Lieber Simon, wie sieht jetzt dein Tagesablauf aus?
Mein Tagesablauf schaut meistens ziemlich gleich aus; ich bin ein (vielleicht zu?) regelmäßig lebender Mensch. Was schon so Vorteile hat; was mich aber auch manchmal stört, weil ich mir dann recht neurotisch vorkomme ….
Na ja! Ich stehe meist so gegen 6.30 auf. Schlafen gehe ich meist so gegen 23.15. In der Früh trinke ich dann Kaffee, esse ein bisschen was; nach den üblichen Morgenverrichtungen, auch am stillen Örtchen, beginne ich zu schreiben, wenn ich gerade etwas in Arbeit habe; wirklich geistig tätig sein kann ich nur am Vormittag. Ich esse regelmäßig zu Mittag (wenn es sich nur ausgeht!). Am Nachmittag erledige ich Papierkram, bereite meine Texte vor, telefoniere, schreibe Mails usw.; am späteren Nachmittag bin ich geistig wieder ansprechbarer …. Dann geht’s meistens weiter mit der literarischen Arbeit. Ich fahre – so oft es sich ausgeht – auch nach Baden, wo meine Eltern wohnen; weil’s auch dort immer einiges zu tun und zu erledigen gibt; und weil die Eltern auch nicht mehr die allerjüngsten sind … Man weiß, je älter man wird, die Tatsache zu schätzen, dass man sich um diese, sagen wir’s mal so, familiären Dinge kümmern kann und muss. Am Abend, falls ich nicht irgendwo unterwegs bin, lese ich. Ich bin ein ziemlich sozialer Mensch –: treffe also auch gern und recht oft Freunde, gehe aus mit ihnen, ins Theater, ins Kino, in Lokale, lade sie zu mir ein; oder telefoniere mit ihnen; u.a. habe ich einen lieben Freund in Kanada, mit dem ich wöchentlich einmal über Skype spreche.
Da ich ja einer Brottätigkeit nachgehe, schaut mein Tag dann natürlich etwas anders aus. Im Großen und Ganzen lebe ich aber ziemlich regelmäßig. Vielleicht bin ich sogar, wie erwähnt, zu sehr bestrebt, jede Minute des Tages auszunutzen. Das liegt vielleicht eben an diesem schöpferischen Drang. An diesem: ‚Wenn ich das nicht heute mache, dann geht sich das morgen nimmer aus!‘ Ich habe keinen Fernseher zuhause und bin auch nur wenig im Internet …. Insofern habe ich da leider nichts Spannendes zu berichten. Ich lebe also zwar nicht ganz so regelmäßig wie Immanuel Kant, d.h. die Uhr kann man nach meinen Spaziergängen (die ich übrigens auch regelmäßig mache), zwar nicht stellen. Aber fast.
Simon Konttas, Schriftsteller
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Wenn ich das wüsste! Vielleicht – wenn man sich so umschaut in den öffentlichen Verkehrsmitteln – wäre es wichtig, die Menschen dazu anzuhalten, sich weniger mit ihren Maschinen, sondern mehr mit sich selbst zu befassen. Es ist traurig zu sehen: Da sitzen zwei zehnjährige Volksschüler in der Straßenbahn, beide in der selben Haltestelle eingestiegen; und anstatt sich miteinander zu unterhalten, starrt jeder für sich in sein Smartphone. Wenn ich dran denke, was wir damals aufgeführt und miteinander gequatscht haben während solcher Fahrten! …. Diese Isolation, diese fast schon narzisstische Vereinzelung schon der Kleinsten unter uns finde ich sehr bedenklich. Vor allem der Kleinsten. Es wäre also wohl besonders wichtig, dass der Mensch sich darauf besinnt, dass er seelisch verkümmert, wenn er sich nicht öffnet …. Aber wie soll man sich darauf besinnen? Lernen die Kinder das in der Schule? Wäre mir nicht aufgefallen ….
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur und der Kunst an sich zu?
Ich bin mir, ehrlich gesagt, gar nicht so sicher, ob ein Neubeginn bevorsteht; mir scheint viel eher, dass die neoliberalen Strukturen sich im Zuge der Pandemie noch mehr verhärtet und stabilisiert haben. Umso mehr aber müsste die Kunst mit größerem Selbstbewusstsein und größerem – ich möchte das jetzt fast biblisch ausdrücken – „Sendungsbewusstsein“ auftreten. Es geht im Leben eben nicht nur ums Brot allein, um Geld, Wachstum, irgendwelche ominösen Kompetenzen und ökonomistisch aufgeblasenen Phrasen und dem Menschen von undurchsichtigen Stellen auferlegten Pflichten, sondern es geht um was anderes …. Wessen man sich erst dann bewusst wird, wenn man merkt, dass das Leben nicht ewig dauert: In Momenten der Krankheit, der Krise, der Depression usw. Die Rolle der Kunst war aber – außer in Zeiten des europäischen Feudalismus – immer schon marginal. Vor allem die der Literatur. Ich mache mir also keine Illusionen. Ich persönlich würde mir von den Künstlern manchmal ein, sagen wir’s so, „präpotenteres“ Auftreten wünschen, ein „Hier stehe ich, ich kann nichts anders. Gib mir Geld und zwar sofort!“. Ohne Kunst nämlich kann der Mensch nicht leben. Denn Kunst ist Ausdruck der Seele. Und wo die Seele aufhört sich auszudrücken, da stirbt sie ab. Auf die Frage, ob man das wollen kann, gibt es nur zwei Antworten: Ja. Nein. Möge jeder selber entscheiden, wie er antwortet.
Was liest du zurzeit?
Ich hatte eine Phase, da habe ich mehrere Bücher zugleich gelesen; aber irgendwie kann ich das nicht mehr. Ich lese meist Werke, die zu dem passen, was ich gerade schreibe oder worüber ich gerade selber nachdenke. Vorgestern erst hab ich ein Buch zu Ende gelesen über Neurosen und Zwangsstörungen; davor eine Vortragssammlung von Erich Fromm über die „Pathologie der Normalität“. Und davor zwei Romane von Richard Yates, einem der besten Prosaisten der USA. Ich bin – politisch – kein besonderer Freund der USA; aber das Land hat, das muss man schon sagen, literarisch einige wirklich große Geister hervorgebracht. Als nächstes lese ich vielleicht eine Erzählsammlung von Salinger; oder eine kleine Rowohlts-Monographie über Johann Sebastian Bach …. Mal sehen. Ich brauche immer ein, zwei Tage, bis ich mich entscheide. Ich bin da ein bisschen zimperlich. Weil ich eben nicht mehr so wahllos viel lese wie noch vor einigen Jahren.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest du uns mitgeben?
Es gäbe so viele gute Gedanken! …. Ich nehme einen Gedanken von Erich Fromm, der mich neulich sehr angesprochen hat; er sagt sinngemäß: Das eigentliche Elend der modernen Menschen besteht nicht darin, dass sie so überlastet oder sonstwas seien, sondern dass sie „von dem getrennt leben, was das Leben lebenswert“ macht.
Erich Fromm bezieht das auf all die lebendigen Dinge, deren Mangel und deren Ausbleiben erst dazu führen, dass man sich einsam fühlt, wertlos und sinnentleert, was wiederum letztlich dazu führt, dass der Mensch seine Kraft, seine Motivation und jenen inneren Antrieb verliert, der ihn dazu befähigt, nicht nur bloß ein gutes „Zahnrädchen“ im Getriebe der Gesellschaft zu sein; sondern ihn dazu befähigt, jenes Behagen und Wohlbefinden zu verspüren, das ausstrahlt in Freundlichkeit, Mitgefühl und Sympathie für die Schöpfung. – Mir scheint, gerade in diesen Pandemiezeiten ist Fromms Gedanke leider allzu aktuell: Wir alle sollten wieder mehr verbunden werden mit dem, worum es wirklich geht und was das Leben lebenswert macht …
Vielen Dank für das Interview lieber Simon, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Liebe Julia, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Einen klassischen Tageslauf in dem Sinn habe ich nicht. In letzter Zeit war ich sehr viel unterwegs: einige Konzerte, Bandproben, Videodreh, manchmal Bürokram – da ist jeder Tag anders. Die einzige wirkliche Konstante ist wohl mein Morgenritual. Seit einigen Wochen habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht jeden Tag Morgen 10 Minuten lang zu meditieren, gefolgt von einem kurzen Gebet, einem Dankbarkeitsritual und 3 Sonnengrüßen. Seitdem ich das mache, habe ich das Gefühl, dass ich ausgeglichener bin. Meistens spreche ich am Abend dann auch noch ein kurzes Gute-Nacht-Gebet.
Julia Franye, Singer/Songwriter/Schauspielerin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Dankbarkeit, in seiner Mitte zu bleiben und den Fokus auf das Positive zu lenken. Das finde ich generell sehr wichtig, aber ich glaube, dass es gerade in dieser hektischen Zeit, die von so vielen Negativ-Schlagzeilen und Angst geprägt ist, nochmal mehr wichtiger ist gut auf sich selbst zu achten und auch die guten Seiten des Lebens zu sehen. Wir alle haben so vieles für das wir dankbar sein können, oft können wir das aber nicht sehen… Deswegen ist es glaube ich umso wichtiger genau hinzuschauen und sich diese Dinge bewusst zu machen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, dem Theater, der Kunst an sich zu?
Gegenseitiges Verständnis und ein Ende dieser Spaltung der Gesellschaft. Die Pandemie ist in meinen Augen schon lange keine Gesundheitsfrage mehr, sondern ist zu einem richtigen Politikum geworden. Ich finde es wirklich erschreckend zu sehen, wie die Politik absichtlich Hass schürt und Menschen in zwei Gruppen teilt: die Impfgegner und jene die die Impfung befürworten: Freunde reden nicht mehr, Familien werden auseinandergerissen – nur weil man unterschiedlicher Meinung ist!? Das finde ich schrecklich & erschreckend. Die Impfung ist zu unserer neuen Religion geworden. Ich denke wir sollten lernen zu akzeptieren, dass es viele Sichtweisen gibt, viele Gründe sich impfen zu lassen und viele, die dagegensprechen. Das kann nur jeder für sich selbst und seinen Körper entscheiden und das sollten wir akzeptieren. Außerdem denke ich, dass es ganz klare Regeln braucht! Veranstalter sind stark verunsichert und trauen sich nichts mehr zu planen, weil sie nicht wissen wie die Lage in einem Monat, in einer Woche oder in einem Tag aussehen wird. Das ist ein großes Problem, da das für uns KünstlerInnen auch bedeutet, dass wir nicht planen können und nicht wissen, was in einem Monat, einer Woche oder einem Tag sein wird. Aber: Wir brauchen die Kunst, wir alle! Wir brauchen die Musik, das Theater, den Tanz, wir brauchen die Kunst in all ihren Ausdrucksformen, weil sie unsere Seele heilt und stärkt. Kunst macht uns glücklich und ganz und Kunst ist systemrelevant!
Was liest Du derzeit?
Momentan lese ich das Buch „Good night stories for rebel girls – 100 außergewöhnliche Frauen“. Meistens jeden Tag eine Geschichte. Darin sind 100 Frauen beschrieben, die etwas Ungewöhnliches in ihrem Leben geleistet haben, wie etwa Joan Jett, Jane Austen, Frida Kahlo und auch viele, die ich noch kannte. Ist finde ich ein großartiges und sehr ermächtigendes Buch, besonders für uns Frauen, da uns in der Geschichte oftmals Rollenmodelle fehlen. Außerdem hat mir eine Nonne vor Kurzem empfohlen ich solle doch die Bibel lesen und das werde ich auch tun.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich möchte hierbei gerne Spongebob Schwammkopf zitieren:
„F steht für Freunde die was unternehmen U steht für uns, dich und mich N steht für Endlich haben wir mal Spaß, ganz friedlich und freundschaftlich.
F steht für Freude an all den schönen Blumen, U steht für Ukulele, N steht für Naseweis und ich mach mit bei jedem Streich und lache aus tiefster Seele.“
Man sollte sich selbst nicht immer so ernst nehmen.
Julia Franye, Singer/Songwriter/Schauspielerin
Vielen Dank für das Interview liebe Julia, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Musik-, Schauspielprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Valerie Springer, Schriftstellerin _ am Romanschauplatz Malina_Wien
Herzlich willkommen, liebe Valerie, hier am Romanschauplatz „Malina“ in der Ungargasse/Wien!
Welche Bedeutung haben Orte für Dich?
Ich habe zu Orten eine ambivalente Einstellung.
Ich bin sehr oft umgezogen in meinem Leben. Es gibt viele Orte für mich, die mit Erinnerungen verbunden sind. Die Erinnerungen verändern sich und verändern den Ort.
Manchmal sind Orte Chimären. Wenn ich sie nach vielen Jahren besuche, sind diese nicht mehr das, was sie damals für mich waren und auch nicht mehr so, wie ich sie erwartet habe.
Welche Rolle spielen Orte in Deinem Schreiben?
Eine ganz wesentliche Rolle. Ich habe viele Jahre in Jamaika gelebt und habe diesen Ort, diese Insel, als Schauplatz für einen Roman gewählt.
Mein Vater ist 1920 in Prag geboren und musste diese Stadt aufgrund der Okkupation der Nazis verlassen. Ich habe bis heute zu Prag eine sehr innige Beziehung. Mein Vater sagte immer „Prag ist die schönste Stadt der Welt“. (lacht).
Wien ist in meinem Schreiben extrem wichtig. Meine Mutter ist Wienerin. Wien war für mich das Großeltern-Paradies (lacht). Ich war in meiner Kindheit immer im Ausland, aber wir sind in den Ferien zu den Großeltern nach Wien gefahren.
Als ich nach Wien gezogen bin, war es eine ganz andere Zeit als die Gegenwart. Ich bin in den 1970er Jahren, 1977, nach Wien gekommen. Es war die „bigger, faster, better, more“ Zeit (lacht). Es war ein unglaublicher Aufbruch zu spüren.
Für mich war Wien auch ein Neubeginn. Ich kam mit 19 Jahren hierher und habe meine Pubertät, meine Erfahrungen hinter mir gelassen. Es ging für mich damals um eine Neudefinition. Vielleicht habe ich das auch geschafft.
Was kommt noch dazu? Die Sprachheimat. Ein schwieriger Fall bei mir. Aber durchaus zu bewältigen (lacht). Ich bin deutschsprachig, hochdeutschsprachig, im Gegensatz zu meiner Mutter, die ein wunderschönes warmes Wienerisch gesprochen hat. Ich mag Dialekt ausgesprochen gern, aber ich beherrsche es nicht. Ich bin in ausländische Schulen gegangen und habe da Hochdeutsch gelernt. Warum ich keine Muttersprache habe, weiß ich nicht. Mein Vater war Tscheche und hat auch sehr korrekt Deutsch gesprochen, natürlich mit Akzent.
Die Sprachheimat ist für mich wesentlich mehr als die geographische Heimat. Ich wurde ja immer als „Deutsche“ tituliert, was ich nicht war und nicht bin, ich sprech` nur so (lacht).
Wie hast Du Wien in den 1970er Jahren literarisch und künstlerisch erlebt?
Ich war 19 Jahre alt und an meiner beruflichen Ausbildung interessiert, begann zu studieren, Wirtschaft, weil ich nicht daran geglaubt habe, dass man vom Schreiben leben kann (lacht).
Ich war und bin voller Bewunderung auch für Ingeborg Bachmann, die sich so kompromisslos dem Schreiben verschrieben hat … schönes Wortspiel (lacht). Den Mut habe ich nie gehabt.
Das künstlerische, literarische Wien damals? Ich ging damals viel in die Oper und in Konzerte. Musik hat damals eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Theateraufführungen erstaunlicherweise nicht, auch nicht Lesungen. Ich war und bin eher zurückgezogen lebend.
Welche Zugänge hast Du zum Roman „Malina“ von Ingeborg Bachmann?
Ich habe „Malina“ erstmals mit 13 Jahren gelesen. Da ist der Roman erschienen, meine Mutter kaufte ihn und ich schnappte mir das Buch. Aber es hat mir nicht viel gegeben. Ich habe es nicht verstanden.
In der Schweiz war der Roman ja keine Schullektüre. Dafür wurde viel Max Frisch gelesen, verständlich (lacht). Später ist „Malina“ für mich persönlich zur Pflichtlektüre geworden.
Noch später dann habe ich den Roman nochmal gelesen, als meine Tochter diesen in der Schule durchgenommen hat, das war 1991/92. Da habe ich tatsächlich erst richtig eintauchen können, auch als erfahrene, wissende, reifere Frau gesehen, wie das Wechselspiel zwischen Mann und Frau funktioniert. Wie sehr das Wechselspiel mit der inneren Instanz, der inneren Rechtfertigung funktioniert. Das war das Spannende daran, als ich es noch einmal neu gelesen habe.
„Malina“ hat Dich an Lebensstationen literarisch begleitet, ist dies auch heute so?
Ich habe den Roman jetzt in Vorbereitung dieses Gesprächs noch einmal gelesen. Es ist wirklich erstaunlich, wie sehr sich die Perzeption mit den Jahren verändert. Ich habe es mit 13 Jahren gelesen, dann ungefähr als 18 jährige, als 35/40 jährige und jetzt noch einmal als 60 jährige Frau.
Beim nochmaligen Lesen ist es, wie wenn man eine Zwiebel schält – mehr und mehr kommt man zum Kern. Allerdings hat eine Zwiebel erstaunlicherweise keinen Kern (lacht).
Wie hast Du in den verschiedenen Lebensphasen die literarischen Impulse des Romans aufgenommen?
Ich weiß, dass ich als 13Jährige von der Sprache fasziniert war und mir gewünscht habe, so schreiben zu können.
Als ich es mit meiner Tochter gelesen habe, war es ausschließlich ein analytischer, interpretatorischer Zugang. Ich war da von Neuem fasziniert, aber die Figur der Ich-Erzählerin war nicht vorrangig im damaligen Lesen. Ich habe es im Grunde „theoretisch gelesen“, für den Deutschunterricht meiner Tochter, um ihr zu helfen, den Text zu entschlüsseln. Aber ich habe wieder klar die Auseinandersetzung der Ich-Figur mit ihrer Liebesabhängigkeit erkannt. Und, dass ich nicht abhängig sein will.
Ich habe mich natürlich beim späteren Lesen mit der Ich-Erzählerin identifiziert, die Kämpfe, die sie austrägt – es ist Kampf – mit meinen verglichen. Und ich habe gewusst, ich will so nicht sein. Ich will so ein Leben nicht leben.
Unabhängigkeit war in meinem Leben ganz besonders wichtig. Ich wollte unabhängig von den Eltern sein. Ich wollte nicht von einem Mann abhängig sein. Ich wollte nie auf etwas angewiesen sein – Geschenke, Zuwendung – darum habe ich immer gearbeitet und nicht nur geschrieben.
Ich habe im Laufe meines Lebens festgestellt, dass die Liebe eine der vertracktesten Abhängigkeiten ist.
Die Liebe spielt ihr eigenes Spiel. Man ist ihr ausgeliefert. Zumindest im hormongesteuerten Alter.
Jetzt habe ich „Malina“ eben erneut gelesen und festgestellt, dass ich mich auf andere Art mit dem erzählenden Ich identifizieren kann, weil es unglaublich stark ist. Das Ich ist extrem stark.
Das Ich erkennt, es weist zurück, es entscheidet, es will nicht mehr. Das hat mich jetzt ganz besonders beeindruckt.
Die Stärke des Ich, sich dem eigenen Mut zu stellen, sich dem Ausgeliefertsein zu stellen, das war ein überwältigender neuer Ansatz für mich. Im jetzigen neuen Lesen – nach 20 Jahren – zu erkennen, dass sie kein Opfer ist … nein, sie ist die Starke … das war erstaunlich. Immer unter der Voraussetzung, dass die Ich-Erzählerin eine Frau ist.
Wie siehst Du die erzählende Figur des Ich?
Ich sage, dass das Ich eine Sie ist. Ingeborg Bachmann sprach ja auch von autobiographischen Zügen.
Das Ich im Roman ist für mich klar weiblich, auch aufgrund der Vater-Tochter Konstellation.
Die Spielballrolle, die sie einnimmt, wenn sie mit Ivan zusammen ist, ist ein weibliches Stereotyp.
Wie siehst Du Malina?
Die Figur des Malina ist ein klassischer Counterpart. Ivan ist kein Counterpart. Ivan ist eine Episode. Möglicherweise ein Auslöser, dass diese Diskussion, Konfrontation mit Malina stattfinden kann. Dafür ist die Ivan-Affäre ein Auslöser.
Es können natürlich auch zwei Personen sein. Ein Mann und eine Frau.
Persönlich liegt es mir mehr, diese Erzählfigur als einen inneren Dialog zu sehen, in Monolog- wie Dialogform.
Die Ich-Stimme spielt ja auch mit Ivan und Malina, weil sie um deren Grenzen weiß.
Ich schreibe auch experimentelle Texte, die ich unter einem Pseudonym veröffentliche. Ein großer Teil davon hieß „Monolog für zwei Personen“. Da geht es auch um diese Dynamik Vorwurf/Rechtfertigung, in der irgendwann dann der Punkt kommt, wo man sich nicht mehr rechtfertigen will, weil man auf einmal erkennt.
Meine experimentellen Texte schreibe ich unter dem Pseudonym eines Mannes und da bekomme ich wesentlich mehr feedback als auf Texte, die ich unter meinem Namen veröffentliche.
Malina, Ivan und die Ich-Erzählerin, das kann auch als eine Dreiecksbeziehung gesehen werden. Ingeborg Bachmann lässt dem Leser eine freie Interpretation zu. Für mich persönlich ist es aber ein innerer Dialog. Ein „monologischer Dialog“.
Als Roman-Schriftsteller, Schriftsteller überhaupt, ist man der Interpretation der Leser recht ausgeliefert. Ein Schauspieler, Sänger oder Tänzer hat den Austausch mit dem Publikum. Ein Schriftsteller hat das nicht, außer bei Lesungen. Das Entstehen eines Textes ist eine unglaublich einsame Sache. Es fordert Einsamkeit und es fördert Einsamkeit.
Als Ingeborg Bachmann den Anton Wildgans Preis bekam (Anm.: 1972, ein Jahr vor ihrem Tod), sagte sie: „…Es ist eine seltsame absonderliche Art zu existieren, asozial, einsam, verdammt, es ist etwas verdammt daran…“. Ja, es ist eine absonderliche Art zu existieren, wenn man schreibt.
Wie siehst Du diese Aussagen Bachmanns zum Schreiben selbst als Schriftstellerin? Kannst Du Dich da wiederfinden?
Ja, aber ich sehe es nicht so dramatisch. Sie sagt aber auch in dieser Rede, dass „sie nur existiert, wenn sie schreibt“, das ist bei mir definitiv auch so.
Ein Leben ohne Formulierungen geht nicht. Es muss immer in Worte gepackt werden, erst dann ist es lebbar.
Erlebnisse werden durch die Sprache greifbarer. In meinen Tagebüchern oder Aufzeichnungen müssen die Formulierungen nicht ausgereift sein, da geht es um die Schilderung. Der Prozess der Sprache bringt mir aber das Erlebnis zurück. Ja, das ist eine einsame Sache (lacht). Nein, einsam ist eigentlich nicht zutreffend. Es ist eine Tätigkeit, bei der man allein ist, aber einsam nicht.
Schreiben ist eine der schönsten Rückzugsmöglichkeiten. Die Dinge, die geschehen sind, die Dinge, die sich in mir abspielen, die Dinge, die ich in anderen erlebe, auch die Geschichten, die ich in ihren Gesichtern lese, oder in ihren Stimmen, wenn sie mir etwas erzählen, wenn ich das in Worte fassen kann, aufheben kann … ja, ich mach`s dingfest.
Das Wichtigste daran ist, ich kann Schlüsse daraus ziehen. Irgendwann wird mich das Geschriebene fragen, welche Schlüsse hast du daraus gezogen.
Es kommt hoffentlich irgendwann in meinem Leben der Punkt, wo das Leben als Schreibende für mich eine Tür öffnen wird. Dass ich tatsächlich erkenne, warum ich es gemacht hab`.
Gibt es da eine bestimmte Vorstellung, Vision dieser „Türe“?
Ich hoffe einfach (lacht). Ich denke, es gibt in jeder Kunst eine Etappe , wo man sagen könnte: „Jetzt, das ist es.“ Aber das ist immer nur eine Zwischenstufe. Es gibt da kein Ende. Es gibt kein Ziel. Jede Etappe ist nur eine Zwischenetappe, ein Zwischenziel. Sich darauf auszuruhen ist natürlich verlockend. Es ist unglaublich verlockend da stehenzubleiben und zu sagen, jetzt habe ich es geschafft. Aber, wie sagen da die jungen Leute, da geht noch mehr (lacht).
Dieses Was-Kommt-Da-Noch ist ein Gespanntsein wie bei einem Thriller. Da kommt noch was, mach` weiter! Das ist das Schöne. Im Gegensatz zu einem Sport, wo ich mit dem Alter aufgebe. Ja, die Knochen werden müde. Aber der Geist wird hoffentlich reger.
Was sind Deine Bewegründe, den inneren Monolog als Stilmittel im Schreiben einzusetzen? Was sind da die Erwartungen?
Erstaunlicherweise ist das kein rationales Schreiben, an das ich irgendwelche Erwartungen knüpfe. Es ist ein sehr intuitives, fast automatisiertes Schreiben. Manchmal habe ich das Gefühl, ich könnte mich mit geschlossenen Augen – wenn ich mich nicht vertippen würde – in eine Art Trance begeben, weil es spricht von selbst.
Wenn ich drauflos schreibe, diese Dialoge/Monologe, dann brauche ich nur mitzuschreiben, was sie sagen. Das ist faszinierend. Wenn ich es dann nachher lese, denke ich, das war nicht ich. Manchmal bin ich überrascht, manchmal bin ich entsetzt, wie banal es ist. Dann denke ich mir, alles Erzählte ist banal.
Auch „Malina“ ist banal. Aber die Art, wie es geschrieben ist, das macht es zum Kunstwerk. Die Geschichten sind das Banalste, was es gibt. Menschen mit ihren Problemen, mit sich und den anderen, seit der Antike, seit es die Schrift, seit es Geschichten, Märchen gibt.
Was macht den Roman „Malina“ für Dich zum Kunstwerk?
Die wunderbare Eleganz der Sprache. Die abgehakten Kurzsätze, die Telefonate, die verschiedenen Sätze, die Ivan und die Ich-Stimme erfinden – die Leichtigkeit der Sprache, im Gegensatz zur Schwere des Inhalts. Das ist Kunst.
Welche Bezüge gibt es von Dir zu Ingeborg Bachmann?
Ich habe „Malina“ und auch Bachmanns Gedichte gelesen. Zu den Gedichten finde ich weniger Anschluss als über die Prosa. Ich habe auch die Gedichte Celans gelesen, da es da ja eine langjährige Verbindung gab. Die literarischen wechselseitigen Einflüsse von Ingeborg Bachmann und Paul Celan kann ich nicht beurteilen.
Ich habe den Film „Malina“ gesehen, welcher aber nicht an den Roman herankommt. Das ist aber meist bei Romanverfilmungen so, dass man enttäuscht ist.
Wie liest Du die Kapiteldreiteilung des Romans?
Das dritte Kapitel ist für mich das interessanteste, diese Auseinandersetzung mit den Selbstvorwürfen und Selbstrechtfertigungen.
Das erste Kapitel hieß ja ursprünglich „Schlafen mit Ivan“. Was ich spannend finde, weil ja jegliche Erotik im Roman fehlt.
Das erste Kapitel ist als Ganzes ein Aufwärmen, ein Kennenlernen der drei Protagonisten.
Das zweite Kapitel ist heftig und schwierig. Es ist nicht verstörend, zumindest für mich nicht. Ich sehe es weniger als Vatervorwurf sondern als Auseinandersetzung mit dem manndominanten System, in dem die Ich-Figur lebt.
Die patriarchalen Strukturen sind auch heute da. Frauen werden schlechter bezahlt. Frauen bleiben ewig schlank und jung. Frauen erfüllen Doppel-/Dreifach-/Vierfach-Rollen: als Geliebte – mit sämtlichen Sex-Praktiken auf Du und Du –, als Super-Köchin – heute muss man ja super kochen können –, und dann selbständig und unabhängig sein. Diese Vielfachbelastung, die auf Frauen lastet, ist Resultat eines patriarchalen Systems, eines männerdominierten Systems.
Als 1971 der Roman „Malina“ erschien, wurde in der Schweiz das Frauenwahlrecht eingeführt. Ich weiß noch, dass meine Mutter gefeiert hat und ihre Freundinnen zum Schaumweintrinken eingeladen hat (lacht). Die Mama hat als Österreicherin nicht wählen dürfen, aber sie hat diese wunderbare Aufbruchstimmung miterlebt.
1971 gab es auch den Artikel von Alice Schwarzer zur Abtreibung von Frauen in der Zeitschrift „Spiegel“. Frauen machten ihre Abtreibung öffentlich, obwohl es da noch strafbar war.
Es hat sich extrem viel seit den 1970er Jahren getan. Wir Frauen genießen theoretisch die gleichen Rechte wie Männer. Das ist ja schon mal was.
Ich wünsche mir ein gleichwertiges Miteinander, in dem voneinander gelernt und einander gestützt wird. Beides. Wo einer den anderen fördert und nicht fertigmacht. Die Ich-Person im Roman wurde ja von allen Seiten fertigmacht, hat ja keine Förderung bekommen. Da meine ich so einfache schlichte Sachen wie „toll gemacht, gut gemacht“. Nichts, kein einziges Wort.
Unterstützung geben, Wachstum fördern, das würde ich mir wünschen als Miteinander von Mann und Frau.
Und Liebe ohne Erwartungen. Als Erwartungshaltung an sich selbst. Freude, wenn es da ist. Kein Hass, kein Zorn, kein Beleidigtsein, wenn es nicht da ist.
Trifft das die Worte im Roman „Ein Tag wird kommen“ als Zukunftsvision?
„Ein Tag wird kommen“ heißt „es war einmal“, nur in die Zukunft verlegt. Es ist etwas, das ins Märchenhafte gerückt wird.
1971 als wesentlicher feministischer Markstein mit dem Wahlrecht in der Schweiz wie der Abtreibungsdebatte. Würdest Du da „Malina“ gleichsam als feministische Trias dazustellen?
Es gibt diese Lesart.Ja, alles was der Gleichberechtigung der Frau hilft, ist gut. Aber ich kann dem nicht 100prozentig zustimmen, weil der Roman viele Jahre davor geschrieben wurde, bevor das Thema des Feminismus so akut geworden ist.
Ich würde sagen, Bachmann wollte einfach die Sicht der Frau schildern. „Malina“ ist das Psychogramm einer Frau, die mit einer unerfüllten Liebe lebt und eine Affäre hat, einer Frau, die sich aufs Grausamste mit dem Mann-Frau-Verhältnis wie den sich daraus ergebenen Konflikten auseinandersetzt.
Wie war Dein Weg zum Schreiben?
Ich schreibe, seit ich lesen kann. Seit ich das erste Mal ein Buch in der Hand hatte, egal ob ein Pixie-Buch von meiner Schwester, oder als 13Jährige, als ich mich durch die Bibliothek meiner Eltern gearbeitet habe – die geschriebene Sprache ist meine Sprache. Das ist eine Tatsache.
Ich habe schon als Kind Tagebuch geschrieben, dann hatte ich eine ausufernde Korrespondenz mit meinen Freundinnen und meiner Verwandtschaft. Briefe habe ich ganz besonders gerne geschrieben und erhalten. Mit 17/18Jahren habe ich es zum ersten Mal mit einem Roman versucht. Das ist alles nicht mehr erhalten. Es ist mir zu viel Ballast. Außerdem bin ich nicht mehr die, die ich damals war.
Ich habe eigentlich erst sehr spät mein erstes Buch geschrieben, das dann veröffentlicht worden ist. Ich habe als Werbetexterin und Journalistin gearbeitet, weil ich mir eingeredet habe, ich will finanziell unabhängig sein.
Die geschriebene Sprache ist meine Welt, sowohl lesend wie schreibend. Ich habe viele, viele Freunde in Büchern.
Ist das Sich-Trennen, Wegwerfen von Texten – auch der erste Roman Ingeborg Bachmanns ist ja nicht erhalten – Teil des schriftstellerischen Prozesses?
Gute Frage. Das kann ich so nicht beantworten, da kann ich nicht ja oder nein sagen.Für mich ist umzugsbedingt immer viel weggefallen. 1977 bin ich mit 19 Jahren nach Wien gezogen. Auch in Wien bin ich öfters umgezogen. Im Herbst bin ich nahezu immer für ein halbes Jahr verreist. So wenig Ballast wie möglich.
Als meine Eltern starben, habe ich gesehen, wie viel emotionale Arbeit es ist, sich durch deren Sachen zu wühlen und sich davon zu trennen. Das wollte ich meinen Nachkommen ersparen. Deswegen habe ich mich 2016 auch von meinen Tagebüchern und meinen Zeitungsartikeln (die ich aus purer Eitelkeit aufgehoben habe) getrennt. Ich bin keine Anais Nin, die ihre Tagebücher immer umschreibt, damit sie für die Nachwelt gut aufgearbeitet, aufbereitet sind.
Ist das Trennen von Geschriebenen für Dich ein pragmatisches Platzschaffen und/oder ein Platzschaffen für einen neuen literarischen Raum?
Beides, definitiv beides. Der praktische Teil ist, dass ich mehr Platz habe im Regal, das waren doch schon Laufmeter. Zweiteres – da habe ich erkannt, das bin nicht mehr ich, das hat mit mir nichts mehr zu tun. Ich kann daraus nichts mehr lernen über mich. Ich habe parallel sehr strukturiert meine Memoiren geschrieben. Für jedes Jahr ein Kapitel, Familiengeschichte und Erinnerungen. Meine Schwester hat es gegengelesen. Ich will nicht verfälschen, sondern so schildern, wie es war. Und insofern haben sich die Tagebücher erübrigt.
Siehst Du den Persönlichkeitsprozess des „Loswerdens, Freiwerdens“ auch im Roman „Malina“ ausgedrückt, verwirklicht?
Ja, ganz bestimmt. Deswegen meinte ich, dass sie eine sehr, sehr starke Person ist. Es ist ja, in meinen Augen, kein Roman, der Verzweiflung zeigt, sondern schildert, was war. Welche Methoden man verwendet hat, um mit der Situation umzugehen.
Das zweite Kapitel wird ja schonungslos geschildert, das mag für sie eine Katharsis gewesen sein.
Ich kann mir bei Ingeborg Bachmann schwer vorstellen, dass sie es nur als Roman geschrieben hat. Sie war ihr Werk. Sie hat es nicht nur geschrieben, weil sie einen guten Roman schreiben wollte. Das unterstelle ich (lacht).
Ja, es kann eine Katharsis gewesen sein, durch die sie zu einer Erkenntnis gekommen ist.
Es ist sehr schwer über jemand irgendwas zu wissen.
Ist das zweite Kapitel „der dritte Mann“ auch eine Katharsis österreichischer Geschichte?
Als ich 1977 nach Österreich gekommen bin, war Österreich das „Opferland“, das von den Nazis gekappt worden ist. Durch die TV-Serie „Holocaust“ im ORF gab es dann erstmals Diskussionen und auch dann, als Waldheim Präsident geworden ist. Da hat sich das Verständnis langsam gewandelt.
Wie siehst Du die Wechselbeziehung als Schriftstellerin und Frau? Hat dies spezifische Rollenbesonderheiten?
Aus der gesellschaftlichen Rolle als Frau wird für das Schreiben geschöpft. Es ist ein Hin- und Her-Gerissensein, ein Balanceakt, manchmal eine Gratwanderung.
Ja, man möchte gefallen als Frau. Das ist eine erstaunliche Erkenntnis, die ich jetzt habe. Und dann kommt, man möchte als Schriftsteller gefallen.
Man möchte Anerkennung, nicht für das Frausein, sondern für das intellektuelle Schaffen. Beides. Gratwanderung trifft das besser.
Wie siehst Du den Mann heute? Was will dieser?
Anerkennung, Erfolg, einen Freundeskreis, in dem er gleichberechtigt ist und doch auch immer wieder seine Einzelperson hervorheben muss.
Ein bisschen Konkurrenzkampf, weil es schön ist, jemanden zu besiegen. Es ist schön, besser zu sein als ein anderer. Bestätigung.
Er möchte gerne eine Partnerin haben, die ihn versteht und liebt wie seine Mutter es getan hat. Akzeptanz.
Es sind derzeit politisch turbulente Zeiten in Österreich. Siehst Du da typisch männliche Verhaltensweisen, Stereotypen, die auch im Roman „Malina“ thematisiert werden?
Die politische Situation derzeit ist ein Desaster. Ich finde es erbarmungswürdig, was da passiert. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Liebe zur Zeit des Romans „Malina“ und heute. Was sind da wesentliche Veränderungen?
Ich bin mit Hollywood Filmen aufgewachsen, die ein Happy End haben. Filme, die kein Happy End hatten, gab es kaum. Man verliebt sich und dann heiratet man. Was nachher kommt? Ach, da machen nur die Franzosen komische Filme (lacht).
Heutzutage ist es – wahrscheinlich auch durch socialmedia, mag sein, dass das damit zusammenhängt – so viel klarer, was sich in Liebesbeziehungen abspielen kann, es gibt kein Rätselraten mehr. Es ist manchmal fast von einer obszönen Offenheit, wie alles dargelegt wird, was sich zwischen Mann und Frau abspielt.
Liebe damals und jetzt. Sie ist, meiner Meinung nach, auf einer gleichwertigeren, fast gleichberechtigten Ebene.
Frauen heiraten nicht mehr, um versorgt zu sein und dass daraus später hoffentlich Liebe entsteht. Zumindest nicht die Frauen, die ich kenne.
Das Bild der Liebe hat sich verändert. Es ist ein partnerschaftliches geworden.
Es ist in der Liebe auch nicht mehr das Damoklesschwert da – „Zusammen sein bis ans Ende aller Tage“. Man hat die Chance, mit den Erfahrungen, die man aus einer schlechten Liebesbeziehung gezogen hat, eine fruchtvolle neue Liebesbeziehung einzugehen. Das ist ein Vorteil.
Ich weiß nicht, ob die Liebe desillusioniert worden ist? Ich glaube nicht. Es ist ein Bewusstsein entstanden, dass beide etwas dafür tun können, sich besser zu verstehen und eine Liebe wachsen zu lassen, die nichts mit Verliebtheit zu tun hat, sondern die eine warme Zuneigung ist, eine wirkliche tatsächliche Freundschaft. Für diese Liebe gibt es kein Wort. Es ist zärtliche Innigkeit, die entstehen kann und ich glaube, sie hat mehr Chancen heutzutage, weil man sich der ganzen Fallstricke bewusst ist. Insofern hat sich die Liebe verändert.
Kommunikation ist im Roman wie heute ein großes Thema. Inwieweit hat sich die Sprache der Liebe verändert?
Die Sprache der Liebe hat sich ganz bestimmt verändert. Früher hat man schöne schwulstige Liebesbriefe geschrieben, ich auch, ich habe auch welche bekommen (lacht), wo jedes Wort mit Bedacht gewählt worden ist. Heutzutage ist es schwer, nicht in Phrasen zu sprechen. Bei jedem whatsapp steht unten „Ich hab dich lieb“. Die amerikanischen Filme enden bei jedem Telefonat mit „ich liebe dich/ich liebe dich auch“. Es gibt eine Kommunikation, die weit mehr sagt als diese Phrasen.
Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil im Verständnis zweier Liebespartner. Die muss aber nicht zwangsläufig verbal sein. Vieles löst sich im Ungesagten. Und das sag` ich, die sprachsüchtig ist.
Manche Dinge müssen nicht gesagt werden.
Die nonverbale Kommunikation ist unschlagbar.
Worte sind so eine verzwickte Waffe, weil man mit einer winzigen Modulation der Stimme etwas anderes sagen kann als das, was man tatsächlich sagt. Die Termini der Musiksprache im Roman treffen das ja, das ist sehr spannend.
Sich selbst über seine eigenen Fallstricke in der Kommunikation klarzuwerden, auch die eigenen Verletzungen anzuerkennen. Dann weiß man, was man anrichten kann. Was einmal gesagt ist, ist gesagt. Das ist eine Tatsache.
Wie siehst Du das Ende des Romans?
Die Ich-Stimme verlässt Malina. Wie es vor sich geht, ist eine riesengroße Frage. Sie ist Teil der Wand geworden. Sie beherbergt ihn. Ja, vielleicht so.
Er ist zu schwach. Malina ist zu schwach. Die Ich-Erzählerin, die Schriftstellerin, Ingeborg Bachmann beschreibt eine Frau, die das alles erkannt hat. Die letzte Konsequenz ist nicht Selbstmord und auch nicht Mord. Sie ist zu dem Schluss gekommen: „Hier muss ich nicht mehr sein.“
Wenn es ein Bühnenstück wäre : Sie geht ab. Sie geht einfach ab. Sie macht nicht mehr mit. „Ich geh` dann mal.“ Vielleicht mit schönen leuchtenden Buchstaben auf der Bühne. Malina tut so, als ob er wichtig wäre und sie sagt „Ich geh` dann mal.“ Das gefällt mir (lacht).
Valerie Springer, Schriftstellerin _ am Romanschauplatz Malina_Wien
Herzlichen Dank, liebe Valerie, ich wünsche Dir viel Glück, Freude und Erfolg auf allen beruflichen und privaten Wegen!
50 Jahre Malina _ Roman _ Ingeborg Bachmann _ im Gespräch und Fotoporträt:
Liebe Julia, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Durch die Situation der letzten Monate habe ich mich mehr auf’s Musikmachen und nicht so auf die Schauspielerei konzentriert. Das heißt, ich verbringe meine Tage gerade vor allem im Proberaum.
Julia Lorünser, Schauspielerin/Musikerin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Schwer zu sagen was jetzt für uns ALLE besonderes wichtig ist…ich kann nur sagen was mir wichtig wäre und das nicht nur jetzt, sondern eigentlich immer: sich selbst nicht zu wichtig und nicht zu ernst zu nehmen und wenigstens ein Mindestmaß an Empathie und sozialer Intelligenz an den Tag zu legen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt der Musik, dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?
Ich hoffe sehr, dass diese Aufbruchsstimmung und das Gefühl, dass wir etwas ändern müssen auch tatsächlich anhält und wir nicht schneller als gedacht zur sogenannten “alten Normalität” zurückkehren. Das ist meiner Meinung auch das Wesentliche: den Biss jetzt nicht zu verlieren! Ich denke, die Kunst kann (wie sie es schon immer getan hat) hierbei den Weg in eine “neue” Normalität, bzw. die Schwachstellen, der “alten” Normalität aufzeigen.
Was liest Du derzeit? “Bedenke Phlebas” von Ian Banks – ich bin ein großer Science-Fiction Fan.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ist zwar schon etwas abgegriffen, aber: “Life ist what happens to you, while you’re busy making other plans.” (John Lennon)
Julia Lorünser, Schauspielerin/Musikerin
Vielen Dank für das Interview liebe Julia, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Schauspiel-, Musikprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Julia Lorünser, Schauspielerin/Musikerin
Fotos_Gernot Böhm.
14.10.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
Lieber Hellmuth, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Morgens um 7 Uhr hoch, Kaffee, Zeitungslesen. Dann um 8.30 Uhr zur Arbeit als einer von wenigen präsent Anwesenden in einer zu drei Vierteln im Homeoffice befindlichen 25-Leute-Werbegentur. Zwischen 18 und 19 Uhr nach Hause, danach evtl. Kino, Lesung, TV. Ab 22 Uhr selber lesen und schreiben.
Hellmuth Oppitz, Schriftsteller
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die eigenen Empfindlichkeiten überdenken bzw. ablegen und stattdessen mehr Pragmatismus und Bodenständigkeit einfließen lassen, den Treibstoff der Resilienz.
Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen.Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Sich der eigenen Basis klar werden, sich dem Grund anvertrauen, auf dem man wandelt, den Wirklichkeitssinn einschalten, sich nicht von den Sozialen Medien durchhysterisieren lassen. Literatur und Kunst erweitern derweil die Dimensionen des Möglichkeitssinns.
Was liest Du derzeit?
Moderner Klassiker; Heimito von Doderer: „Die Strudlhofstiege“
Gegenwartsgedichte; Valshyna Mort: „Musik für die Toten und Auferstandenen“
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Und meine Reisen in China haben wahrhaftig wenig Bedeutung verglichen mit den tastenden Schritten im Dunkeln vom Bett zur Küche auf der Suche nach einem Glas Wasser.“
Ennio Flaiano
Vielen Dank für das Interview lieber Hellmuth, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Seit der letzte Lockdown, von dem ich schon vergessen habe, der wievielte es war, vorbei ist, sind meine Tage wieder bunt gefüllt: Ich treffe interessante Menschen für Gespräche, besuche Ausstellungen und Vernissagen und vor allem darf ich wieder »in meinem Element sein« – proben und auf der Bühne stehen!
Lisa Kröll, Schauspielerin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Erstens: Optimistisch bleiben und die gute Laune bewahren! Besonders jetzt, wenn sich die allgemeine Stimmung wieder anspannt und ungewiss ist, was in den kalten Monaten auf uns zukommen wird. Zweitens: Sich mit verschiedenen Leuten austauschen und ihnen auch wirklich zuhören! Und vor allem drittens: Neue Dinge ausprobieren, sollten die alten wieder eine Zeit lang unmöglich werden. Denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dabei neue Leidenschaften zu entdecken oder neue Ansichten zu gewinnen.
Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?
Ich mag es, wenn sich Theater und Kunst manchmal wie ein kratziger Wollpulli anfühlen – sich also trauen, unangenehme Fragen zu stellen und nicht müde werden, uns immer wieder durch ihr »Kratzen« zum Nach- und Umdenken zu motivieren. Und ich mag Kunst, die es schafft, uns für etwas zu begeistern und positiv anzuregen. In den letzten Monaten war ich auch dankbar für den Aspekt der Kunst, uns einfach mal »nur« zu unterhalten und von düsteren Gedanken abzulenken.
Was liest Du derzeit?
Ich schmökere mal wieder in einem meiner Lieblingsbücher, »Sofies Welt« von Jostein Gaarder – ein ursprünglich für Jugendliche geschriebenes Philosophiebuch, das sich mit den berühmten philosophischen Fragen wie »Wer bin ich?« oder »Was ist der Sinn des Lebens?« beschäftigt und ebenfalls Erwachsene anspricht. Ich kann diese Lektüre nur allen empfehlen!
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
»Sofies Welt« beeinflusste mich stark und hat mich zu folgenden Gedanken, und wenn man so möchte, »Richtlinien« für meine persönliche Zukunft bewegt: Als kleine Kinder haben wir die Fähigkeit, uns zu wundern. Leider geht davon aber im Laufe des Lebens viel verloren. Ich versuche, mir meine Neugier zu bewahren und so aufnahmefähig zu bleiben wie ein Kind. Ich erlebe es als sehr bereichernd, offen zu sein für alles und sich zu trauen, Fragen zu stellen. So erscheint uns die Welt noch immer unbegreiflich, ja sogar rätselhaft und geheimnisvoll …
Lisa Kröll, Schauspielerin
Vielen Dank für das Interview liebe Lisa, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Schauspielprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Schön, dass du mich mit diesem Interview dazu angeregt hast, mich mit deinen spannenden Fragen zu beschäftigen, lieber Walter! Vielen Dank für die Einladung.
Haris Balic mit Halbschwester DagmarHaris Balic mit seinen Eltern Ungargasse_Wien „Das neue Auto“ Mutter von Haris Balic mit dem neuem Auto ihres Sohnes, Bruder von Haris Balic, vor dem Haus Ungargasse 9 – 1970erHaris Balic_Kurator/Archivar_Theatermuseum Wien _ vor dem Haus seiner Kindheit _ Ungargasse 9 _ Romanschauplatz Malina
Nach 42 Jahren stehe ich wieder vor dem Tor mit den zwei Löwenköpfen des Hauses in der Ungargasse Nr. 9. Da bin ich aufgewachsen und hier habe ich meine ersten zwanzig Lebensjahre verbracht.
Walter Pobaschnig, der unermüdliche Interviewer und Fotograf der Wiener Kulturszene ist über Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“ auf diesen romantisch-historistischen Bau aus dem Erbauungsjahr 1858 gestoßen und hat anlässlich des 50-jährigen Romanjubiläums bereits etliche Prominenz, zumeist Schriftstellerinnen und Schriftsteller, hier an diesen Ort gelockt, um spannende Interviews und hervorragende Fotografien für seine tolle Webseite zu fertigen. Über einen Kommentar, den ich auf dieser Webseite abgegeben habe, ist Walter (wir haben uns gleich geduzt) auf mich aufmerksam geworden. Das heutige Interview hätte eigentlich schon vor einem Jahr stattfinden sollen. Mittlerweile habe ich aber erfreulicherweise meinen Ruhestand antreten dürfen und bin daher auf Grund von Zeitüberschuss gerne bereit einen Hausrundgang inklusive Interview mit Walter zu machen.
Während wir also reden, werden Handyfotos angefertigt und das Mikro ist eingeschaltet.
Meine Eltern übernahmen die Wohnung Ungargasse 9 rechte Stiege 3. Stock Tür Nr. 20 von dem Theatermann Gustav Manker im Jahr 1954. Beide waren geschieden und brachten aus ihren Ehen jeweils drei Kinder mit. Mein Vater drei Söhne, meine Mutter zwei Töchter und einen Sohn. 1956 wurde geheiratet und im April 1959 entschlüpfte ich in der Semmelweissklinik dem Schoß meiner deutschgebürtigen Mutter.
Haris Balic_Hof_Blick zur ehemaligen WohnungHaris Balic „Das Farbfoto zeigt meinen Vater auf der Küchenbank zeitunglesend mit Fes, den er nur für das Foto spaßhalber aufgesetzt hat. Meine Mutter schaut ihm über die Schulter“ 1960er, Ungargasse
Mein Vater kam 1940 als geborener mostarischer Muslim 1940 nach Wien um hier ein oder mehrere Studien abzuschließen. So begann eben meine Laufbahn als „waschechter“ Wiener im Hause Ungargasse 9. Meine Ankunft wurde von meinen sechs Halbgeschwistern, die allesamt 10 Jahre und älter als ich sind, infernalisch begrüßt! Es war wohl eine große Freude!
Eineinhalb Jahre später bekam meine jüngere Schwester, inzwischen schon siebzehn, ein uneheliches Baby! Ein Skandal in der damaligen Zeit und so wuchs ich auch mit meiner Nichte Nadja auf von der ich bis zu meinem siebenten Lebensjahr glaubte, sie sei meine Schwester! Alle sagten zu unserer Mutter „Mutti“ und so auch Nadja. Ihre Mutter war einfach die Dagi. Auf diese Weise hatte ich also eine Spielkameradin, denn meine richtigen „Halbgeschwister“ waren schon viel zu alt, um mit mir Knirps auf Augenhöhe spielen zu können.
Haris Balic (neben Mutter) mit Eltern und Cousin Shiraz im Wohnzimmer, ca.1964; Ungargasse
Mein Vater, der Bosnier, studierte Philosophie und islamische Theologie und promovierte 1944 mit seiner Dissertation „Geistige Triebkräfte im bosnisch-herzegowinischen Islam“. Seine Heimat und seine Religion waren ihm sein ganzes Leben lang sein wichtigstes Anliegen. Leider, denn seine Familie hat er gerne hintangestellt. Seine Forschungen, Publikationen, seine nicht aufzählbaren Auslandsreisen in der ganzen Welt mit seinen Vorträgen und seinen zahlreichen Engagements fanden, so ehrenvoll seine Arbeit auch war, immer zu Lasten der Familie statt.
Smail Balic, Vater von Haris Balic, Ungargasse
In den 1960er-Jahren gründete mein Vater den muslimischen Sozialdienst. Dazu wurde eine Souterrainwohnung in der Münzgasse gleich ums Eck angemietet. Anlaufstelle für Menschen aus Bosnien, die unter dem Tito- Regime flüchten mussten. Eigentlich war dieser Sozialdienst anfangs ein Ein-Mann-Betrieb und mein Vater vermittelte Arbeit, Hilfsgelder und war bei Behördenwegen gerne auch als Übersetzer tätig. In den 1970er-Jahren kamen dann auch die türkischen Gastarbeiter dazu und auch hier wurde gerne geholfen! Da mein Vater auch als Türkischlehrer tätig war, gab es keine Verständigungsprobleme. Es wurde ein Gebetsraum eingerichtet, der jeden Freitag sehr besucht war. Ein junger Imam aus Bosnien wurde angestellt. Bald ist es für die muslimische Community zu beengt geworden und es wurde eine größere Räumlichkeit in der Werdertorgasse im 1. Bezirk für diese Zwecke adaptiert. Der Verein war der Vorläufer der heutigen Islamischen Glaubensgemeinschaft, die 1979 auf Antrag meines Vaters gegründet wurde. Auch am Zustandekommen des Baus der Wiener Moschee in der Donaustadt war er wesentlich beteiligt. Also sehr viel Engagement von meinem Vater. Nur, er hat es nicht geschafft, aus uns 4 Brüdern „gute“ Moslems zu machen. Wir hatten ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Vaters Religion. Trotzdem sind wir erstaunlicherweise alle anständige Menschen geworden! Da hat die Mutter schon einiges dazu beigetragen.
Wir wohnten hier oben im letzten Stock. Die Wohnung war groß, ca. 130 Quadratmeter und die meisten Zimmer hatten ein Fenster zum Hof. Der größte Raum mit den 2 Fenstern schaute zur Ungargasse. Dieses Zimmer durfte ich die meiste Zeit bewohnen.
Unsere Katze. Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite. Um 1970 Wohnung_Ungargasse
Im Winter bin ich als Kind oft freudig erwacht, weil mich die sanften Schneeschaufelgeräusche des Hausmeisters um halbfünfuhrmorgens aus dem Schlaf holten. Im Hof hingegen wurde zu meiner Freude kaum geräumt. Da konnte man noch Schneemänner und Iglus bauen. Eine schöne Erinnerung war für mich auch die Schlittenfahrt abends in der Gasse. Ich am Schlitten, mein Vater der Esel, der ziehen musste. Das gibt es heute nicht mehr in Wien.
Meine Brüder waren recht schlimm, wie ich den Erzählungen meiner Mutter entnommen habe. Einmal hatten sie Hausarrest und sind dann aus dem Fenster des „Bubenzimmers“ über den Fenstersims ums Eck in das Stiegenhaus geklettert und geflohen! Über die späteren Konsequenzen ist mir nichts bekannt.
Die wellenartigen Bleistiftlinien, die mehrfach an der Runden abblätternden Wand des Stiegenhauses vom 3. Stock bis ins Erdgeschoss verliefen, werde ich auch nie vergessen. Wer war das bloß?
Hier im Hof, heute stehen zwei Autos da, befand sich ein hölzernes Teppichklopfgerüst, das nicht mit dem Boden verankert war und beim Herumturnen bedrohlich wackelte. Mit Karli dem Hausmeisterbuben habe ich des Öfteren Fußball gespielt. Ich hatte und habe bis heute keine Ahnung von Fußball, aber das Klopfgerüst war logischerweise das Tor und ich musste immer „Austria“ sein, obwohl mir „Rapid“ viel lieber gewesen wäre.
Hinter der rückwärtigen Mauer im Hof mit dem historistischen Brunnen, gab es einen Zugang zu einem verwilderten Garten, der von den Hausbewohnern nicht genutzt wurde. Sehr wohl aber von uns Kindern. Zwischen den vielen Stauden, Sträuchern und Essigbäumen konnten wir wunderbar verstecken spielen. Der Boden war vollkommen mit Efeu zugewachsen. Im zweiten Stock des linken Traktes wohnte ein Frauenarzt. Auch seine Praxis war dort. Sein kleiner Sohn, der Maxi, warf zur Freude von Karli und mir oft sein Spielzeug in den Garten.
Die Höfe der gegenüberliegenden Häuser zur Baumannstrasse waren durch hohe Ziegelmauern abgegrenzt. Über einen Essigbaum konnte ich dennoch über eine der Mauern klettern, auf der anderen Seite auf die dort abgestellten Koloniakübel steigen, um auf diese Weise über den fremden Hof und dann über den Hausflur in die Baumannstraße zu gelangen. Öfters benutzte ich diesen komplizierten Weg, um auch wieder zurückzukommen, denn es war mein Weg, mein persönlicher Geheimweg! Ich wunderte mich immer, warum diese kleine Sackgasse als Straße bezeichnet wurde. Hier war auch die kleine Kohlenhandlung des Herrn Wegscheidler von dem wir unseren Koks bezogen. Als in den 1980er-Jahren der Sünnhof renoviert wurde, gestalteten die Architekten einen hübschen Durchgang am Ende der Baumannstraße. Jetzt gelangt man auch von hier in den wunderbaren Sünnhof.
In den 1960er- Jahren spielte manchmal im Hof der Ungargasse 9 ein Kriegsversehrter mit seiner Geige auf. Die Fenster öffneten sich und die Bewohner lauschten den Klängen. Nach Vorstellungsende wurden ein paar Münzen in ein Papier geknüllt und hinuntergeworfen.
Da das Große Haustor mit den Löwenköpfen tagsüber unversperrt war, kam es auch vor, dass Bettler an den Haustüren klopften. Einer von ihnen kam eine zeitlang regelmäßig an unsere Tür. Meine Mutter gab ihm dann einen Teller Suppe, ein Stück Brot und einen unserer schweren Silberlöffel. Der Mann aß die Suppe am Gangfenster, putzte den Teller schön aus, klopfte wieder, um sich zu bedanken und gab den Teller und den Löffel wieder zurück.
Jahre später läutete es wieder bei uns. Es war ein anderer Bettler. Meine Mutter lief schnell in die Küche und schmierte ihm ein Butterbrot. Als meine Mutter später einkaufen ging, pickte das Butterbrot an der Wohnungstüre! Er hatte sich wohl Geld erwartet.
Der Roman „Malina“, der 1971 von Ingeborg Bachmann geschrieben wurde, war bei uns zu Hause kein Thema, da wir von dessen Existenz nichts wussten. Erst ungefähr 15 Jahre später ist mir das Buch in die Hände gefallen, nichtsahnend wie genau unser Haus und die ganze nähere Umgebung beschrieben wird. Im Roman wird sogar eine Begegnung mit einem Mann beschrieben, die auf meinen Vater passen würde. Auch die Nationalbibliothek wird öfters erwähnt, in der mein Vater hauptberuflich als Bibliothekar und Referent für Arabistik und Orientalistik tätig war. Er hat hier auch den Katalog der arabischen Handschriften erstellt.
1979 habe ich selbst (über eine Zeitungsanzeige und nicht über meinen Vater) einen Job in der Nationalbibliothek als Magazineur angenommen. Vorübergehend wie ich dachte. Anscheinend habe ich mich nicht ungeschickt angestellt und bin dann bald in den Benutzerbereich überstellt worden.
1981 wurde ein C-Posten in der damaligen Theatersammlung frei. Ich durfte dort die Fotosammlung betreuen. 1991 übersiedelte die Theatersammlung in das für uns renovierte Palais Lobkowitz am Lobkowitzplatz (auch dieser Platz kommt in dem Roman vor!). Von nun an war das Theatermuseum ein eigenständiges Bundesmuseum, bis es 10 Jahre später dem Kunsthistorischen Museum unter Wilfried Seipel angegliedert wurde. Es war eine politische Entscheidung, die ich bis heute für falsch halte. Bis zu meiner Pensionierung im heurigen Frühjahr war ich dort der Leiter der Fotografischen Sammlung.
Hier unten, zwei Stufen hinauf, am Anfang des Ganges zum Stiegenhaus. Ein in den Boden eingelassener Gusseiserner Fußabstreifer mit dazugehörigem Haltegriff in der Wand. Offenbar war er früher nützlich, um den Strassengatsch oder Schneematsch loszuwerden.
Ein Stück weiter, an der Bassena. Ich erinnere mich, dass zweimal im Jahr ein Scherenschleifer kam. Hier stellte er sein Tischchen mit Schleifscheibe auf, die er, auf einem Schemel sitzend, mit dem Fuß in Schwung brachte. Für wenig Geld konnten die Hausbewohner ihre Messer und Scheren schleifen lassen.
Als ich in das schulreife Alter kam, gaben mich meine Eltern in das Francais Lycee in der Liechtensteinstraße. Der Schulbus fuhr morgens bei einer Haltestelle beim Rochusmarkt ab und abends spuckte mich der Bus dort wieder aus. Zweimal am Tag durchlief ich also den Sünnhof, der damals ziemlich verwahrlost war. Er war ein halbes Jahr lang mein Schulweg, bis mich meine Mutter aus dieser Schule wieder herausnahm. Es herrschte dort die Macht der Stärkeren und ich hatte keine Chance mich durchzusetzen, bis ich zum Bettnässer geworden bin. Erzählt habe ich zu Hause nichts, bis ich einmal mit aufgeschlagener Stirn über dem Auge und nasser Hose nach Hause kam. Nahtlos kam ich dann, mitten unter dem Jahr, in die Volksschule Kleistgasse. Dort ging es mir besser.
Schräg vis à vis von unserem Haus war die Straßenbahn-Haltestelle des O-Wagen. Fünf Stationen die Ungargasse hinauf, dann die Fasangasse, Station Kölblgasse, noch 5 Minuten Fußweg und ich war da. 50 Groschen kostete ein Kinderfahrschein damals. Irgendwann wurde der Preis auf einen Schilling verdoppelt. Ich hörte, wie meine Mutter zum Vater sagte: Jetzt müssen wir dem Haris immer 2 Schilling für die Straßenbahn mitgeben! Ich fühlte mich schuldig.
Später dann, im Gymnasium Stubenbastei. Die Ungargasse hinunter, durch den Stadtpark über die Holzbrücke, die eigentlich eine Behelfsbrücke der im Krieg zerstörten Brücke war, beim Ententeich vorbei zum Stubenring, Luegerplatz mit dem Denkmal des antisemitischen Wiener Bürgermeisters, ein paar Schritte noch und ich war wieder in der Schule. Manchmal bin ich gemeinsam mit meinem Vater gegangen, er hatte ja fast den gleichen Weg zur Nationalbibliothek.
Nach der Schule haben meine Kameraden und ich auch manchen Unfug betrieben. Am Ring haben wir 10-Groschen Stücke auf die Geleise der Straßenbahn gelegt. Danach waren sie schön platt! Im Winter haben wir auf dem zugefrorenen Ententeich Rutschbahnen angelegt. Wer am weitesten mitAnlauf schlittern konnte! Eine Mutprobe war, im Auslasskanal des Teiches, ein unterirdisches Rohr mit vielleicht 60 Zentimeter Durchmesser welches in das Bett des Wienflusses mündete, durchzukriechen. Das Rohr hatte eine Länge von etwa 30 bis 40 Metern und verlief in einer Biegung, sodass man kein Licht am Ende des Tunnels erkennen konnte. Es war stockfinster! Ich glaube, ich warder Einzige, der sich das getraut hat! Wenn dann am Heimweg noch ein paar Groschen übrig waren, kaufte ich mir in der Bäckerei, Ecke Ungargasse/Beatrixgasse ein paar Stollwerk-Zuckerl um 10 Groschen das Stück.
Die Häuser damals waren alle grau in grau und im Winter roch es in der ganzen Stadt nach verbrannter Kohle. In manchen Gegenden gab es Häuser, wo man noch Einschusslöcher vom Krieg ausmachen konnte. Dort wo man durch Bombentreffer Häuser abreißen musste, blieben oft noch jahrelang Baustellen zurück, bis die Lücken dann doch irgendwann geschlossen wurden.
Im heruntergekommenen Sünnhof gab es die liebenswürdige alte Frau Hutzler. Sie betrieb eine kleine, ebenfalls schäbige Greisslerei. An der alten Fassade gab es etliche Reklameschilder aus Email, die heute vermutlich ein kleines Vermögen wert wären. Hier wurde in den Sechzigern hauptsächlich eingekauft. Vor allem Milch, Brot, Butter und Eier. Diese Lebensmittel waren immer zu Hause und gingen nie aus. Anfang des Monats bekam Frau Hutzler von meiner Mutter Zweihundert Schilling oder so und die Kinder wurden meistens täglich dahin geschickt, um einzukaufen. Frau Hutzler rechnete jedesmal ab und wenn das Geld aufgebraucht war, wurde angeschrieben. So war das damals.
Ähnlich auch bei Frau Helene, die Trafikantin in der Ungargasse, gleich links im Nebenhaus. Meine Mutter kaufte dort ihr Päckchen Zigaretten, Austria C, und deponierte es dort. Sie holte sich die Zigaretten dann immer einzeln, um nicht so viel zu rauchen. Später musste meistens ich hinunterlaufen, um ein oder 2 Stück zu holen. Irgendwann ließ ich mir gleich mehrere Zigaretten aushändigen, nicht um sie selbst zu rauchen, sondern ich versteckte sie in der Wohnung, um sie gleich parat zu haben, wenn es wieder einmal so weit war.
Mutter von Harís Balic
Gleich links neben der Trafik gab es den Herrenfriseur, den mein Vater gerne aufsuchte. Meine Mutter hat dann oft geschimpft, weil der Friseur, dessen Name ich nicht mehr weiß, meinem Vater wieder einmal eine unmögliche Frisur verpasst hat. Als Bub musste ich auch manchmal hin. Ich sah danach nicht viel besser aus als mein Vater! Einmal hat mich der Friseur beim Ausrasieren der Schläfen mit dem Rasiermesser etwas geritzt. Um die Stelle zu desinfizieren, nahm er aus dem Aschenbecher ein abgebranntes Zündholz, um den Schwefel auf meiner Wunde zu verteilen! Ich war tapfer!
Den Friseurladen gibt es immer noch, allerdings mit einem neuen netten Friseur, wie ich heute beim Interview mit Walter Pobaschnig erfahre. Wir plauderten kurz mit ihm und er erzählte uns, dass er Frau Helene, die Trafikantin noch kannte. Die arme Frau wurde in den 1980er-Jahren dreimal überfallen und einmal musste sie mit einer schweren Kopfverletzung ins Spital. Das hielt sie aber nicht davon ab, noch am gleichen Tag mit „Turban“ weiterzuarbeiten!
Haris Balic mit Herbert Weber, Friseur_Friseurgeschäft_Ungargasse
An der Ecke zur Beatrixgasse, schräg vis à vis von der Bäckerei, gab es noch eine Einkaufsmöglichkeit, das Delikatessengeschäft Laszakovits. Es war dort teuer, aber das Brot haben wir dann doch dort gekauft, ein wunderbares Brot der Firma Schrammel. Die Ladenbesitzer, ein Ehepaar hatten einen Sohn in meinem Alter, mit dem ich auch manchmal spielen durfte. Obst und Gemüse wurde am
Rochusmarkt oder in der so genannten „Gemüsehalle“ in der Invalidenstraße/Landstraße gekauft. Hier war ich gerne. Es gab hier auch einen Gewürzgroßhändler, der seine Waren offen feilbot. Die Gerüche hier waren umwerfend. In der gegenüberliegenden, im gleichen Backsteinstil gebauten „Fleischhalle“ war es grauslich. In der ganzen Halle roch es nach Blut. An den Wänden hingen ganze Rinder- und Schweinehälften, auch Wild, Rehe, Hasen und Fasane. Meine Nase vergrub ich in den dicken Pelzmantel meiner Mutter. Das half ein wenig. Trotzdem aß ich dort am Würstelstand meine ersten „Frankfurter Würstel“, die mir meine Mutter gekauft hatte! Die haben wunderbar geschmeckt! Daheim, in einem muslimischen Haushalt, gab es ja so etwas nicht! Schweinefleisch war für meinen Vater ein absolutes NoGo! Meine Schwester Dagmar hat sich mal heimlich ein ½ Kilo Schweineschmalz gekauft. Na, das war ein Theater!
Im Keller hatten wir ein Abteil, wo unsere Kohle bzw. der Koks eingelagert wurde. Der Kohlenhändler bzw. sein Mitarbeiter brachten die „Ware“ in riesigen Jutesäcken am Buckel und schleppten sie hinunter. Es kam immer wieder vor, dass wir einen unerklärlichen Kohleschwund hatten, und mein ältester Bruder legte sich sogar einmal nächtens im Keller stundenlang auf die Lauer. Vergebens. Es passierte nichts.
Später wurde unser Dauerbrandofen vom Wohnzimmer in das große Zimmer verfrachtet und das Wohnzimmer, welches immer elegant als „Salon“ bezeichnet wurde, bekam einen hässlichen keinen Ölofen. Links in der Ecke neben dem linken Fenster des großen Zimmers, das zu diesem Zeitpunkt ja mein Zimmer war, wurde ein 1000 Liter fassender Öltank aufgestellt. Davor stand mein Bett. Damals hat es mich nicht gestört. Jedenfalls kam im Herbst der Tankwagen und der Jahresölbedarf wurde von der Ungargasse hinauf in den 3. Stock gepumpt!
Nachdem Walter und ich den Keller besichtigt und dort auch ein paar schlafende Fledermäuse entdeckten – es ist dort noch immer alles so wie vor 50 Jahren, nur die Lichtleitungen wurden erneuert – gehe ich mit Walter langsam die Stufen hinauf und erzähle, zeige ihm die abgetreten Stufen, die mir schon als Kind gefallen haben. Die Travertiner Bodenplatten, manche von ihnen habe ich auf Grund der besonderen Musterung gleich wieder erkannt, gab es anfangs auch noch in unserer Wohnung im Vorzimmer und in der Küche erinnere ich mich vage. Später wurden sie auf Geheiß meiner Mutter von meinen Brüdern abgetragen und auf dem Dachboden deponiert. Vermutlich liegen sie heute noch da.
Die schöne Abtrennung zwischen dem Vorzimmer und der Küche, die aus einer Holz-und Glaskonstruktion mit Schiebetür bestand, wurde abgerissen. Es wurde dann ein Raum daraus in dem ein Estrich betoniert wurde und darüber kam ein Linoleumboden. Schade eigentlich, aber man wollte dann doch irgendwie modern sein, so wie die neue „Amerikanische Küche“, die von einer Firma aufgestellt wurde.
Im Badezimmer wurde eine neue Zanker-Waschmaschine aufgestellt, ein Riesen Trumm mit von oben befüllbarer Wäschetrommel und einer integrierten – auch von oben zu befüllenden Wäscheschleuder! Beim Schleudern hat es immer fürchterlich gerumpelt! Oft ist sie auch übergegangen und wir hatten eine Riesen-Überschwemmung! Aber viel besser als Wäschewaschen mit Waschrumpel in der Badewanne! Als die Maschine nach vielen Jahren endlich kaputt wurde, stellte man sie zum Fenster am Gang, wo der Bettler seine Mahlzeiten einnahm und meine Mutter die Schuhe putzte. Als meine Eltern 1980 aus dem Haus und aufs Land zogen, stand die Waschmaschine noch immer dort.
An Regentagen im Sommer war es oft üblich die Wohnungspflanzen, und wir hatten viele davon, vom dritten Stock hinunter in den Hof zu schleppen, um ihnen eine Regendusche zu gönnen. Manchmal blieben sie auch ein paar Tage dort stehen, weil man musste sie ja auch wieder hinaufschleppen.
Ebenso unsere Teppiche, die mindestens drei- bis viermal im Jahr über dem „Fußballtor“ ausgeklopft wurden. Das macht heute auch niemand mehr.
Im sogenannten „großen Zimmer“ das zur Ungargasse ging, hatte meine Mutter bei den beiden Fenstern wegen uns kleinen Kindern, Nadja und mir, Gitter anbringen lassen, damit nichts passieren kann. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, aber angeblich haben wir am Fensterbrett einen Striptease veranstaltet und unser komplettes Gewand durch die Gitterstäbe auf die Straße geworfen! Das war sicher lustig für uns!
Ein anderes Mal klopfte es an der Wohnungstüre, wir waren allein und trauten uns nicht die Tür aufzumachen, weil Nadja mit Hilfe eines Sessels durch den Türspion die Polizei erkannt haben wollte. Es war allerdings nur der Briefträger, die damals noch uniformiert durch die Gegend liefen!
Meine Schwester Dagmar hat 1965 geheiratet und ihre Tochter zu ihrer neuen Familie geholt. Schlagartig war ich plötzlich ein Einzelkind und meine Spielkameradin los! Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, ob ich darunter gelitten habe.
Im Haushalt habe ich oft mithelfen müssen. Geschirr abwaschen, Staubsaugen, Möbel und Bilder abstauben, Badezimmer putzen und sofort. Eigentlich habe ich es ganz gerne getan und bin heute froh darüber. Beim Kochen habe ich gerne zugeschaut und das Hendl ausnehmen hat mich fasziniert! Damals bekam man das Geflügel ja nur in komplettem Zustand, zwar gerupft, aber sonst noch mit allem dran. Manchmal hab‘ ich das tote Huhn gewürgt und es riss den Schnabel weit auf und mit den abgeschnittenen Krallenfüssen konnte man auch noch hervorragend spielen! Ich lernte wie der Magen entfernt und die Innenhaut samt Körnerinhalt abgezogen wurde. Ich sah die Leber, das Herz, die kleinen Nieren und die Gallenblase, die niemals verletzt werden durfte, weil der Inhalt das Huhn vermutlich ungenießbar gemacht hätte. Jedenfalls wurde aus den Innereien inklusive des gewürgten Halses immer eine gute Suppe gemacht!
Haris Balic _ Ungargasse
Über Facebook bin ich über Hannes Laszakovits gestolpert, der Junge aus dem Delikatessenladen. Er hat keine Erinnerung mehr an mich. Er ist Musiker geworden und ich werde mich demnächst mit ihm treffen!
Haris Balic_Kurator/Archivar_Theatermuseum _ Wien _ im Garten des Hauses seiner Kindheit _ Ungargasse 9 _ Romanschauplatz Malina
Herzlichen Dank, lieber Haris, für diesen ganz besonderen Beitrag zum Romanjubiläum „Malina“! Es war eine große Freude mit Dir in das Haus Deiner Kindheit zurückzukehren und Deine so lebendigen Erinnerungen zu hören und auch zu sehen!
Ich wünsche Dir viel Glück und Freude im neuen Lebensabschnitt!
50 Jahre Malina _ Roman _ Ingeborg Bachmann _ im Gespräch und Fotoporträt:
Haris Balic, Kurator/Archivar_Theatermuseum
Station bei Ingeborg Bachmann_Malina.
Alle Fotos_Familie Balic/Hausgeschichte _ Haris Balic.
Interview und alle Fotos Porträt_Walter Pobaschnig _Wien_10_2021.
Lieber Thomas, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Der Wecker klingelt. Ich wache auf und brauche ein paar Augenblicke, bis ich mich orientieren kann. Umrisse und Geräusche verraten, ob ich zu Hause bin oder unterwegs. Morgendliche Stille oder schnarchende Bandkollegen, der vertraute Bücherstapel neben dem Bett, fremde Haustiere oder beliebig austauschbare Hotelzimmer. Seit ich mir vor Kurzem ein kleines Stück vom Schneidezahn am Mikrofon rausgeschlagen habe, untersuche ich mein Gebiss vorm Badezimmerspiegel nach neuen Schäden. Alle Zähne da, alles gut.
Erfreulicherweise finden wieder Konzerte statt, dazu kommen Lesungen aus meinem neuen Roman „Pop ist tot“. Somit ist das Wochenende meist verplant. Mit Autofahrten, Soundchecks, Begegnungen und Punkrock. Unter der Woche bin ich Frühaufsteher wider Willen, beantworte Mails und verbringe den Arbeitstag im Büro. Am Abend bereite ich mich auf anstehende Termine vor. Fürs Schreiben bleibt da wenig Zeit. Also bleiben die Texte und Songs in mir, bis sie die Zeit einfordern, die ich ihnen im Moment nicht geben kann.
Thomas Mulitzer _ Schriftsteller, Musiker
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Mit Ratschlägen an alle tue ich mir schwer, aber vielleicht ist das, was mir wichtig ist, bzw. das, was ich glaube, was für mich jetzt wichtig ist, auch für andere relevant: Sich auf das Wesentliche konzentrieren, Ballast abwerfen und das Gleichgewicht bewahren. Rücksichtsvoll und achtsam sein, dazulernen, sich verändern. Nie so bleiben, wie man ist.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Musik, der Kunst an sich zu?
In der Lockdown-Zeit war Literatur für mich vor allem eine Flucht vor der Realität. Als die Welt verrücktspielte, habe ich mich literarischen Welten zugewandt, um nicht den Halt zu verlieren. Die waren irgendwie plausibler. Allem Eskapismus zum Trotz muss Kunst ihren Finger in die Wunden unserer Zeit legen und kräftig umrühren. Sensibel sein für das, was sich tut, und unbarmherzig sein beim Benennen. Eines ist klar: Kunst ist eine Notwendigkeit.
Was liest Du derzeit?
Roberto Bolaño, Jens Rachut, Gertraud Klemm.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Ich denke, dass ich sagen will, dass Kafka verstand, dass die Reisen, der Sex und die Bücher Wege sind, die nirgendwo hinführen, und dass sie nichtsdestotrotz Wege sind, die man beschreiten und in denen man sich verlieren muss, damit man sich wiederfindet oder damit man etwas findet, was es auch sei, ein Buch, eine Geste, ein verlorenes Objekt, damit man irgendetwas findet, vielleicht eine Methode und mit Glück: Das Neue, das, was schon immer da war.“ (Roberto Bolaño)
Thomas Mulitzer _ Schriftsteller, Musiker
Vielen Dank für das Interview lieber Thomas, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Musikprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Liebe Roxana, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Der ist jeden Tag ein bisschen anders, er beginnt jedoch meistens damit, dass ich mich mehr schlafwandelnd als wach an meine am Herd stehende Bialetti Kaffeekanne blind herantaste, um mir einen Kaffee zu machen. Ich genieße diese Zeit sehr, umgeben von der Stille, die nur durch das Bruzzeln der Kaffeemaschine und dem Vogelgezwitscher unterbrochen wird. Fast schon meditativ gibt mir dieses Morgenritual die Zeit, mich in meiner Mitte zu festigen und für den Tag vorzubereiten. Nachdem ich mein schwarzes Lebenselixier zu mir genommen habe, wärme ich meinen Körper mit Workouts und Stretching auf, gefolgt von einer Dusche und meinen anstehenden Terminen. Oder – wenn mich die Muse packt – setze ich mich an meinen Schreibtisch und arbeite an meinen diversen Film- bzw. Theaterprojekten.
Roxana Stern, Schauspielerin, Regisseurin und Cutterin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die Begegnung in Respekt und Toleranz – aber vor allem Empathie. In Zeiten wie diesen finde ich es besonders wichtig, Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, Informationen zu sammeln, zuzuhören und dann erst zu handeln. Je mehr wir wissen, desto besser können wir agieren und reagieren. Noch wichtiger fände ich es jedoch, systemrelevanten Berufen, die uns durch die Pandemie getragen haben und immer noch tragen, nicht nurmehr finanzielle Mittel zu Verfügung zu stellen, sondern vor allem die Begegnung auf Augenhöhe zu etablieren. Explizit betrifft das das medizinische Personal, Angestellte im Bereich des täglichen Bedarfs, aber auch und nicht zuletzt Künstler, die durch Entertainment und Anregung unsere Sinne befeuern. Ich habe immer noch das Gefühl, dass all diese Menschen immer etwas belächelt bzw. nicht genügend wertgeschätzt werden. Da können wir uns noch so viel an die Fenster stellen und klatschen, Fakt ist, dass man von dieser Art von Wertschätzung weder Essen kaufen kann, noch Personal entlastet.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Schauspiel, der Literatur, der Kunst an sich zu?
Immer zu hinterfragen, selbst wenn wir glauben, richtig zu liegen. Und das im sozialkritischen, aber vor allem im politischen Kontext. Etwas das nicht nur in der Verantwortung von Einzelpersonen und unserer Gesellschaft im Allgemeinen liegt, sondern vor allem in der Kunst und Kultur. In der Kunst haben wir die Freiheit aus unserer Bubble auszusteigen und Stereotypen und Mauern zu durchbrechen, Szenarios zu er- und durchleben und somit die Fehler unserer selbst kreierten Systeme aufzuzeigen.
Was liest Du derzeit?
Die Frage ist eher, was lese ich nicht gerade, haha … im Moment sind es viele Skripten von verschiedenen Projekten. Dennoch lese ich auch Bücher in meiner wenigen freien Zeit, die mir noch übrigbleibt. Da ich mir immer Notizen mache wenn ich ein Buch lese – sei es ein Roman, Fachliteratur oder Gedichte – ist es nicht schwierig für mich, mehrere Bücher parallel zu lesen. Auf diesem Wegkann ich meiner Intuition folgen, welches Buch gerade das ist, das ich in die Hand nehmen sollte. Ein Blick auf meine Notizen und ich kann dort anknüpfen wo ich aufgehört habe.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Lehrt euren Kindern nicht nur das Lesen. Lehrt sie, das Gelesene zu hinterfragen. Lehrt sie, alles zu hinterfragen.“ – George Carlin. Meine Eltern haben immer zu mir gesagt „Hör mit den Ohren der Toleranz. Sieh durch die Augen des Mitgefühls. Sprich die Sprache der Liebe.“ – Rumi
Vielen Dank für das Interview liebe Roxana, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Film-, Schauspielprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Roxana Stern, Schauspielerin, Regisseurin und Cutterin
… dass wir diesen riss, der sich grad durch unsere gesellschaft gräbt, nicht noch weiter einreißen lassen
… dass wir auch die leisen & lauten grautöne, die zwischen schwarz & weiß, ganz zu schweigen von den vielen farben …
… dass wir achtsam … miteinander …
… dass wir andere meinungen gelten lassen & nicht gleich menschen verachten, die nicht in unserer echokammer …
… dass wir da einfach nicht mitmachen, bei diesem spaltenlassen & stattdessen zusammenhalten …
… dass wir dieses schlupfloch & aus unseren blasen finden …
… dass wir utopien realität …werden … lassen …
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, dem Theater, der Kunst an sich zu?
seismograph & kassandra zu sein vor allem aber dialogpartner*in …. mit offenen augen, armen & herzen …
Was liest Du derzeit?
na ja, sagen wir so: es liegen bücher auf meinem toread-stapel, die quasi mehr oder weniger in progress sind 😉
Vielen Dank für das Interview liebe Renate, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Theaterprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!