Lieber Kristian Kühn, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Früh aufstehen, obwohl ich Langschläfer bin, um so gegen 9 Uhr morgens (oder später) am Schreibtisch zu sitzen und für die Signaturen am Täglichen zu arbeiten.
Ab frühem Nachmittag privat Liegengebliebenes, Bürokram, Einkäufe tätigen, danach sind, wenn ich gut drauf bin oder es dringend zeitlich muss, die eigenen Texte dran, seien diese für mich oder für die Signaturen geplant.
Gelegentlich besuche ich auch dann Lesungen oder andere Veranstaltungen. Schreiben und leichte Gartenarbeit, wie Lutz Seiler es kürzlich ironisierend bemerkte. Wobei ‚leichte Gartenarbeit‘ für mich bereits ein bisschen Bewegung wie Müllwegbringen oder leichte Spaziergänge bedeutet.
Kristian Kühn, Schriftsteller
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich weiß nicht so genau, wer wir alle sind. Weil ich ein ziemlicher Einzelgänger bin, blicke ich auch ziemlich punktuell auf andere. Und könnte da sagen, was mich bei Einzelnen stört, was ich bei anderen bewundere. Letztlich mache ich inhaltlich die Signaturen jetzt seit zehn Jahren, ja, am 6. Juni 2023 sind es genau zehn Jahre, und da hat sich innerhalb der Lyrikszene sehr viel geändert. Bis etwa 2016 kann man hier im Netz einen allgemeinen Versuch beobachten, einen minimalen Zusammenhalt zu wahren und an einem Strang zu ziehen, der sich allerdings in mehrere entflicht. Ein Beispiel dafür ist die damals intensive Frage nach einer besseren Qualität von Lyrikkritik. Man suchte – trotz aller Gegensätze – nach einem Konsens für Planung. In abgeschwächter Form kam es 2018 noch einmal dazu, wurde aber nicht aufgearbeitet, unter anderem nicht nur, weil niemand dazu Lust hatte, sondern auch weil die Beiträge sich kaum noch inhaltlich zusammenbringen lassen konnten. Stattdessen polarisierten politische Invektiven, moralisierende Forderungen, gesellschaftliche Unruhe immer mehr, sodass sich der Kulturkrieg der USA zunehmend auch auf Europa sprich Deutschland übertrug und drei Lager manifestierte, mal von dem Sonderweg feministischer Einwirkungen abgesehen, die kaum noch sich gegenseitig auf einem Blatt ertragen – gattungsmäßig die Moderne, die Postmoderne und als neuer Mitstreiter eine Art Antimoderne, die nur noch eine Ebene sieht, das Diesseits mit den Mitteln der Aufklärung, der Technik und der physischen Weiterentwicklung hin zu einem neuen Menschenbild im Hier und Jetzt, sei dieses der Cyborg-Weg, der sozialistische oder ein matriarchaler oder Mischformen dieser Tendenzen. Dagegen die Postmodernen, die ein gewisses „Mit-ohne-Mit“ (einer doppelten Schönheit) zulassen bzw. zumindest mit ihrer Non-Existenz oder Faltung oder Dekonstruktion literarisch spielen. Und als überholtes Modell, das den Menschen in ein Spannungsfeld zu einer anderen (geistigen) Ebene setzt, die Moderne und ihre Enttäuschungen. Dieses Bild ist auch politisch nachzuvollziehen, autokratisch autonomes Schreiben versus demokratisches Schreiben in Schreibgruppen, in Spontanlesungen, in Ausschreibungen, Verteilung der Preise an alle, usf., und auch kulturell, zwischen Kunst und Kulturalismus, kurzum: der Kampf zwischen diesen Weltanschauungen wird größer, ein Verdrängungswettbewerb von der Atomkraft zur Wärmepumpe, auf allen Ebenen, um jeden Preis. Einige verstummen, weil sie den Druck nicht aushalten (wollen), andere werden übergriffig. Nun pfeift auch noch die KI neuen Wind hinein und treibt zu einer „letzten Entscheidung“, sei diese militärisch, bei den Wahlen oder auf dem Papier – und ich? Wo bleibt das Ich im Kriegsgewirr? Ich sage: diesen Krieg entscheiden wir in uns selbst – jedes Ich im Blickfeld des inneren Spiegels zu sich selbst. Doch Lyrik als Demagogie ist die größte Gefahr hier bei uns, hier in Deutschland sowieso und auch Österreich.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Es ist ein Spagat für viele. Vor allem, wenn man auf der einen Ebene autokratisch und auf der anderen demokratisch ist bzw. sein möchte. Ich denke, gerade in der Literatur kann oder sollte man durchaus zur Polarität stehen und, solange sie das Ich nicht zerreißt, Dialektik zu Rate ziehen. Die Literatur sollte dennoch aufhören, Dinge metaphorisch zu vernebeln, neuen Heldenmut vortäuschen, derweil die Pantoffeln der Subvention angezogen werden, um Ratlosigkeit oder das eigene So-Tun-Als-Ob zu verschleiern, die eigene Meinungslosigkeit oder Herzensunlust mit lyrischen Mitteln „metonymisch zu moralisieren“. Am schlimmsten: Verlogenes Pathos, da rate ich dringend, Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen zu lesen, um nicht ins Schwülstige oder Lächerliche zu verfallen. Denn wer kann erhaben schreiben, ohne erhaben zu sein?
Was liest Du derzeit?
Ich frage mich, warum Imagination immer wieder am eigenen Knoten aufhört, lebendig zu werden und dann auch – sich ausbreitend – zu wirken. Warum es heute funktioniert und morgen nicht. Wie man das Lebendige transportieren kann über Zeiten, Räume und Personen, und lese Werke über Imagination sehr verschiedener Art, von Ted Hughes‘ „Wie Dichtung entsteht“ bis Nicholas Roerich: „Shambhala – das geheime Weltzentrum im Herzen Asiens“ oder James Bogans „Blake’s City of Golgonooza in Jerusalem: Metaphor and Mandala“ – weil ich herausfinden will, wie man die Löchrigkeit imaginierter Bilder stabilisieren könnte, mit erlernbaren Mitteln. Anders: Ob und wie Sprache auf den Körper wirkt.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Anna Breitenbach: Der Himmel
Etwas heruntergekommen,
aber immer noch: Himmel
unbenommen.
(in Anna Breitenbach: Dichte Nähe. Körper, Wörter, Wirkstoffe. Konkursbuch, 2023)
Vielen Dank für das Interview lieber Kristian, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Zur Person_Kristian Kühn, Drehbücher, Prosa, Lyrik. Essays. Seit 2010 Mitorganisator des Lyrikpreises München. Seit 2013 Herausgeber des Online-Magazins Signaturen. https://signaturen-magazin.de/ Wohnt in München.
Foto_privat.
21.5.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
Valeria Gordeev, Schriftstellerin, Illustratorin _ Berlin
Liebe Valeria Gordeev, herzliche Gratulation zur Bachmannpreisnominierung!
Herzlichen Dank.
Wie und wann hast Du von Deiner Nominierung erfahren? Was war Deine erste Reaktion? Wie wird jetzt gefeiert?
Insa Wilke gab mir schon bald nach der Einreichung meines Textes Bescheid, ich musste also zum Glück nicht lange warten. Erst danach habe ich mich gefragt, ob ich wirklich bereit dazu bin bzw. ob ich mir die Teilnahme im Moment überhaupt erlauben kann, da ich doch eigentlich daran arbeite, meinen Roman abzuschließen. Ich habe in dieser Zeit gerade einen Monat im Mare-Künstlerhaus in Wentdorf bei Hamburg verbracht und bin dort durch das ganze In-mich-hinein-Horchen und nach »Zeichen«-Ausschauhalten bei einem Spaziergang im benachbarten Sachsenwald in einen Bach gefallen (es hatte stark geregnet, ich wollte das Ufer überqueren und rutschte ab). Dass ich mich trotzdem für den Wettbewerb entschieden habe, beweist, wie wenig hilfreich diese hin und wieder in Entscheidungssituationen aufkommende Zeichengläubigkeit ist, schließlich hätte ich ja wohl kein eindeutiger gegen eine Teilnahme sprechendes Zeichen erwarten können als einen Sturz in einen Bach(mann), der mich bis zur Hüfte mit Schlamm bedeckte (aus dem Schlamm ziehen wäre als Entscheidungshilfe auch völlig akzeptabel gewesen), und trotzdem habe ich mich dafür entschieden. Jetzt freue ich mich darauf, sogar sehr. Was für ein Irrsinnsspektakel, schade, dass ich nicht selber vor dem Fernseher sitzen kann. Letztlich überzeugt hat mich die Aussicht, einen bei der Einreichung noch ganz jungen, nur wenige Tage alten Text des Romans in Rahmen des Wettbewerbs vergleichsweise schnell zur Veröffentlichung zu bringen, langsam verliere ich nämlich die Geduld. Gefeiert habe ich noch nicht, gut, dass Sie mich daran erinnern!
Mit welchem Text kommst Du nach Klagenfurt?
Es ist ein Text aus einem neuen Teil meines Romans, das heißt eigentlich das Verbindungsstück zu diesem neuen Teil, den ich lange aufgeschoben habe und jetzt endlich auch schreibe. Ich würde gerne noch mehr davon erzählen, darf das aber vermutlich nicht, schließlich werden die Texte ja erst bei der Lesung veröffentlicht. Nur so viel: Er spielt Anfang der Nullerjahre, arbeitet unter anderem mit Humor und umfasst insgesamt 2913 Wörter (was auf dem Kopf stehend, in den Taschenrechner eingetippt, das Kürzel ELGZ ergibt, möge mir jemand sagen, was das bedeuten soll), der letzte Buchstabe ist ein R, der erste ein E.
Die Lesung ist wesentlicher Teil der Textpräsentation. Welche Performance dürfen wir da von Dir erwarten?
Gute Frage, darüber werde ich mir noch Gedanken machen. Ich versuche, noch ein, zwei Wochen intensiv zu schreiben und widme mich dann der Lesung. Ich mag das monoton Vorgetragene, finde, dass ein Text dadurch mehr als Text wahrgenommen werden kann. Dagegen kann ich szenisch interpretierten, von geschulten Schauspieler*innenstimmen vorgetragenen Texten oft nicht folgen, für mich steht dann mehr die Sprechweise der Schauspieler*in im Vordergrund, aber da gehen die Meinungen ja auseinander. Pausen sind wichtig, Wechsel in der Geschwindigkeit.
Wie sieht Deine Vorbereitung jetzt aus?
Ich esse viel und treibe Sport.
Auf was freust Du Dich schon besonders?
Auf die anderen Lesenden, auf das Kennenlernen der Jury, und vielleicht, das wäre schön, auch auf die eine oder andere neue Freundschaft. Auf die Zugfahrt mit der Österreichischen Eisenbahn. Auf das Schwimmen im Klagen- und Wörthersee, hoffentlich wird in meinem Koffer noch genug Platz sein, um Flossen mitzunehmen und blitzschnell wie ein Delphin das türkisblaue Wasser durchschwimmen zu können.
Vielen Dank für das Interview! Viel Freude und Erfolg in Klagenfurt!
Danke.
Bachmannpreis 2023 Teilnehmer:innenvorstellung:
Valeria Gordeev, Schriftstellerin, Illustratorin _ Berlin
Zur Person: Valeria Gordeev ist Autorin und Illustratorin und arbeitet gegenwärtig an ihrem Debütroman. Darin beschäftigt sie sich unter anderem mit einem fiktiven Forschungslabor, das sich der Konservierung des Leichnams Lenins widmet, aber auch anderen, das biologische Leben und Sterben betreffende Fragen auf den Grund zu gehen versucht.
Sie studierte Mathematik, Illustration und Art in Context in Berlin und Literarisches Schreiben in Leipzig. Für ihre schriftstellerische Arbeit erhielt sie Auszeichnungen: 2022 den Preis der Floriana Biennale für Literatur, 2021 eine Nominierung für den Alfred-Döblin-Preis, 2020 ein Stipendium des Landes Brandenburg und des Landes Baden-Württemberg, sowie andere Förderungen (die Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Kolloquiums Berlin, die Schreibwerkstatt Edenkoben), die ihr sehr geholfen haben. Die Recherche für ihren Roman wurde durch das Grenzgänger-Programm unterstützt, allerdings konnte sie die geplante Reise nach Moskau durch den fürchterlichen Krieg nicht antreten. Zeichnungen sind im Guggolz-Verlag erschienen, dort übernimmt sie des Öfteren die Cover-Illustration.
Bachmannpreis 2023
Von 28. Juni bis 2. Juli finden die 47. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt statt.
Ich wollte immer und will, weil ich es nicht wie viele andere tun kann, Freundlichkeit finden, beobachten, was von Wert scheint.
Von den Nachrichten mich am Menschsein schämen müssen, oder aufsteigenden Zorn, gleichsam eine Schwellung im Hals beim Schlucken, empfinden?
Es reflektiert im Grunde und im Endeffekt nur die Bewusstwerdung, dass ich auch einen schwachen Geist haben könnte, der nur zu Verwirrung führt.
Perspektivenwechsel einfließen lassen.
Eine schriftliche Überlieferung bliebe aber immer unvollständig, weil die Schrift das Spüren von lebendiger Angst verhindert.
Angst habe ich, würde ich sagen, weil ich seit jeher nicht weiß, wie man auf etwas wie brutale Aggression zu reagieren hat.
Cortex beherberg die Spielwiese der Seele.
Ereignisse-durchkreuzt, die unheimlich plötzlich und schnell ablaufen.“
Aber, trotz der aktuellen guten Versorgung – die effektive reale oder die mutmaßliche – hat man eine befristete Zeit, und diesbezüglich keine Verträge, die eine entscheidende Rolle spielen.
Chronische Migräne? oder ist es eher ein Kopf-Zerbrechen.
Horchens-Zustand, des betrachtenden Nachdenkens, aber auch im Begriff des uns Aufmachen-Wollens, des Hinein- und des Herausschreiten-Sollens.
Aber gemeinsam und im Ganzen könnten wir, wenn nur wir wollten, eine eigenwillige Frucht bilden.
Nach der Art, dass abrupt die Kerne des Granatapfels einfallen, wo auch jeder Kern jedoch für sich lose wertvoll ist.
Charakter
Einmal wieder mit Zea ins Theater gehen – denn sowas tun andere Menschen, solche mit FRIEDVOLLER Kreativität, eben auch.
Ivo Rossi Sief,29.5.2023
Ivo Rossi Sief, Bildender Künstler, Schriftsteller
Give Peace A Chance_Akrostichon for peace:
Ivo Rossi Sief, Bildender Künstler, Schriftsteller
Lieber Andreas Wutte, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Im besten Fall nicht allzu früh aufstehen, etwas Text lernen, Kabarettprogramm schreiben, Musik hören, zur Theaterprobe fahren, am Abend Vorstellung spielen und den Abend mit guten Freunden und Kollegen, bei einem oder zwei Getränken und guten Gesprächen ausklingen zu lassen. Da mich aber noch kein Theater mit massenhaft Geld überschüttet hat, habe ich auch noch einen Teilzeitjob im Büro.
Dass ich aber schon einen Teil meines Lebens aus dem finanzieren kann, was mir wirklich am meisten Freude bereitet, nämlich der Kunst, bedeutet für mich Lebensqualität. Das passiert auch nicht von heute auf morgen und ist harte Arbeit. Dafür bin ich sehr dankbar.
An den anderen Tagen gehe ich ins Büro und erledigt dort meine Aufgaben. Das mache ich aber auch nicht ungern, vor allem, weil ich in einer großartigen Firma angestellt bin, wo ich flexibel sein kann und die stets auf meine Bedürfnisse als Künstler eingeht. Das ist auch nicht selbstverständlich.
Ich denke 95% der berufstätigen Bevölkerung möchte im tiefen Herzen gerne etwas anderes machen, entscheiden sich aber, aus welchen Gründen auch immer dagegen. Diese Gründe sind meistens durchaus nachvollziehbar. Ich bin jedoch sehr froh diesen Schritt ernsthaft gewagt zu haben.
Andreas Wutte, Schauspieler,Kabarettist, Sprecher
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die Floskel „Wir brauchen jetzt alle Zusammenhalt“ ist zwar richtig, wird aber leider zumeist von den Menschen gepredigt, die nicht einmal wissen wie man Zusammenhalt schreibt. Zusammenhalt war auch bereits vor der Pandemie und dem Krieg in Europa nicht ganz unwesentlich. Die Menschen in den vom Krieg betroffenen Regionen weltweit wird es auch recht wenig interessieren ob die Leute in Österreich „eh gut“ zusammenhalten.
Was jetzt besonders wichtig ist, muss denke ich jeder für sich selbst entscheiden. Für mich ist es das, was es schon immer war – den Humor niemals zu verlieren und dankbar zu sein für das, was man hat, bzw. nicht hat.
Darüber hinaus wo es geht, Menschen, denen es nicht so gut geht im Rahmen meiner Möglichkeiten zu unterstützen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?
Das Theater hat die Möglichkeit verschiedenste Blickwinkel aufzuzeigen. Generell bietet Kunst Abstand zum Alltag. Diese Möglichkeit sollte vermehrt genutzt werden.
Was mir persönlich auch sehr wichtig wäre ist, dass die Freunde des Kabaretts, bzw. der Comedy vermehrt jüngeren, sowie nicht der breiten Masse bekannten Künstlern, bzw. die Menschen generell der Off-Szene des Theaters mehr Aufmerksamkeit schenken. Sie werden es nur in den allerseltensten Fällen bereuen. Erfahrungsgemäß seltener als in den großen Häusern.
Was liest Du derzeit?
Hope Street von Campino
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Abgenutzt, aber wahr und zeitlos:
Wie Menschen andere Menschen behandeln, ist eine direkte Reflexion davon, wie sie sich selbst fühlen. (Paulo Coelho)
Vielen Dank für das Interview lieber Andreas, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Schauspiel-, Kabarettprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Andreas Wutte,Schauspieler,Kabarettist, Sprecher
Zur Person_Andreas Wutte, geboren und aufgewachsen in Kärnten, lebt in Wien, hat die Schauspielschule 2016 abgeschlossen und erhielt im gleichen Jahr auch das Diplom zum staatlich anerkannten Schauspieler. Im Zwangsurlaub während der Pandemie begann er sich dem Kabarett zu widmen, was ihm auch gleich den Sieg bei der Talente-Show des Wiener Kabarettfestivals 2022 einbrachte. Sein erstes abendfüllendes Soloprogramm „Reine Gedanken“ feierte ebenfalls 2022 Premiere. Ein zweites Programm ist in Arbeit.
Wien und Berlin. Zwei Weltstädte, die in ihrer Vielfältigkeit faszinieren. Diese einmalige Einladung zu Kultur, Geschichte, Kulinarik und auch Natur, die jährlich Millionen Besucher:innen begeistert, hat eine lange Geschichte, die weit über das 21.Jahrhundert hinausführt. Dabei gab und gibt es Austausch, Kooperation und auch Wettbewerb, der auch ganz wesentlich zur Entwicklung und Inspiration moderner Gesellschaft beitrug und beiträgt.
Jens Wietschorke, Kulturwissenschaftler am Lehrstuhl für Europäische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, stellt nun in „Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde“ spannende geschichtliche, kulturgeschichtliche wie identitätsbildende Aspekte dieser besonderen europäischen Metropolen vor.
„Wien und Berlin sind zwei Metropolen, die durch eine ausgesprochen intensive Anziehungs- und Abstoßungsgeschichte miteinander verbunden sind.“
In 8.Kapiteln, beginnend mit „Klischee und Wirklichkeit“ über historische kulturwissenschaftliche Vergleiche, Konkurrenz wie Architektur und Topographie, Musik und Identität, die grauen/goldenen 1920er Jahre, Literatur, Theater wie Kultur und Transformation spannt sich ein informativer wie sehr fein erzählender Städtebogen zwischen Berlin und Wien, der Geschichte-, Kultur-, Reisebegeisterte wie Einheimische wunderbar in Straßen, Plätze, Geschehnisse und Geheimnisse einer Stadt eintauchen und viel Neues und Unbekanntes einst und jetzt entdecken lässt.
Ein ausführlicher Anhang mit Anmerkungen, Literaturhinweisen, Register vertieft diese faszinierende Kultur- und Zeitreise.
„Die Faszination Wien und Berlins als einmalige kulturelle Zeitreise!“
„Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde“ Jens Wietschorke. Reclam Verlag
Originalausgabe; Geb. mit Schutzumschlag. Format 13,5 × 21,5 cm
Lieber Christoph Prückner, wir sind hier in der Ungargasse in Wien, dem Hauptschauplatz des Romans „Malina“ (1971) von Ingeborg Bachmann. Welche Bezüge und Zugänge gibt es von Dir zu Ingeborg Bachmann und dem Roman?
Da möchte ich vor allem zwei Begegnungen erwähnen. 2003 durfte ich, am nicht mehr existierenden Theater Brett, als Schauspieler in einer Bühnenversion von Bachmanns Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ mitwirken. Ich war ein Killer-Eichhörnchen… (Da bin ich ziemlich wild auf der Bühne herumgesprungen! Daran musste ich wieder denken, als ich jetzt bei der Fotosession über die Kamine in der Ungargasse balanciert bin…)
Außerdem veranstalte ich seit vielen Jahren jeden Sommer eine literarisch-theatralische Veranstaltungsserie zum Thema „Wiener Kaffeehauskultur“, mit dem Titel „Tinte & Kaffee“ – meist im Café Landtmann. Und da hatten wir auch lange eine szenische Lesung über weibliche Kaffeehausliteratur im Programm – da durfte Ingeborg Bachmann natürlich nicht fehlen; sie hat ihre Wiener Laufbahn ja im von Hans Weigel initiierten Literatinnenkreis im Café Raimund begonnen.
In dieser Collage war sie mit zwei Texten mit Kaffeehausbezug vertreten. Da war einmal ein Ausschnitt aus der (zu Lebzeiten unveröffentlichten) Erzählung „Der Schweißer“. Die spielt in einem namenlosen Volkscafé in Floridsdorf, dort wird ein einfacher Arbeiter, der noch nie gelesen hat, plötzlich mit einem Buch konfrontiert. Daraufhin wird er so süchtig nach existentieller Literatur, dass ihn die Liebe zu Büchern letzten Endes die Existenz kostet…
Und der andere Textausschnitt stammte aus „Malina“ und spielt im Café Landtmann, also an unserem Auftrittsort. Es kann sein, dass es sich dabei sogar um eine Passage handelte, die in der letztgültigen Ausgabe gestrichen oder sehr umgearbeitet worden war, aber das weiß ich jetzt nicht mehr so genau. Jedenfalls ist das Nobelkaffeehaus hier bei Bachmann ein ziemlich unheimlicher, fast kafkaesker Ort – die Ich-Erzählerin fühlt sich genötigt, ohne sich wehren, ohne sich überhaupt innerlich abgrenzen zu können, einem völlig Unbekannten eine überaus teure (vorgebliche) Operation zu bezahlen!
Ach ja – und noch etwas fällt mir jetzt ein. Meine Anfänge als Regisseur sind auf meiner inneren Landkarte auch gewissermaßen mit Bachmann verknüpft. Meine allererste Inszenierung, noch am Schultheater, war Shakespeares „Wintermärchen“. Dort gibt es ja den berühmten zweiten Akt, der an der „böhmischen Küste“ spielt – also ausgerechnet in einem Land, das soweit weg vom Meer liegt wie kaum ein anderes in Europa. Und dem hat ja Ingeborg Bachmann ein sehr bekanntes Gedicht gewidmet, eben „Böhmen liegt am Meer“. An das muss ich jetzt jedesmal denken, wenn ich mich an meine Regieanfänge erinnere. Die Zeile
„Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder. Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land“,
verbunden mit der Hoffnung, daß Böhmen
„eines schönen Tags Zum Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt“ –
in Zeiten des Klimawandels und steigender Meeresspiegel bekommen diese Sätze jedenfalls noch eine ganz neue, unheilvoll-prophetische Zusatzbedeutung…
Gibt es besondere Gedichte, Texte Bachmanns, die Du hervorheben möchtest?
Das heillose Gedicht „Bruderschaft“ berührt mich momentan recht stark:
„Alles ist Wundenschlagen, und keiner hat keinem verziehn. Verletzt wie du und verletzend, lebte ich auf dich hin.
Die reine, die Geistberührung, um jede Berührung vermehrt, wir erfahren sie alternd, ins kälteste Schweigen gekehrt.“
Auch das Gedicht „Alle Tage“ ist gerade wieder sehr lesens-wert geworden, es beginnt mit den Zeilen
„Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden.“
und endet mit der utopischen Hoffnung auf
„die Nichtachtung jeglichen Befehls.“
Und: die vielzitierte Rede „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (die sie gehalten hat, als sie für „Der gute Gott von Manhattan“ den Hörspielpreis der Kriegsblinden verliehen bekam) kann eigentlich nicht oft genug zitiert werden, in einer Zeit, in der Deep Fake, KI-generierte Realitäten, „alternative Wahrheiten“ fast schon zum vielbejubelten Lifestyle mutiert sind.
Und übrigens sagt sie in dieser Rede (von 1959!) auch Interessantes darüber, wofür Künstler in der heutigen Zeit vielleicht überhaupt noch da sein mögen:
„So kann es auch nicht die Aufgabe des Schriftstellers sein, den Schmerz zu leugnen, seine Spuren zu verwischen, über ihn hinwegzutäuschen. Er muß ihn, im Gegenteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir sehen können, wahrmachen. Denn wir wollen alle sehend werden.“
Du bist wie Ingeborg Bachmann nach Wien gezogen. Wie war das Ankommen für Dich und welche Erfahrungen hast Du hier als Schauspieler; Regisseur gemacht?
Als ich ankam, nur für ein kurzes Engagement von ein paar Wochen (aus Heidelberg, das sich Großstadt nennt und sich doch teilweise anfühlt wie ein Dorf, in das mehr als zehnnmal so große Wien), fühlte ich mich zunächst recht fremd. Jetzt, nachdem ich in dieser Stadt Gottseidank beinahe kontinuierlich für meinen und von meinem Beruf leben konnte, fühle ich mich manchmal immer noch recht fremd. Aber da das Fremde in Wien ja beinahe Teil der nationalen Identität darstellt (in einer Stadt nämlich, sich noch immer irgendwie als Nation begreift, weil sie sich daran erinnert, daß sie einmal Herz und Kopf einer multinationalen, aus hunderten Fremdheiten, freiwillig oder gewzungermaßen, zu einer geträumten politisch-kulturellen Einheit zusammengefügten Staatengemeinschaft gewesen ist, und weil diese Erinnerung noch immer unsichtbar in den Mauern und Gassen eingeschrieben steht), kann man sich hier als Fremder in der Fremde doch sehr heimisch fühlen (aber freiwillig, ohne es zu müssen!).
Mikrokosmisch gespiegelt in Bachmanns Ungargasse (ihrerseits benannt nach dem zweiten K. von K.u.K. – nach den ungarischen Kaufleuten, die seit dem 15. Jahrhundert auf diesem Weg nach Wien eingereist kamen), wo drei Fremde die Protagonisten sind: ein Ungar, eine Kärntnerin, und ein Slowene, der obendrein in einem Museum arbeitet, in dem die Geschichte Österreichs als Geschichte der Gewalt erzählt wird.
Natürlich bleibe ich für immer der Piefke… Typische Reaktion von Besuchern, die mich nach einer Vorstellung angesprochen haben: „Man hört ja auf der Bühne gar nicht, daß Sie Deutscher sind!“ (als Kompliment gemeint! Das wurde mir nicht nur einmal konstatiert).
Meiner über ein Jahrzehnt andauernden regelmäßigen Zusammenarbeit mit dem, von Exiltschechen in Wien gegründeten und geleiteten, Theater Brett habe ich es übrigens letztlich auch zu verdanken, daß ich vor ein paar Jahren als in Wien lebender Deutscher ein polnisches Stück als tschechischsprachige Uraufführung in Brünn inszeniert habe… Wien ist eben auch nur ein Dorf…
Im Roman „Malina“ (1971) von Ingeborg Bachmann geht es um das Leben und Sterben im gesellschaftlichen Kontext weiblicher und männlicher Identität und dessen patriarchalen Machtgefälle. Wie siehst Du die Prozesse von Frausein-Mannsein bzw. Identität heute und vor welchen Herausforderungen stehen diese?
Dier Auflösung der klassisch-tradierten Geschlechterrollen (in unserer Gesellschaft – es gibt auch andere Modelle, in andern Kulturen oder zu andern Zeiten, die sich aber nicht so durchsetzen konnten) beunruhigt viele (Männer, aber auch irritierenderweise Frauen), die mit der Auflösung der Rollen zugleich die Auflösung der Identität befürchten.
Daher der überschießende Widerstand, der allem, was im entferntesten mit „Gender“ (wahlweise als Schimpfwort oder Bedrohung begriffen) zu tun hat, besonders (aber nicht nur!) von konservativer Seite entgegengebracht wird – vom Herunterspielen übers Lächerlichmachen bis zu politischen Verbotsversuchen. Da ist eigentlich eine große Angst am Werk: die irrationale, aber als höchst existentiell empfundene Angst, ein Ich zu verlieren, das gar nicht so sehr in sich selbst gefestigt ist, wie es gerne glauben mag.
Dahinter steckt ein großes Mißverständnis, was unser Konzept von „Persönlichkeit“ betrifft. Wir glauben, unsere Persönlichkeit und unser innerer Wesenskern sind dasselbe. Aber das Wort „Persona“ bedeutet ursprünglich nichts anderes als „Maske“ – es ist nur die Rolle, die wir in der Welt spielen. Und jetzt fallen die Masken eine nach der anderen herunter, und da zeigt sich vielleicht erst, ob dahinter überhaupt irgendwelche Gesichter sind.
Wir haben die Romanschauplätze „Malina“ in der Ungargasse besucht. Welche Eindrücke hast Du von diesen Orten?
Ich weiß nicht, ob Ingeborg Bachmann jemals real hier oben war, auf dem Dach der Ungargasse 6. Aber auch wenn nicht: ihr Geist hat sicher auf den Kaminen getanzt, so wie wir jetzt in der körperlichen Welt!
Die Aussicht, über halb Wien bis zum Riesenrad, ist grandios, atemberaubend; atembeklemmend indes die unheimliche Menge grauslicher Neubauten, die in alle Richtungen den Blick beschneiden und die Seele einengen. Was für eine Erleichterung also beinahe, nachher wieder unten, in der engen Straßenschlucht der Ungargasse zu stehen, wo diese seelenlosen Baumonster dem Blickfeld entzogen sind.
„Noch nie hat jemand behauptet, die Ungargasse sei schön“, schreibt Bachmann zwar, in der Einleitung zu „Malina“. Aber auf eigensinnige Weise ist sie nämlich schon sehr schön, die Ungargasse, so ein bißchen aus der Zeit gefallen, mit einem gewissen Altwiener Charme, weil sie ja gar nicht schön sein will, vielleicht, in ihrer unperfekten ungeratenen ungradlinigen Ungarizität…
Was wäre wohl aus der Ich-Erzählerin, Malina und Ivan heute geworden?
Heute? Der Roman ist von 1971 – grade einmal 50 Jahre alt. Ist das Heute von vor 50 Jahren heute tatsächlich schon ein Gestern?
In den Kaffehäusern gibt es heute keine Telefonzellen mehr, aber sonst? Was hat sich geändert? Die Menschen jedenfalls nicht. Ich glaube, die Figuren des Buches sind heute immer noch dieselben, die sie zur Zeit ihres gestrigen Heute waren. Oder sie sind das, was die heutige Ich-Leserin, der heutige Malinaivanleser in sie hineinspiegeln mag!
Hättest Du mit Ingeborg Bachmann gerne einen Tag in Wien verbracht und wenn ja, wie würde dieser aussehen?
Ich glaube, ich hätte sie gerne ganz am Anfang kennengelernt, als sie noch ganz jung, und neu in Wien war (also vielleicht tatsächlich im Künstlerinnenkreis im Café Raimund) – als sie noch ein bißchen mehr Ingeborg und noch nicht so sehr Bachmann war. Noch auf der Suche nach sich, nach ihrem Weg, ihrer Kunst. Auch wenn ihre Suche natürlich zeitlebens nie aufgehört hat, aber es wäre spannend gewesen, diese Anfänge, diesen Aufbruch, dieses Aufbrechen mitzuerleben! (Und diese Entwicklung dann vielleicht auch weiter zu begleiten, über die Jahre hinweg, aber da hätte natürlich ein einziger Tag nicht ausgereicht.)
Was sind Deine derzeitigen Theaterprojekte und welche weiteren Projektpläne gibt es?
Also, im Augenblick (Stand: 25. Mai 2023) läuft, noch bis Ende kommender Woche, meine Inszenierung von „Arsen und Spitzenhäubchen“ am Theater Center Forum, wo ich selber auch eine kleine Rolle spiele. Eine klassische Groteske, die hinter den Kulissen einer idyllischen heilen Welt die Abgründe ausgräbt, und dem Gelächter preisgibt. Für nächstes Jahr ist schon ein weiteres Projekt an diesem Haus geplant, wieder ein klassischer Krimistoff, mehr mag ich noch nicht verraten. Ab 10. Juni spiele ich am Stadttheater Mödling in „Die Kunst der Komödie“ von Eduardo De Filippo – da geht es, im Gewand eines Theaterspektakels, um die Sinnhaftigkeit und den Wert von Theater in der Gesellschaft überhaupt. Im Sommer bin ich als Schauspieler im „Theater im Bunker“ in Mödling zu sehen, und parallel dazu läuft ab August auch wieder eine neue, die inzwischen 24., Saison von „Tinte & Kaffee“ im Café Landtmann, heuer mit dem Programm „Herr Ober, zahlen!“ – das Kaffeehaus als Arbeitswelt, in literarischen Zeugnissen und Erlebnisberichten aus den letzten cirka hundertfünfzig Jahren (Infos: http://www.tinteundkaffee.at). Und ein oder zwei weitere, vielleicht etwas schrägere, eigene Projektentwicklungen sind auch schon im Werden…
Wie war Dein Weg zum Schauspiel?
Eine wichtige Initialzündung war sicherlich, als ich mit 11 Jahren von meinem Vater dessen altes Papiertheater geschenkt bekommen habe, mit dem er als Kind gespielt und das er wiederum von seinem Vater bekommen hatte; und für das ich dann Kulissen und Figuren gebastelt und Stücke geschrieben und gelegentlich auch aufgeführt habe. Mit 16 bin ich zum ersten Mal selbst im Schülertheater auf einer Bühne gestanden, und seitdem wollte ich dort nicht mehr weg. Und da bin ich immer noch. Zwei Jahre später kam dann auch die Regie als zweite Leidenschaft dazu; und die Lust am Schreiben war und ist sowieso immer auch präsent.
Was ist Dir in Deinen Theaterprojekten wichtig?
Die Suche.
Fragen stellen, keine Antworten vortäuschen.
Die Bereitschaft, mit jedem Projekt wieder ganz von vorne anzufangen. Als hätte man vielleicht noch nie Theater gemacht.
Mit einem Ensemble zu arbeiten, in dem tiefste und heftigste Auseinandersetzungen auf künstlerischer Ebene möglich sind, in dem aber die menschliche Zusammenarbeit auf Harmonie aufgebaut ist, und der Bereitschaft von allen, immer weiter zu suchen.
Den Geschmack des Publikums vergessen – einerseits. Für sich selbst zu spielen.
Andrerseits: für das Publikum zu spielen! Die Menschen im Zuschauerraum nicht vor den Kopf zu stoßen, sondern sie auf eine Reise einzuladen. So daß es – über Identifikationsangebote mit den Figuren, über eine spannende Handlung, über Humor und Überraschungen – den Zuschauer*innen emotional leicht gemacht wird, sich auf Fragen einzulassen, auf die sie die möglichen Antworten vielleicht sonst gar nicht so gern wissen würden.
Was wünscht Du Dir für den Beruf des Schauspielers heute?
Daß er bestehen bleibt. Daß wir nicht eines Tages, wie jetzt schon oft im Film, auch auf der Bühne durch KI ersetzt werden. Und daß die Menschen (das potentielle Publikum) weiterhin imstande sein werden, den Unterschied wahrzunehmen und zu schätzen!
(Aber wenn man sich die Geschichte anschaut: Wie oft wurde das Theater nicht schon totgesagt? Seit Jahrtausenden…)
Was Schätzt Du an Wien besonders?
Ich bin für einen Monat nach Wien gekommen und lebe hier seit dreiundreißig Jahren. Was mehr muss man wissen über Wien?
Darf ich Dich abschließend zu einem Malina Akrostichon bitten?
Station bei Malina_Roman Ingeborg Bachmann_Wien_1971
im Interview und szenischem Fotoportrait_acting Malina_
Christoph Prückner, Schauspieler, Regisseur, Autor_ Wien
Zur Person_Christoph Prückner, Schauspieler, Regisseur und gelegentlich Autor, geboren in Heidelberg, lebt und arbeitet seit über 30 Jahren in Wien. Als Schauspieler seit vielen Jahren hauptsächlich tätig am Theater Scala / Stadttheater Mödling, als Regisseur regelmäßige Zusammenarbeit mit Theater Center Forum. Außerdem Initiator und künstlerischer Leiter des Kaffeehaus-Sommertheaters „Tinte & Kaffee“ (seit bald 25 Jahren). Weitere Engagements: Theater Brett (über 20 Jahre lang Stammschauspieler und Hausregisseur), Theater Gruppe 80, Theater Spielraum, TheaterArche, Freie Bühne Wieden, Kosmos Theater, Jüdisches Theater Austria und viele andere, sowie eigene Projekte. Schreibt als Autor vor allem Dramatisierungen und Übersetzungen, außerdem gelegentlich eigene Theatertexte und Kurzgeschichten.
Aktuelle Produktion_ Die Kunst der Komödie, von EDUARDO DE FILIPPO, Inszenierung: BRUNO MAX
Stadttheater Mödling _ Premiere: Samstag, 10. Juni 2023, um 19:30 Uhr Weitere Spieltage: Do – Sa, 15.06. bis 17.06.2023, jeweils um 19:30 Uhr So, 18.06.2023, um 17:00 Uhr Di, 20.06.2023, um 19:30 Uhr Do – Sa, 22.06. bis 24.06.2023, jeweils um 19:30 Uhr
Liebe Heide Maria Hager, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Nach dem Aufstehen geh ich im Moment entweder in den Unterricht (ich unterrichte in der Schule des Sprechens – ich gebe dort Coachings für Führungskräfte, Politiker, Menschen, die viel sprechen müssen im Bereich Sprechtechnik, Atem, Stimme), oder ich spreche im homestudio für Miri TV Geschichten ein, oder auch für die Hörbücherei des Blindenverbandes – oder ich recherchiere. Ich recherchiere einerseits für eine Ingeborg Bachmann Veranstaltung, andererseits für eine Tournee, die wir mit dem Stück „Das rote Fahrrad“ von Fred Apke planen. Dieses Stück lief heuer unglaublich erfolgreich im Theater Arche, und es gehört – auch laut den vielen Publikumsreaktionen – weiterhin auf die Bühne. Wie es aussieht, werden wir es im Herbst 2023 im Theater Arche wiederaufnehmen. Ab und zu absolviere ich Castings für Werbung und Film.
Am Abend geh ich im Moment viel ins Theater, es finden ja gerade die Wiener Festwochen statt. Außerdem schau ich mir auch immer gerne Kolleg*innen auf der Bühne an. Am Wochenende sorge ich dafür, dass ich in die Natur komme und Zeit mit Familie und Freunden verbringe. Vor kurzem war ich 12 Tage in der Toskana wandern, das Gehen in der Natur macht den Körper fit wie nichts sonst, den Kopf leer, das Herz und die Seele weit.
Heide Maria Hager, Schauspielerin, Sprecherin, Trainerin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
HUMOR, feiern und Zusammenhalten – das ist nicht nur jetzt wichtig. Wir müssen unbedingt jede Gelegenheit nützen, um zu lachen und zu feiern. Und bitte sich nicht vereinzeln lassen. Sich nicht auseinanderdividieren lassen – von welcher Obrigkeit auch immer. Immer wieder nach Austausch streben, Kontakt zu anderen suchen. Die Unterschiede aushalten lernen statt allzu schnelle Urteile zu fällen – kommunizieren lernen, wenn es Probleme gibt. Ich denke, Corona hat bei einigen dafür gesorgt, sich mehr in sich zurückzuziehen, bzw. sich mehr in gewohnten communities zu bewegen. Die Neugierde auf die Diversität des Lebens hat gelitten. Diese muss man ja auch üben; sich auf Neues, Anderes einzulassen, bedeutet unter Umständen, eigene Gewohnheiten nicht an die erste Stelle zu positionieren. Das ist ja auch nicht immer leicht, oder schlüssig. Gleichzeitig finde ich es sehr wichtig, auch gesunde Grenzen ziehen zu lernen. In dem Moment, wo ich mich überfordert fühle, meine innere Balance außer Lot gerät, muss ich auch „nein“ sagen dürfen.
Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Hmmm…Aufbruch…mir kommt das gar nicht so „neu“ vor. Hat es diese „Aufbrüche“ nicht schon immer irgendwie gegeben? Der rasant ablaufende technische Fortschritt, fordert uns in der jetzigen Zeit im Besonderen heraus, denk ich. Nicht jeder ist technisch am gleichen Stand – dadurch passiert Ausgrenzung. Das Tempo, indem sich Arbeitsabläufe heutzutage abspielen, ist unglaublich. Da braucht es an der richtigen Stelle Entschleunigung, denn der Körper kommt da oft nicht mehr mit, ist überfordert, reagiert mit Krankheit oder sonstiger Störung. Auch der Geist kann sich ganz schön verwirren, und sucht oft nach einfachen Lösungen – oder lenkt sich ab.
Ich glaube regelmäßige RUHE, STILLE täte vielen gut. Zeit mit sich verbringen. Ohne Ablenkung, ohne Informationsquelle von außen. Die innere Stimme ist oft sehr leise, und ist für mich persönlich eine wichtiger Orientierungsgeber. Auch intelligente Arbeitsabläufe sind not-wendig, neue Systeme, wie wir miteinander besser kooperieren. Weg von der Konkurrenz, hin zur Kooperation. Soviel ich weiß, gibt es hier geniale Ansätze unter Einbindung flacher Hierarchien.
Durch Förderung von mehr Eigenverantwortlichkeit der Arbeitnehmer*innen und auch finanzieller Mitbeteiligung am gemeinsam erwirtschafteten Gewinn, wird mehr Eingebundensein ins Firmengeschehen und dadurch auch mehr eigene Wirkmacht erlebt. So wird Fleiß und Eloquenz belohnt und nicht nur von allen konsumiert. So etwas kann beitragen, Sinn zu stiften.
Die Sinnfrage ist glaube ich ohnehin die große Frage: warum, wozu mach ich, was ich mache? Ich träume von einer Gesellschaft, die kleinteilig so funktioniert, dass es völlig klar ist, bei Problemen hin zu schauen und gemeinsam an der Lösung zu arbeiten, statt sich in Machtkämpfen zu verzetteln.
Wir brauchen endlich sozial hoch kompetente und emotional intelligente Menschen in Führungspositionen. Echte Vorbilder. Gendergerechtigkeit, gleiche Löhne für gleiche Arbeit – die alte Leier. Gelebter Feminismus, der sich bitte dann überall auswirken muss: im Lohn, in der Architektur, im Städtebau, in der Erziehung, in der Forschung, in der Medizin, usw. Wir brauchen vielleicht auch klar definierte Werte, da bleibt die Frage, wer sie vermitteln soll, wenn das Elternhaus aussetzt: – Wieso lohnt sich Ehrlichkeit? Warum sollte man aufrichtig sein? Wieso zahlt sich, auf lange gesehen, Trickserei nicht aus? Wem schade ich, wenn ich den Weg des geringsten Widerstands nehme? Wozu ist Höflichkeit gut? Wie wirkt sich mein Handeln auf andere aus? Kann ich Kritik vertragen?
Mich persönlich interessiert immer auch der Forschungsstand, etwa dass die Nobelpreisträgerin für Physik 2020 Andrea Ghez sagt, dass die Physik an der Grenze des Erforschbaren angekommen sei. Und darüber hinaus aber etwas existiere, das nicht messbar sei. Oder die Quantenphysik, die eigentlich Unbegreifliches beschreibt – was machen wir als aufgeklärte Kultur mit dem (noch?) nicht Erklärbaren? Was ist überhaupt der Sinn des Lebens? Kunst kann dies nicht beantworten, aber zumindest helfen, Eigenreflexion zu erhöhen. Denn um bewusst zu handeln – braucht es bewusstes Auseinandersetzen. Mit sich, mit den anderen, mit „dem Leben“ an und für sich.
Kunst – egal in welcher Form – hat die Möglichkeit Räume in unser Unbewusstes zu öffnen, Räume und Realitäten, die im schnellen Alltag sonst untergehen. „Kunst wäscht den Staub des Alltags von der Seele“, wie Picasso für mich sehr stimmig sagt. Kunst stöbert im Allgemeinen, bevor es spezifisch wird. Somit ist Kunst meistens auch echter Ausdruck ihrer Zeit. Sie kann mithelfen, die richtigen Fragen zu stellen – vielleicht sogar Antworten zu finden. Sie kann ganz unvermittelt berühren und dadurch Verbindung zueinander herstellen. Frida Kahlo sagt: „Ich male Blumen, damit sie nicht sterben“. Angesichts unserer menschlichen katastrophalen Einwirkung auf die Erde, sogar ein sehr pragmatischer Satz, wobei er so nicht gemeint ist, denke ich.
Wenn ich in der Probe auf der Bühne stehe und eine Figur sich aus mir heraus schält, dann gebe ich einen Teil von mir preis. Es öffnet sich in mir ein Raum, ein Fenster, in dem ich mir manchmal selber beim Entstehen von Abläufen zusehe. Bei diesem Schauspielprozess ist also nicht alles bewusst geschöpft, und doch tritt das Ergebnis bewusst zu Tage. Ein magischer Vorgang. Erst recht, wenn dann noch Publikum zuschaut. Dann bekommt oft das in mich hineingehen und von dort wieder heraus eine fordernde Unbedingtheit. Kunst wohnt zuweilen eine Dringlichkeit inne, ein „es tun müssen“, ob sie nun verstanden wird, oder nicht, ob es Publikum dafür gibt oder nicht. Man denke nur an Van Gogh, der in seinem Leben nur ein einziges Bild verkaufen konnte und doch wie wild weiter gemalt hat. Kunst schärft die Sinne und den Verstand. Aber Vorsicht: auch die Kunstschaffenden müssen sich den narzisstischen Fallen bewusst werden, die in uns alles wohnen. Allzu persönlich gefärbte Ergüsse, die nicht ins Allgemeine zu weisen wissen, interessieren mich persönlich schon lange nicht mehr.
Was liest Du derzeit?
„Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer, da muss ich noch ein bisschen hineinfinden, die Geschichte lässt mich aber sehr dranbleiben. Die Dramatisierung wird derzeit übrigens im Burgtheater im Kasino aufgeführt.
„Wovon wir leben“ von Birgit Birnbacher hab ich soeben beendet und muss es dringend empfehlen! Eine ganz und gar unaufgeregte, tiefe, geradlinig erzählte Geschichte, die sehr viele Frauenthemen aufgreift. Und sie interessant abspinnt.
„Ein Zimmer für sich allein“ von Virginia Woolf. In einem durch gelesen – eine dringende Empfehlung für Frau und Mann, ein Klassiker. Immer noch gültig, leider.
Und ja: die Bibel lese ich stetig. Von vorne bis hinten. Ich habe mich durchgerungen, sie bildet einen Grundstock unserer Kultur, und ich will mich eigenhändig kundig machen darüber.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst in der Welt.
Mahatma Gandhi
Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen.
Anne Frank
Heide Maria Hager, Schauspielerin, Sprecherin, Trainerin
Vielen Dank für das Interview Heide Maria, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Heide Maria Hager, Schauspielerin, Sprecherin, Trainerin
Zur Person_Heide Maria Hager, Schauspielausbildung in Wien, Staatliche Prüfung, Engagements u.a. Kammerspiele Hamburg, Kleines Theater Salzburg, Studiobühne Villach, Schauspielhaus Wien, sämtliche freie Bühnen in Wien, internationale Theatertauftritte mit Teatro caprile.
Letzte Theaterproduktionen: „tageslichtlinie – Eine Homage an Elfriede Gerstl, „Ins gelobt Land – In Memoriam Marko Feingold“, „7 Todsünden“, „Andorra“, „Das rote Fahrrad“, Elfriede Nöstlinger – Szenische Lesung
Letze Filme: „Strawberry Moments“, „Wieviele bist Du?“, „Janus“, „Der Erbsenzähler“, „Vienna“, 2020, „Tatort – Alles was recht ist“, „Dunkle Wasser – Salzburg Krimi“, „Vikinger“, „Steirerkrimi“, „Fahndung Österreich“
Ausbildung zur Theaterpädagogin, Unterrichtstätigkeit in der Schule des Sprechens, Hörbuchsprecherin für den BSVÖ, Sprecherin für Miri TV und Loftfilm München
Lieber Carl-Christian Elze, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Meistens zu früh geweckt werden von meinem 4-jährigen Sohn (das betrifft natürlich auch meine Frau), dann frühstücken (er: Müsli, ich: vorerst nur Kaffee), auch den größeren Sohn (11) wecken, entweder den Größeren oder den Kleineren in die Kita bzw. die Schule bringen, dann selbst zur Arbeit fahren oder nochmal nach Hause gehen.
Ich unterrichte zur Zeit Biologie an einer Berufsschule, als Brotjob gut geeignet, meistens macht es sogar Spaß. Dadurch aber auch oft ziemlich zerfranste Tage, meistens nur kleinere Schreibinseln täglich oder nicht täglich, für Gedichte meist ausreichend, für längere Prosa eher schwierig (sehr schwierig). Nicht selten der Wunsch, einfach am Schreibtisch sitzen zu bleiben, wenn gerade die Sätze gut fließen, aber dann heißt es: Aufstehen, Biologie, Zellenlehre, Genetik, Immunsystem, Hormonsystem, Nervensystem … Lauter interessante Dinge, aber gerade nicht romanrelevant:)
Ab 16 Uhr sind meistens ebenfalls alle Schreibinseln geschlossen, weil der Kleine (Mio) aus der Kita abgeholt und beschäftigt werden will (Eis essen, mit Duplo-Steinen bauen, auf den Spielplatz gehen, Unsinn machen, …), alles wunderbar im Grunde (solange die Kinder nur gesund sind!) und letztlich ist es auch das erzwungene richtige Leben fern des Schreibtisches, dass es unbedingt braucht, um später am Schreibtisch über genau dieses Leben schreiben zu können.
Abends nach den kleinen Raubtierfütterungen und weiteren Raubtierritualen ca. 21 Uhr endlich Ruhe im Karton. Jetzt kaum noch Energie für echte Schreibtischwunder, zumindest bei mir. Eher schauen, wie weit man noch kommt mit den schweren Augenlidern beim Lesen des neuen Romans von … oder beim Reden mit meiner Frau über … oder beim Bier mit dem alten Freund, den man, seit man Kinder hat, nur noch alle paar Monate sieht statt wie früher jede Woche, jeden Tag.
Carl-Christian Elze, Schriftsteller
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Etwas zu finden, was uns beruhigt, zumindest für einige Stunden, auch außerhalb des Schlafs.
Diese Welt und ihre tägliche verwirrende, angstgebärende Informationsfülle ist für jedes menschliche Gehirn eine große Herausforderung, ein molekularer Sturm.
Natürlich soll man nicht den Kopf in den Sand stecken und die Probleme dieser Welt ausblenden, im Gegenteil, aber trotzdem den Kopf wieder frei bekommen zwischendurch, zwischen den ganzen Problemen dieser Welt. Am besten hilft es, mit kleinen Kindern zu spielen und sich in ihrer Spielwelt und ihrem kleinen-riesigen Leben aufzuhalten.
Aber auch die Natur hilft, wenn man gerade keine kleinen Kinder zur Verfügung hat, immer der Gang durch die Natur, die bewusste Wahrnehmung einer nicht menschenzentrierten Welt, die ohne uns ihre größten Momente hat und scheinbar völlig losgelöst von uns phantastisch funktioniert.
Die Menschen nicht zu wichtig zu nehmen, das ist das Ziel beim Gang durch die Natur, die Menschen nicht zu wichtig zu nehmen und deshalb auch weniger an ihren Dummheiten zu leiden. Dabei neue Kraft schöpfen, um danach die eigenen und die fremden Dummheiten zu verkleinern, Solidarität zu leben.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich glaube immer noch daran, dass uns Kunst – oder weniger abstrakt gesagt: einfach Geschichten, Klänge, Farben und Tänze – wahrscheinlich zu anderen, besseren Menschen machen können.
Bestenfalls entstehen, wenn Menschen von und mit Kunst berührt werden, synaptische Verknüpfungen im Gehirn, die sie empfindlicher, empathischer, aufmerksamer, dankbarer, hilfsbereiter und hoffentlich auch ungefährlicher machen für den Rest ihres Lebens.
Schon immer gab es das Bedürfnis von Menschen, Kunst zu machen bzw. sich Geschichten auszudenken, zu musizieren, zu malen und zu tanzen, und es gab das Bedürfnis eben jene Geschichten, Klänge, Farben und Tänze von anderen zu erfahren. Das tägliche, hektische Leben bietet scheinbar so wenige Zeitinseln für das Erleben von Kunst, denken sich wahrscheinlich viele. Und dabei entsteht der Gedanke, dass auch Kunst eine Insel sei, was sie nicht ist. Sie ist das Gegenteil von einer Insel, sie ist im Grunde das Meer, das uns schon immer umgibt, die Flüssigkeit, in denen unsere Gehirne schwimmen wollen, um sich zu beruhigen und um zu begreifen, dass wir mit allem verbunden sind, dass niemand allein ist und niemand allein bleibt.
Was liest Du derzeit?
In den letzten Jahren habe ich immer gleich nach Erscheinen jeden neuen Houellebecq-Roman gelesen, diesmal alles mit ein wenig Verspätung. „Vernichten“. Ich bin erst am Anfang, aber denke schon jetzt: anders als sonst, weniger ironisch/zynisch, viel verletzlicher, dabei blitzgescheit und kühn wie immer, wahrscheinlich ein toller Roman.
Vorherige Lektüre: „Crossroads“ von Jonathan Franzen und der anschließende Katzenjammer, der sich bei großer Literatur immer einstellt: Warum muss ich diese Franzen-Welt jetzt schon wieder verlassen? Warum sind diese 825 Seiten so schnell zu Ende gegangen? Verdammt, jetzt muss ich womöglich Jahre warten, bis diese Familiengeschichte weitergeht.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Nur der Mensch kann über etwas sprechen, das gar nicht existiert, und noch vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge glauben.“ (von Yuval Noah Harari aus: Eine kurze Geschichte der Menschheit, Pantheon-Verlag, 2013).
Dieses Zitat scheint mir ein Problem oder womöglich das Problem des Menschseins ganz gut anzudeuten. Menschliche Sprache – das ist Panik und Paradies zugleich. Ich möchte allerdings das gesamte Buch von Harari empfehlen, für mich eine staunenswerte Reise auf fast jeder Seite.
Vielen Dank für das Interview lieber
Vielen Dank für das Interview lieber Carl-Christian Elze, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Carl-Christian Elze, Schriftsteller
Zur Person_Carl-Christian Elze wurde 1974 in Berlin geboren und wuchs in Leipzig auf. Sein Vater war Zootierarzt, sodass er einen großen Teil seiner Kindheit im Leipziger Zoo verbrachte. Später studierte er zwei Jahre Medizin, danach Biologie und Germanistik. Von 2004–2009 war er Student am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Er schreibt Gedichte, Prosa und Drehbücher.
Seit 2006 erschienen mehrere Gedichtbände, u. a.: ich lebe in einem wasserturm am meer, was albern ist (luxbooks 2013), diese kleinen, in der luft hängenden, bergpredigenden gebilde (Verlagshaus Berlin 2016), langsames ermatten im labyrinth (Venedig-Gedichte, Verlagshaus Berlin 2019) und panik/paradies (Verlagshaus Berlin 2023).
Letzte Prosapublikationen: Aufzeichnungen eines albernen Menschen (Erzählungen, Verlagshaus Berlin 2014), Oda und der ausgestopfte Vater (Zoogeschichten, kreuzerbooks 2018) und Freudenberg (Roman, Voland & Quist/Edition Azur 2022). Carl-Christian Elzes Debütroman Freudenberg stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Lyrikpreis München (2010), dem New-York-Stipendium der Max Kade-Foundation (2010), dem Joachim-Ringelnatz-Nachwuchspreis (2014), dem Rainer-Malkowski-Stipendium (2014) und einem Stipendium im Deutschen Studienzentrum Venedig (2016). 2023 ist er Stadtschreiber von Dresden.
Carl-Christian Elze ist Mitbegründer der Leipziger Lesereihe niemerlang, Monatsjuror bei lyrix, dem Bundeswettbewerb für junge Lyrik, und Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.