ihren Vorlieben und ganz eigenem Stil eine sehr persönliche Handschrift in den mal kurzen, mal längeren Nachrichten hinterlassen und so eine interessante Vielfalt in der Auswahl garantieren. Obwohl ich schon seit Wochen an meinem neuen Roman schreiben sollte, habe ich keine wesentlichen Fortschritte gemacht. Das mag daran liegen, dass es meiner Vorstellung nach im Leben des Schriftsteller vor allem zwei Zustände gibt: den Müssiggang und die Überwältigung durch den Lauf der Welt. Schreiben gelingt während Letzterem eher selten. Ich versuche es trotzdem weiter. Ich habe, um nicht wie zu Beginn der Krise ständig im Internet wie gebannt auf sich verändernde Zahlen zu starren, um ihren Algorithmus zu analysieren, das Heute-Journal im ZDF wieder entdeckt, mit einem Nachrichtenhelden, über den ich vor Jahren schon mal einen Artikel geschrieben habe: Claus Kleber. Im Wechsel mit der spitzzüngigen Marietta Slomka, das reicht wirklich völlig aus, um sich nach getanem Tag auf dem Laufenden zu halten. Es gab nur eine Situation in meinem Leben, mit der sich der aktuelle Zustand vergleichen liesse. Als ich in Kathmandu lebte, um an dem mit Christian Kracht herausgegebenem Kulturmagazin DER FREUND zu arbeiten, entließ König Gyanendra am 1. Februar 2005 die Regierung Nepals und bildete ein Notstandskabinett, um die Krise des zwischen Maoisten, Armee, Parlament und Royalisten zerriebenen Himalaya-Staats zu bewältigen. Direkt nach der Fernsehansprache des Königs erlosch das Programm, internationale Flugzeuge wurden umgeleitet, das Telefonnetz war tot, auch das Internet wurde abgeschaltet und Militärs patrouillierten die Strassen, um die nächtliche Ausgangssperre zu überwachen. Auch damals war das Wetter wunderbar, der Winter war früh vorbei gewesen, die Sonne strahlte über die bald autoarmen staubigen Strassen der Hauptstadt auf der Hochebene, man trank Tee in Gartenrestaurants und debattierte die widersprüchlichen Meldungen in den wenigen noch erscheinenden Tageszeitungen. Bei Kerzenlicht im abendlichen Hotel tauschte man Informationen mit handgeschriebenen Depeschen über Rikscha-Kuriere aus, die zudem auch Lebensmittel und Generatoren für die allabendlichen Stromausfälle transportierten. Das bewirkte eine viel radikalere Unsicherheit als in der Gegenwart, da alle Welt zwar kontaktbeschränkt zuhause sitzt, aber in den Sozialen Medien abhängen kann, um sich über die Pandemie zu verständigen. Viel wichtiger sind jetzt Freunde. Wie Detlev, mit dem ich Fernschach spiele. Dazu: mit jedem Zug der Austausch eines Artikels/Lieds/Films/Radiobeitrags, der einen beschäftigt oder beeindruckt hat, eher nicht zwingend zur Pandemie. Oder ein österlicher Wortscherzwechsel zum Hallraum des Wortstamms „leer“ mit Patentochter Lola am Elbstrand in Hamburg, inklusive Foto-Mimikry als Illustration der Spassbegriffe. Nächtliches Musikpingpong via Messenger mit einer Seelenverwandten in Berlin. Ein Anruf zum Buchprojekt „Neue Deutsche Welle lesen“ bei Philipp Theisohn, Zürich. Die schönste Geste seit Beginn der Krise sind die ästhetischen Fingerübungen, mit denen Freund Holger Liebs seine Instagram-Follower jeden Tag einfach so versorgt. Sein Sammelsurium an „Sonderlingen, Einsiedlern und Freaks“ aus der Kulturgeschichte, die er „zur Ermutigung“ jeweils mit kleinen profunden Texten darbietet, reicht vom Heiligen Hieronymus über Rübezahl und Rip van Winkle bis zum Mönch am Meer, Superman und Harry Dean Stanton in Paris, Texas. Ein Kleinod! Was aber den Alltag, abgesehen von den Schlangen beim Anstehen zum Eintritt in den Supermarkt oder die wie Tatorte eines schlimmen Verbrechens mit Klebeband abgeriegelten Spielplätze und Erholungsparks viel fundamentaler verschiebt, ist die Vorahnung davon, dass das alles vielleicht nicht so vorübergehend ist, wie fast alle hoffen und viele prognostizieren. Sondern dass wir es mit einer monumentalen Kontaminierung nicht nur der Oberflächen und Organe zu tun haben, sondern auch einer viralen Veränderung unseres Bewusstseins, die idealiter zu einem weiseren Verhältnis zur Umwelt unseres verletzlichen Planeten führen wird. Aber zwangsläufig auch zu einem hysterisierten Umgang mit einer unsichtbar verseuchten Welt, die wir nie wieder mit der enthusiasmierten Unschuldsmiene und einer gesunden Sorglosigkeit und unbegrenztem Freiheitsgefühl wie in der Vergangenheit bereisen und entdecken werden können. Es bricht mir das Herz, wenn ich mir versuche, vorzustellen, wie ich meinem Sohn dereinst die Welt reisend erschließen wollte und wie wenig davon im schlimmsten Fall übrig geblieben sein könnte. Auch dafür werden wir uns dereinst zu verantworten haben, nicht nur gegenüber Greta Thunbergs Schulstreiks für ein besseres Klima an jedem Freitag. Das kommt vielleicht nun nahezu ganz von selbst, schneller als wir denken.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die Ruhe und kühlen Kopf bewahren, auch wenn die Emotionen durch das Zurückgeworfen-Sein auf uns selbst noch mehr hochzukochen scheinen als sonst. Klarheit zu erlangen im Denken. Nicht zu viele Nachrichtensendungen verfolgen. Schon zu Beginn versucht, nicht durchgehalten: Social Media Distancing als Therapie gegen Paranoia. Den Körper nicht vernachlässigen und Bewegung in den Tag einbauen, wo es geht. Denken heißt gehen und hilft, nicht erst seit Thomas Bernhard. Das Meditieren üben. Generell: Bedachtes Vorgehen bei allem. Vorsicht walten lassen, sich nicht durch Leichtsinn anstecken. Wir wissen nichts über die möglichen Spätfolgen von Covid 19. Vielleicht gibt es keine Immunisierung, vielleicht wird kein Impfstoff wirken. Auch wenn alles hier in Deutschland wirklich weitestgehend in beispielhafter und hochzivilisierter Weise verläuft, wofür man einer besonnenen und hochengagierten Regierung dankbar sein kann (auch für die Rückholaktion des Auswärtigen Amtes von über 250 000 Deutschen und gestrandeten aus anderen Nationen, die auch an Bord der Flugzeuge noch Aufnahme fanden) sollte man die Politik aufmerksam verfolgen und seiner Stimme Gehör verschaffen. Erste Bürgerpflicht: sich informieren. Gerade die Einschränkungen machen die Öffentlichkeit, die res publica, zur Sache eines jeden einzelnen. Jetzt kann jeder einmal Verantwortung zeigen und Verbindlichkeit im Sinne einer neuen Moral, die zunächst nur ein vorrangiges Ziel hat: alles Menschen mögliche zu tun, um der Pandemie ein Ende zu setzen.
Jetzt wird es ein Neubeginn sein, von dem wir gesellschaftlich wie persönlich stehen werden. Was ist dabei wesentlich und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?
Die gleiche Rolle wie immer: die Axt zu sein für das gefrorene Meer in uns (Kafka). Aber der Schriftsteller ist auch Zeitzeuge und Teilnehmer der Gegenwart, und vielleicht erwächst aus dieser ungewissen Zeit ein neues Engagement. Gerhard Richter sagte, Kunst sei die höchste Form der Hoffnung. Das gilt auch für die Fiktion. Möglicherweise ermüden uns Geschichten nun schneller, die von nichts Wesentlichem erzählen, lediglich schockieren wollen oder nur darstellerischem Selbstzweck dienen. Wie schreibt es Handke in „Über die Dörfer“ so schön: „Erzählt den Horizont.“ Das sollte man auch streng metaphysisch verstehen.

Was liest Du derzeit?
Aus aktuellem Anlass: Dr. Fischer of Geneva or The Bomb Party von Graham Greene. Aber auch, weil ich es 1992 in Neu Delhi gekauft habe und im United Coffeehouse zum ersten Mal gelesen. Eine wunderbare Reiseerinnerung, kostbarer als je zuvor.
Welchen Textimpuls aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?
„Überall standen Wanderprediger an den Straßenecken und schrien die Angst heraus, während sie die Plakate hochhielten vom Ende der Welt, das unmittelbar bevorstehe. Und, ganz ehrlich: Zum ersten Mal sah ich sie nicht mehr als kranke Spinner, sondern konnte tatsächlich verstehen, was sie meinten, weil ich wusste, dass sie diesmal wirklich Recht hatten.“ Hysteria, S. 213.
Vielen Dank für das Interview lieber Eckhart und weiterhin viel Erfolg für Deinen großartigen aktuellen Roman „Hysteria“ , Piper Verlag 2018, und persönlich alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Eckhart Nickel, Schriftsteller, Kelag Preisträger 2017, Klagenfurt
Weitere Informationen:
https://www.piper.de/autoren/eckhart-nickel-136
14.4..2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
Foto_Walter Pobaschnig_Lesung 2017_Klagenfurt