„Braucht die Menschheit eine Krise, um sich elementaren Fragen zu stellen? “ Marjana Gaponenko, Schriftstellerin_Odessa 14.4.2020

Liebe Marjana, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Es hat sich wenig verändert. Den Morgen beginne ich mit einem selbst gemahlenen Kaffee (schwarz, ohne Milch und Zucker). Dann schminke ich mich als eitle Ukrainerin und kleide mich vollständig an. Zu guter Letzt gehe ich zu meinem Parfümschrank und überlege lange, ob ich heute auf Moschus, Iris oder Weihrauch Lust habe. Den Rest des Tages verbringe ich am Schreibtisch. Ab und zu schaue ich nach meiner Katze und gegen Mittag nach meinem Mann, der nun auch im Home Office arbeitet. Abends sind wir beide im Stall. Wir ziehen Leuchtwesten an und gehen mit unseren Pferden in den Feldern spazieren. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie wunderschön der Nachthimmel ist, der Duft blühender Obstbäume. An solchen Abenden möchte ich am wenigsten einem läppischen Virus erliegen.

 

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Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Überleben, auch wirtschaftlich. Außerdem finde ich es wichtig, dass wir bald unsere bürgerlichen Grundrechte wieder uneingeschränkt wahrnehmen können.

 

 Es wird jetzt ein Neubeginn sein, von dem wir gesellschaftlich und persönlich stehen werden. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?

Ich stelle fest, dass viele Menschen versuchen, dieser Krise Gutes abzugewinnen:

Entschleunigung
Freuden eines gechillten Nichtstuns
Das aufkommende Wir-Gefühl.
Besinnung auf das, was wirklich zählt.

Doch braucht die Menschheit eine Krise, um sich diesen elementaren Fragen zu stellen? Und kann man auch ohne Corona Rücksicht auf einander nehmen, kann man auch ohne Corona der alten Nachbarin einfach so einen Kilo Äpfel vor die Tür stellen? Die Rolle der Literatur in/nach der Krise und überhaupt bleibt für mich unverändert, sie kann alles und muss gar nichts, außer: die moralische Keule im Keller lassen.

 

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Was liest Du derzeit?

Die Macht der Gerüche (Eine Philosophie der Nase) von Annick Le Guérer

 

 

Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?

Ich hätte stattdessen ein Zitat aus Bruce Chatwins letztem Roman „Utz“, der für immer zu meinen Lieblingsbüchern gehören wird. Dieses Zitat stelle ich auch am Anfang meines Romans, an dem ich gerade arbeite.

„Er hatte wie immer recht gehabt. Die Tyrannei schafft sich ihre eigenen Echokammern – ein leerer Raum, wo undeutliche Signale ziellos herumschwirren, wo ein Murmeln oder eine Anspielung Panik verursachen; und am Ende ist es wahrscheinlicher, dass die Repressionsmaschine nicht durch Kriege oder Revolutionen verschwindet, sondern mit einem Windstoß, oder dem Geräusch fallender Blätter.“

 

Vielen Dank für das Interview liebe Marjana und viel Erfolg für Deinen  großartigen Roman „Der Dorfgescheite. Ein Bibliotheksroman“ ,C.H.Beck Verlag 2018, wie Dein aktuelles Romanprojekt und persönlich alles Gute!

 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Marjana Gaponenko, Schriftstellerin

 

Weitere Informationen: 

http://www.marjana-gaponenko.de/

 

30.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Der Neubeginn ist Verzicht – wir hinterlassen schon genug Saustall“ Helena Adler, Schriftstellerin_Wien 13.4.2020

Liebe Helena, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Fast so wie immer. Irgendwann in der Nacht brüllt mein Sohn Mama läuft zu mir und schlüpft unter die Bettdecke. Um spätestens sechs weckt er mich auf, indem er den Vorhang aufreißt, um mich zu blenden und zu prüfen, ob ich zerfalle. Ich kneife meine Augen zusammen, fluche in Kinderformeln und spiele einen theatralischen Vampir. Das ist sein erstes Frühstück. Mein Mann schlurft verschlafen vom Atelier herein, legt sich zu uns und ist beleidigt, weil er keinen Platz mehr findet, er quetscht sich an die Kante und beklagt sich darüber, eine Randfigur in unserer Familie zu sein. Ich mach dem Großen Kaffee und dem Kleinen Haferbrei mit Milch. Irgendwann wechseln wir uns mit der Kinderbetreuung ab. Manchmal schreiben wir die Minuten auf. Mein Sohn und ich knacken Eispfützen mit dem Fahrrad, bauen ausgeklügelte Höhlensysteme mit Decken, Sesseln und Wäscheständern und schauen uns riesige Pappebücher mit Darstellungen von Vogelarten an. Wir drapieren seine Steine- und Fossilliensammlung. Wir sind Forscher am Nordpol und sitzen an Deck unseres Eisbrechers, also auf dem breiten Fensterbrett. Während ich koche, holen meine beiden Ungestümen eine riesige Gartenfolie und bauen sich aus der provisorischen Holzbrett-Schaukel ein Piratenschiff mit Segel. Sie lehnen sich gegen den eisigen Sibirienwind auf, schreiten ihm mit Säbeln entgegen und trotzen allem Widrigen. Sie machen es sich zu nutze. Am Abend putze ich meinem Sohn die Zähne, danach erzählt ihm mein Mann eine Geschichte. Sobald die vorbei ist, lege ich mich zu ihm und warte bis er eingeschlafen ist.

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Galgenhumor! Und wenn er noch so abgründig ist, der Humor ist eine gute Bewältigungsstrategie und hilft über vieles hinweg. Zumindest war es bei mir immer so. Und sonst das Übliche: Hoffnung, Trost, Ablenkung, Verdrängung und Liebe in jeder noch so kleinen Form und Geste. Bei alledem darf man diejenigen nicht vergessen, denen es nicht so gut geht wie uns. Ich habe auch in meinem nahen Umfeld Menschen, die kein Essen mehr auf den Sozialmärkten bekommen, weil diese längst geschlossen haben. Und nicht jeder hat eine Familie hinter sich, die unterstützend eingreifen kann.

 

Es wird jetzt ein Neubeginn sein, vor dem wir gesellschaftlich und persönlich stehen werden. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?

Die Rolle der Literatur ist derzeit am ehesten die Dokumentation. Vielleicht noch das Anbieten von Blickwinkeln. Ein Neubeginn besteht im Verzicht jedes einzelnen von uns. Im Aufhören zum Beispiel. Aufhören mit Aufschieben, aufhören mit weitermachen wie bisher. Ablegen von schlechten Gewohnheiten. Das ist ungemütlich, ja. Aber notwendig und absolut unsere Pflicht, wenn wir an unsere Kinder denken, denen wir schon genug Saustall hinterlassen. Ich erinnere mich oft an Carl Popper, der sagte: „Wir wissen nichts, das ist das Erste. Deshalb sollen wir sehr bescheiden sein, das ist das Zweite. Dass wir nicht behaupten zu wissen, wenn wir nicht wissen, das ist das Dritte.“ Also auch ein bisschen mehr Bescheidenheit und Demut. Aber zugleich auch mehr Gelassenheit und die Bewahrung eines kritischen Blickes, bei dem man nicht nur die Lieder zuschlägt, der auch ein Blinzeln erlaubt, sodass die Augen nicht ganz austrocknen. Es ist legitim in Zeiten wie diesen, dass wir die Meinung, die wir noch am Vortag hatten, am nächsten revidieren.

 

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Was liest Du derzeit?

Alles, was so herumliegt, die Klassiker. Jelinek, Handke, Celan, Rilke, Schiller, Camus, Goethe. Auch in Géza Csáths Bücher lese ich immer wieder hinein. Und, nachdem ja gerade mein eigenes Buch erschienen ist, bin ich auch fokussiert auf die anderen Neuerscheinungen: Birigt Birnbacher „Ich an meiner Seite“, Sara Jäger „Nach vorne, nach Süden“, Anna Herzig „Herr Rudi“, Monika Helfer „Die Bagage“, Karin Peschka „Putzt euch, tanzt, lacht“, Valerie Fritsch „Herzklappen von Johnson & Johnson“, Leif Randt „Allegro Pastell“, Lutz Seiler „Stern 111“ usw.

 

Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?

Der Besorgte kümmert sich um den Geschundenen. Und der Geschundene um den Geschändeten. Der Geschädigte flickt den Verwundeten. Der Vergessene lässt den Besiegten siegen und der Besiegte hilft dem in die Knie Gezwungenen wieder auf. Die Verwaiste heiratet den Verwitweten. Der Fehlgeleitete zeigt dem Entrückten den Weg. Der Geächtete arbeitet für den Geknechteten und der Gescheiterte vergipst den Gebrochenen. Der Gezeichnete glättet den Vernarbten. Der Vernarbte krönt den Gefallenen. Der Entrechtete küsst den Geächteten. Die Gelähmten sprechen über Trost. Der Beschädigte salbt den Ruinierten. Der Vernichtete findet den Verlorenen und der Verlorene verewigt den Vernichteten. Der Ausgeschlossene verbindet die Entkoppelten. Der Gehörlose führt den Blinden. Der Blinde erzählt dem Verstummten und der Verstummte findet Besänftigung im geschriebenen Wort. Der Erniedrigte beschenkt den Enteigneten und der Enteignete erbt ein Land, in dem die Entmachteten Könige sind. Und die Vertriebenen und Verbannten finden Zuflucht im Gespräch, jeder ein Stück Heimat in einem anderen Dialekt. Und den Gescheiterten gehört das Wort. Wörter werden zu ihren Familien, und die Sprache wird zu ihrer Heimat, ihrem wichtigsten Gut.

(Helena Adler, „Die Infantin trägt den Scheitel links“, Jung und Jung Verlag)

 

Vielen Dank für das Interview liebe Helena, viel Freude und Erfolg für Deinen großartigen aktuellen Roman und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Helena Adler, Schriftstellerin

Aktueller Roman von Helena Adler: „Die Infantin trägt den Scheitel links“, Jung und Jung Verlag

 

29.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Hoffnungsvoll und präsent bleiben – in Leben und Kunst“ Daniela Turner, Schauspielerin_Villach 12.4.20

Liebe Daniela, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich bin mit meinen zwei Jungs jetzt schon seit 2 Wochen in selbstgewählter Quarantäne in unserer zwar sehr gemütlichen, aber kleinen Wohnung. Wir haben vor allem am Vormittag einen sehr strukturierten Zeitplan, damit das „homeschooling“ gut funktioniert. Der Zeitplan ist wichtig, damit wir alle ein wenig kontrolliert bleiben. Wir kochen meistens gemeinsam und am Nachmittag ist Zeit für freies Spiel, gemeinsames Bewegen und Herumtollen und Kreatives. Als alleinerziehende Mutter bin ich noch ein bisserl mehr gefordert, da sich wirklich rund um die Uhr alles auf mich konzentriert und mir oft der Austausch mit einer anderen erwachsenen Person fehlt.

 

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Zusammenhalt im Sinne von „Kümmern“. Menschen kontaktieren, die man mag, die einem am Herzen liegen, die man liebt, und ihnen damit zeigen, dass sie wichtig sind. Mit ihnen schöne Erinnerungen wieder lebendig machen und sich gegenseitig zum Lachen bringen. Positive Worte, Bilder und Gedanken verbreiten…Lachen und Liebe sind das beste Tonikum für das Immunsystem und die Seele erfährt in Zeiten der Krise einen stärkenden Aufwind.

 

 

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater und der Kunst zu?

Wesentlich wird sein, resilient, hoffnungsvoll und präsent zu bleiben. Die Verbindung mit sich selber aufrecht erhalten und Dankbarkeit zu leben.

Wenn nichts mehr auf der Welt funktionierte, so waren es doch immer die Künstler, die es geschafft haben, Menschen für Momente, für Zeiträume, in andere Welten zu beamen, um so von Leid, Angst und Traurigkeit plötzlich losgelöst, wieder hoffnungsvolle und schöne Gefühle in die Herzen der Menschen zu zaubern. Auch wenn vor allem die Kunst- und Theaterszene jetzt einen krassen Tiefpunkt erleidet, so glaube ich daran, dass sie wie der Phönix aus der Asche steigen und mehr Wertschätzung denn je erfahren wird.

 

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Was liest Du derzeit?

Charles Bukowski

 

Welches Zitat, welchen Text aus Deinen aktuellen Theaterprojekten möchtest Du uns mitgeben?

„Das Gebot ist: Sich verlassen, dass Augen den Augen genügen, dass ein Grün genügt, dass das Leichteste genügt. So dem Gesetz gehorchen und keinem Gefühl. So der Einsamkeit gehorchen. Einsamkeit, in die mir keiner folgt.“

Undine geht – Ingeborg Bachmann

 

Vielen Dank für das Interview liebe Daniela und viel Erfolg für Deine aktuellen wie kommenden Theaterprojekte und persönlich alles Gute!

 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Daniela Turner, Schauspielerin

 

27.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig

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„Vielleicht birgt ja gerade der jetzige Zeitpunkt die größte Chance für Utopien“ Lisa Schrammel, Schauspielerin_Wien 11.4.2020

Liebe Lisa wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Von Langeweile bis jetzt keine Spur, auch exzessive Putz- oder Ausmistanfälle sind bisher noch ausgeblieben. Zwar hab ich im Augenblick keine Proben oder Vorstellungen aber da ich seit einigen Jahren auch vermehrt als Sprecherin arbeite und zum Glück über ein Home Studio verfüge, gibt es in dem Bereich immer wieder was zu tun. Ein paar Aufträge sind natürlich weggefallen, dafür kamen wieder neue hinzu. Alles in allem fühle ich mich sehr privilegiert, da ich durch meine Festanstellung am TAG keine Existenzängste zu haben brauche. Einmal die Woche kaufe ich für meinen Vater ein, ansonsten versuche ich mir gerade bewusst Zeit zu nehmen für die Dinge, für die im Alltag oft wenig Zeit bleibt wie ausgiebig kochen, wieder öfter mal was backen, lesen, Yoga machen, damit das viele Essen nicht allzu sehr auf die Figur schlägt und vor allem viel mit lieben Menschen (video)telefonieren. Also nur physical distancing und kein social distancing.

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich finde es schwierig Dinge in diesem Kontext zu verallgemeinern, da die aktuelle Situation für Jede und Jeden unterschiedlich große Schwierigkeiten und Herausforderungen mit sich bringt und auch diese wiederum ganz individuell empfunden werden können. Für mich ist im Moment Solidarität und Wertschätzung ein wichtiges Thema, vor allem gegenüber den Menschen und Dingen, die wir oft als Selbstverständlichkeiten ansehen. Trotz all der Widrigkeiten ist es aber wichtig sich bewusst zu machen, dass diese Ausnahmesituation, die für uns alle neu ist, nur temporär ist und die Entbehrungen, die wir gerade hinnehmen müssen noch viel schlimmer sein könnten.

 

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater und der Kunst zu?

Es wäre (zu) schön, wenn nach diesem globalen Ereignis gewisse Strukturen ernsthaft hinterfragt werden würden. Vielleicht birgt ja gerade der jetzige Zeitpunkt die größte Chance für Utopien. Was Theater und Kunst betrifft, hoffe ich in erster Linie natürlich, dass wir in absehbarer Zeit Kultur wieder hautnah und live erfahren können und dieses unmittelbare, gemeinschaftliche Erlebnis dann vielleicht noch mehr zu schätzen wissen, jetzt wo wir gerade erfahren, wie es ist auf einmal keinen Zugang mehr zu Theater, Ausstellungen, Konzerten und dergleichen zu haben.

 

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Was liest Du derzeit?

„Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky, ein humorvoller und berührender Roman mit herrlich skurrilen Elementen.

 

 

Welches Zitat, welche Szenerie aus Deinen aktuellen Theaterprojekten möchtest Du uns mitgeben?

Bis vor kurzem haben wir noch an Fahrenheit 451 geprobt, dann kam Covid 19 und plötzlich befanden wir uns selbst inmitten einer realen Dystopie. Meine Figur sagt in einer Szene, dass die Menschen überhaupt keine Zeit mehr füreinander haben und keine richtigen Gespräche mehr führen. Dass im Augenblick in meinem Umfeld das Gegenteil der Fall ist, zählt für mich definitiv zu den erfreulichen Aspekten der Krise.

 

Vielen Dank für das Interview liebe Lisa und auf ein baldiges Wiedersehen im TAG Theater Wien wie persönlich alles Gute!

 

5 Fragen an KünstlerInnen: Lisa Schrammel, Schauspielerin

http://www.lisa-schrammel.com/

 

26.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

Foto_Walter Pobaschnig_2018 „Der Untergang des österreichischen Imperiums“ _TAG Theater Wien

„Wir befinden uns auf einem Schiff, das wir entweder gemeinsam retten oder damit untergehen“ Zdenka Becker, Schriftstellerin, 10.4.2020

 

Liebe Zdenka, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Auf den ersten Blick hat sich bei meinem Tagesablauf nicht viel verändert. Ich schreibe am Vormittag, bin in meinem Arbeitszimmer allein. Zu Mittag koche ich wie immer, vielleicht jetzt etwas bewusster, mache aus jedem Mittagessen ein kleines Fest.

An Nachmittagen gehe ich mit meinem Mann für etwa zwei Stunden spazieren. Das neue daran ist, dass wir in der Nähe bleiben und unseren Wald, die Au-Landschaft und die Seen neu entdecken. Was mir aber sehr fehlt, ist der Kontakt zu meinen Freundinnen, Besuch der Kulturveranstaltungen und vor allem meine Kinder und Enkelkinder gehen mir schmerzhaft ab. Anrufe, Fotos und Videos ersetzen nicht die echten Umarmungen. Unser jüngster Enkel ist erst drei Wochen alt und wir haben ihn nur einmal, kurz nach seiner Geburt besucht. Nicht zu sehen, wie er sich von Tag zu Tag entwickelt, tut weh.

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich denke, wir sollen die Situation so nehmen, wie sie ist. Aus allem das Beste machen. Sich ergeben, fürchten und verzweifeln bringt nichts. Die Angst schwächt den Menschen und das ist etwas, was wir im Moment am allerwenigstens brauchen.

Ich finde es wunderbar zu sehen, wie sich die Menschen gegenseitig helfen und zu einander halten. Physisch auf Abstand zu gehen, muss nicht immer Entfernung bedeuten. Mir ist aufgefallen, dass die Menschen, mit denen ich in der letzten Zeit telefoniere, menschlicher klingen und viel mehr Interesse an einem zeigen.

 

In Deinen Romanprojekten geht es auch wesentlich um Neubeginn/Ankommen im täglichen gesellschaftlichen Prozess.

Auch jetzt wird es ein – in einem anderen Kontext – Neubeginn sein, von dem wir gesellschaftlich und persönlich stehen bzw. stehen werden. Was ist dabei wesentlich?

Alles, was rund um uns gerade passiert, hat einen tieferen Sinn, als es auf den ersten Blick erscheint. Unabhängig der Landesgrenzen, Sprachen und Nationalitäten befinden wir uns auf einem Schiff, das wir entweder gemeinsam retten oder damit untergehen. Es geht um viel mehr als um geschlossene Geschäfte, abgesagte Veranstaltungen oder entgangene Einkommen. Es geht um Gemeinschaft und Solidarität. Es geht jetzt um richtige Entscheidungen.

Darüber, dass uns die Globalisierung mit ihren Produktionsabhängigkeiten über den Kopf gewachsen ist, brauchen wir nicht zu diskutieren. Der übermäßige Konsum, den wir in den letzten Jahrzehnten betrieben haben und die Krankheit, die mit Waren- und Menschen-Transporten rund um die Erde fliegt, zeigen, wie sehr wir uns als Menschheit in die Irre hineinmanövriert haben. Um es mit Cicero auszudrücken „Fang nie an aufzuhören, hör nie auf anzufangen“, ist es nie zu spät, den falschen Weg zu verlassen und sich neu zu orientieren.

Der Neuanfang ist eine große Chance. Schon jetzt während der Quarantäne merken wir, wie uns die Gespräche mit lieben Menschen guttun, wir mehr Zeit für einander haben, sich die Natur erholt, Luft und Wasser sauberer sind. Sogar der Smog über China soll sich gelichtet haben.

 

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Was liest Du derzeit?

Es waren zwei Bücher, die mich begeistert haben: „Mein sanfterer Zwilling“ von Nino Haratischwili“ und „Die Bagage“ von Monika Helfer. Beide Bücher sind ganz unterschiedlich und beide auf ihre eigene Art großartig.

 

Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?

„Gleich am Anfang meiner Österreichjahre dachte ich oft, einen Brief, eine Nachricht zu schreiben und sie in einer dicht verschlossenen Flasche auf die Reise zu schicken. Heute reicht es mir zu wissen, dass wir alle verbundene Gefäße sind, dass die Nachrichten, die ich sende, auch ohne die Flaschenpost bei den richtigen Menschen ankommen werden.“ (Ein fesches Dirndl, Gmeiner Verlag, 2019)

 

Vielen Dank für das Interview liebe Zdenka, viel Freude und Erfolg für Deinen großartigen aktuellen Roman und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Zdenka Becker, Schriftstellerin

Aktueller Roman von Zdenka Becker: „Ein fesches Dirndl“ Gmeiner Verlag, 2019. 

http://www.zdenkabecker.at/

 

26.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Literatur muss sich aus dem Fenster lehnen: ungeschminkt und unfrisiert“ Anna Baar, Schriftstellerin _ Klagenfurt 9.4.20

 

Liebe Anna, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Bis auf die Abendstunden, die ich oft und gerne bei Vronis selbstgemachtem Hollersaft im Theatercafé verbringe, hat sich am Alltag in Klagenfurt, wo ich jetzt sozusagen feststecke, wenig geändert. Tagsüber bin ich bis auf zwei „Freigänge“ mit meinem Boxerhund Levi ohnehin zuhause bei der Arbeit. Ich stehe also wie immer spätestens um sieben auf, trinke eine Tasse Kaffee, hirsche mit Levi eine Stunde lang durch den nahegelegenen Wald, arbeite bis Mittag, koche für meinen Sohn David und mich, arbeite bis vier weiter, drehe mit Levi eine zweite Runde. Danach wird es ungewohnt.

Dass das Leben draußen nicht seinen gewohnten Lauf nimmt, hat für mich aber auch etwas Beruhigendes, weil ich ja einsamkeitserprobt bin, ungern einkaufen gehe (schon gar nicht das, was man shoppen nennt) und größere Gesellschaften nicht gut ertrage. Jetzt fällt das Gefühl weg, anders, also irgendwie absonderlich zu sein. Andererseits beunruhigt mich der Gedanke, nicht einfach aufbrechen zu können, wenn ich wollte – und vieles will man ja erst recht, sobald man es nicht mehr kann. Ich bin es gewohnt, zwischen Klagenfurt und Wien zu pendeln, dann und wann auf meine dalmatinische Insel zu fahren. Und natürlich fehlen jetzt wichtige Menschen, vor allem Ben, mein älterer Sohn, der seit zwei Jahren in Wien lebt, oder mein ebenfalls dort lebender Bruder, die Eltern und Freunde ….

Auch dass die Grenzen zwischen meinen Heimaten wieder dicht sind, bereitet mir Unbehagen. Wir wollten meine Ende Dezember gestorbene Großmutter in der Osterwoche auf der Insel Brač „beisetzen“, wie man so sagt. Jetzt steht ihre Urne in unserem Inselhaus auf dem Komon vis-à-vis ogledala, wie sie die nach Aceton, Medizin und Schuhpaste duftende Kommode gegenüber dem Spiegel immer genannt hat, und es kommt mir so vor, als würde dort nun ein lieber Flaschengeist die Stellung halten und sich ins Fäustchen lachen über die Quarantäne, die uns Hinterbliebene zum Aufschub seiner unfreiwilligen „letzten Ruhe“ zwingt.

Aus meiner Lesereise in die USA, die für April geplant war, wird vorerst ebenfalls nichts.

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Besinnung – so ein aus der Zeit gefallenes Wort, das jetzt mitten in die Zeit trifft. Vielleicht gelingt es uns durch die notgedrungene Einschränkung, unsere Freiheit, Frieden, Wohlstand und all das viele Gute, mit dem wir hier sonst noch gesegnet sind, zu schätzen und Scheinbedürfnisse zu überdenken. Wir werden ja alle zurückgeworfen auf die Frage: Was brauche ich wirklich? Viele, viele konnten ja auch vor der so genannten Krise nicht uneingeschränkt teilhaben, und nicht aufgrund geschlossener Geschäfte, sondern schlicht, weil sie es sich nicht leisten konnten, auf Urlaub zu fliegen, Ski fahren zu gehen oder mehr als unbedingt nötig einzukaufen. Bestimmt erfahren jetzt unzählige Menschen Erleichterung, weil sie nun eine Zeit lang nicht das Gefühl haben müssen, nicht mithalten zu können.

 

Es wird jetzt ein Neubeginn sein, von dem wir gesellschaftlich und persönlich stehen werden. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?

Vor wenigen Wochen noch war viel von ökologischen Fußabdrücken die Rede, aber wenig davon, was wir auf Erden an Gutem hinterlassen, was wir in unserer Reichweite zum Beispiel zum Frieden beitragen bei allem Kampfgeist …. Ich sage mir jetzt immer öfter: Sei für andere da! Und lern gefälligst verzeihen!

Lustig ist, dass wir zwar zum Rückzug verdonnert wurden, einander aber mehr und mehr ins Allerprivateste einlassen. Dieser Blick durchs weit geöffnete Schlüsselloch! Mich interessiert oft gar nicht so sehr, was einer in einer Skype- oder Video-Botschaft von sich gibt, aber ich schaue mir begeistert an, wie er haust, mit welchen Bildern und sonstigen Siebensachen er sich umgibt, welche Bücher im Regal im Hintergrund zu sehen sind.

Und apropos Bücher: Auch in der Literatur wird es eine neue Öffnung brauchen, werden die Texte wieder mehr mit ihren Verfassern zu tun haben, also wenigstens ihre Handschrift tragen müssen, um glaubwürdig zu sein. Gerade sie wird sich von den Gesetzen des Marktes befreien müssen, will sie mehr als Placebo oder Narkotikum sein. Der flotte Plotter ist kein Revolutionär, sondern Unterhalter. Unterhaltung allerdings, so toll ihre aufheiternde oder anästhesierende Wirkung in schweren Zeiten ist, schreibt nicht Geschichte. Ich hoffe, dass der Lagerkoller mehr und mehr Schreibende in einen heilsamen Wahnsinn treibt, sie zu Aufrührern, zu Aufständischen macht, solchen, die sich, um im Bild dieser Tage zu bleiben, weit aus den Fenstern lehnen. Ungeschminkt und unfrisiert.

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Was liest Du derzeit?

 Alte Briefe lieber Freunde, und Briefe meiner verstorbenen Großeltern an mich als Kind. Außerdem Peter Handkes „Das zweite Schwert“. André Hellers neues Buch „Zum Weinen schön, zum Lachen bitter“ liegt schon auf dem Nachttisch bereit. Und ich freue mich auf den gerade erst erschienenen Gedichtband „Erste und letzte Gedichte“ meines lieben, so sehr vermissten Freunds Fabjan Hafner.

 

Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?

In meinem nächsten Roman, an dem ich dieser Tage noch ein bisschen herumfeile, befindet sich der Ich-Erzähler seltsamerweise in einer ähnlichen Lage wie wir alle jetzt. Er sitzt in einem Zimmer, glaubt sich da festgehalten. Gegen Ende stellt sich heraus: Er ist Gefangener seiner selbst. An einer Stelle meint er: „Wer Geschichten wie ich erzählt, braucht nirgendwo hin zu gehen. Er sollte wohl in der Lage sein, sich die Ferne zu denken.“ Und dann: „Wozu eine Sehnsucht stillen, wenn sie der Antrieb ist? Obwohl mich in seltenen Augenblicken dieses nervöse Fernweh befällt, das den Menschen zum Aufbruch bewegt, und nicht aus Wanderlust, Neugierde, Ehrgeiz, sondern weil es das Leben so will, rühr ich mich nicht vom Fleck. (…) Das Leben draußen geht weiter. Das ist es, was mich stört.“

 

Vielen Dank für das Interview liebe Anna, viel Freude und Erfolg für Dein neues Romanprojekt wie Deinen großartigen aktuellen Roman und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Anna Baar, Schriftstellerin

Aktueller Roman von Anna Baar: „Als ob sie träumend gingen“, Wallstein Verlag 2017. 

https://annabaar.at/anna-baar.html

 

 

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„Schützt euch vor dem Fehlglauben, nur Sinnvolles machen zu dürfen“ Angela Lehner, Schriftstellerin_Wien 8.4.2020

 

Liebe Angela, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus? 

Ich habe Glück. Ich bin größtenteils mit dem Touren durch und befinde mich ohnehin gerade auf einem Schreib- und Rechercheaufenthalt in Stuttgart. Morgens versuche ich zu Schreiben. Wenn ich merke, dass ich von der aktuellen Situation bedrückt bin, mache ich mir einen Kaffee, höre Musik und notiere gute Gedanken. Die les ich mir dann selber vor und gehe wieder arbeiten. Am Nachmittag geh ich in die Sonne oder mache Sport. Am Abend handarbeite ich (sticken, stricken, Freundschaftsbänder, zeichnen,…) und schaue Gilmore Girls oder ich lese. Der zwischenmenschliche Kontakt geht mir schon ab, aber im Vergleich zu den Leuten, die sich jetzt angackn, weil sie in Isolation Homeoffice machen müssen, bin ich es ja gewohnt, viel allein zu sein. Mich gut selbst aushalten zu können ist meine Superpower, die ich in die Corona-Krise mitbringe.

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Besonnenheit und Müßiggang. Sich nicht von der Amygdala den Tag versauen lassen, sondern rational Fakten und Wahrscheinlichkeiten durchdenken.

Müßiggang würde ich in der jetzigen Zeit gerne allen als Handlungsanweisung mitgeben. Schützt euch vor dem Fehlglauben, nur Sinnvolles machen zu dürfen.

 

 

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Es wird jetzt ein Neubeginn sein, von dem wir gesellschaftlich und persönlich stehen werden. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?

Das weiß man ja gar nicht, was mit Subventionen und ausreichend Zeit nicht doch wieder an seinen alten Platz zurückrollen wird. Natürlich wird es eine längere Übergangsphase und Veränderungen geben. Ich sehe aber ganz viel Potential in den Leuten selbst. Unglaublich eigentlich, was sich Selbständige und Kulturschaffende jetzt schon alles als Zwischenlösungen einfallen haben lassen. Ich hatte zum Beispiel schon meine erste Video-Lesung beim Homestage-Festival. Außerdem habe ich grundsätzlich schon einen tiefen Glauben daran, dass der Mensch es im Leben immer wieder schaffen kann, zu seinen alten beschissenen Verhaltensweisen zurückzufinden.

Die Rolle der Literatur, ja. Jetzt, wo wir alle auf uns selbst und unsere Gedankenwelten zurückgeworfen sind, merken wir ja vielleicht doch, dass Kunst und Kultur ja gar nicht so ein Schas ist, den man bei der Planung eines jeden Finanzhaushaltes als erstes wegrationalisieren muss. Den Menschen, der die Isolationszeit ohne Filme, Literatur oder Musik verbringt, schau ich mir an. Man kann nur hoffen, dass das den Leuten nach der Krise im Gedächtnis bleibt. Dass man später nicht wieder im Kontext der Entlohnungsfrage mit aller Feigheit behauptet, Kunst- und Pflegeberufe seien nicht unbedingt „systemrelevant“.

 

Was liest Du derzeit?

Der Gesang der Fledermäuse – Olga Tokarczuk
Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?

Gut passt eine Stelle aus „Normal People“ von Sally Rooney:

 

„Still, Connell went home that night and read over some notes he had been making for a new story, and he felt the old beat of pleasure inside his body, like watching a perfect goal, like the rustling movement of light through leaves, a phrase of music from the window of a passing car. Life offers up these moments of joy despite everything.“

 

Vielen Dank für das Interview liebe Angela, viel Freude und Erfolg für Dein neues Romanprojekt wie Deinen großartigen aktuellen Roman und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Angela Lehner, Schriftstellerin

Aktueller Roman von Angela Lehner: Vater Unser, Hanser_BerlinVerlag 2019

 

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„Von schlechten Eltern“ Tom Kummer. Roman. Tropen/Klett-Cotta Verlag.

 

„Von schlechten Eltern“ Tom Kummer. Roman. Tropen/Klett-Cotta Verlag.

Weit nach Mitternacht – „Fahrtrichtung Osten. Kein Gegenverkehr. Tote Dörfer, als gebe es eine Ausgangssperre“. Bei jeder Fahrt kreuzen sich Ziel, Straße und Gedanken. Asche leuchtet auf der Fahrbahn und auf der Windschutzschutzscheibe erscheint ein Gesicht. Jetzt wird es Zeit für die Tablette, um den Geschäftsmann ins Hotel Bellevue zu bringen. Wenigstes der Gast soll ankommen, wenn er es schon nicht kann. Sein Blick fällt auf das Foto der Söhne und ihrer Mutter. Sie ist tot wie auch die Frau des Fahrgastes. Über den Tod zu sprechen ist in der Nacht leichter. Aber Wahrheiten gibt es hier nicht. Als sie angekommen sind, nimmt er das hohe Trinkgeld nicht an. Er kehrt zurück in die Wohnung zu seinem Sohn.

Nächste Nacht geht es weiter. Tiefer in die Nacht. Immer weiter und weiter. Sätze werden gewechselt und Bilder steigen in seinem Kopf auf. Gespräche über Tolkien und Sexualität. Dann das warme Wasser des Sees und die Verwandlung in Schrecken. Es ist als ob er im Auto allen Bildern der Vergangenheit entkommen wolle und doch sie auch wecke. Wenn die Fahrt endet, beginnt der Tag ohne Ende. Und dann wieder die Nacht. Das Unterwegssein ins Nirgendwo. Doch wer ist auf diesem Weg schlussendlich? Er am Lenkrad oder die Gesichter am Rücksitz? Ein Mensch oder ein Land?…

Der Schweizer Autor Tom Kummer legt mit seinem Roman „Von schlechten Eltern“ ein mitreißendes existentielles roadmovie vor, das in großer direkter Sprachkraft Sinn und Leben reflektiert. Leserin und Leser sitzen gleichsam mit dem Ich-Erzähler am Lenkrad und machen sich auf zu nächtlichen Begegnungen, Gesprächen und Erinnerungen wie unerträglichem Schmerz.

Ein Roman, der sehr selbstbewusst und unbeirrt sprachliche Wege geht und damit zu einer spannenden Einladung in Erlebnis und Überraschung wird.

 

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„Diese seltsame jetzige und dann schon gestrige Situation in Kunst zu verwandeln“ Leander Fischer, Schriftsteller_7.4.2020

 

Lieber Leander, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Lieber Walter, absurderweise hat sich mein Tagesablauf kein bisschen verändert. Albert Vigoleis Thelen spricht ja schon vom Schriftsteller als Stubenhocker, und Selbstbespiegelung geht nicht nur in „Die Insel des zweiten Gesichts“ auf Mallorca zwischen den eigenen vier Wänden am besten. Da muss man ja bloß ehemalige FPÖ-Koryphäen fragen. Auch Musik, die Nachrichten, Satireserien und Filme, wissenschaftliche sowie fiktionale Literatur, die mein Schreiben hauptsächlich speisen, konsumiere ich recht gerne windgeschützt und in geheizten Räumen. Traurig wird es wohl erst, wenn der Frühling draußen hinterm Fenster vor der Tür steht, in der Tür und sagt: „na, versucht mal, mit mir zu telefonieren.“ Klimawandel, könnte man sich auch mal wieder drüber unterhalten. Ich glaube, der CO²-Ausstoß geht runder grade, so ganz generell.

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Dasselbe wie immer, keine Panik, Gelassenheit, Gymnastik, Lesen.

 

Welche Bezüge aus Deinen Literaturprojekten nimmst Du jetzt in die Bewältigung der aktuellen Situation mit und welche Rolle kommt der Literatur in diesen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu?
Ich schreibe gerne über Tüftler, die sich zurückziehen, um herumzubasteln. Dummerweise erweisen sich Buchstaben recht oft als widerspenstiges Material. Insofern ist die Frage vielleicht gar nicht, welche Bezüge ich aus dem Schreiben in die Bewältigung der aktuellen Situation mitnehme, sondern viel eher, wie mir die aktuelle Situation dabei hilft, das Schreiben zu bewältigen. Erstmal stellt die jetzige Phase der Pandemie ja eine in unserer neoliberalen Epoche extrem rare Ressource zur Verfügung, und zwar Zeit. Prinzipiell glaube ich, dass Erlebnisse und Erfahrungen aus der Vergangenheit eine ganze Weile verjähren, sozusagen gären müssen im Kunstschaffenden, bevor sie überhaupt in einen Werkprozess einfließen können. Insofern will ich auch meinen, dass der Vorrat an verarbeitbarem Material momentan noch nicht aufgebraucht sein dürfte, und Kunstschaffende das nützen sollten. Ich denke, erst in ein paar Jahren ist es wieder nötig, unsere Wohnungen zu verlassen, uns erneut an die Erdoberfläche zu wagen, um frische Eindrücke zu sammeln wie Eichhörnchen Nüsse. Wahrscheinlich werden wir uns dann aber gar nicht allzu lang mit diesen Früchten beschäftigen, werden sie erstmal vergraben oder liegen lassen, und wieder unseren Winterschlaf antreten, uns in unseren Kobel zurückziehen, uns erneut ans Tüfteln machen, weil eben dann der Tag gekommen sein wird, diese seltsame jetzige und dann schon gestrige Situation in Kunst zu verwandeln. Und sollten uns in der Zwischenzeit, oder auch in der Zukunft, heute, morgen, oder übermorgen trotzdem irgendwann die Ideen ausgehen, wie wir unsere Zeit rumbringen, ein paar gute Bücher gibt es ja schon, „Die Stadt der Blinden“ beispielsweise, „Der Tod in Venedig“ das erst unlängst erschienene, absolut umwerfende Buch „Wie ich in einer mailändischen Trattoria aufwuchs und trotzdem überlebte“, „Die Pest“, und wers noch nicht gelesen hat, Infinite Jest.

 

Was liest Du derzeit?

Momentan lese ich Angela Lehner, Vater Unser, ein Buch, von dem ich von der ersten Seite an überzeugt war, für dessen Lektüre ich mir aber nie die Zeit genommen habe. Die Protagonistin ist in der Irrenanstalt Steinhof interniert, und ich denke oft, okay, liebe Frau Gruber, du hast also Probleme. Schön, das reimt sich sehr unrein aber doch auf Quarantäne. Es ist ein recht lustiges Buch, zu lachen hat man genug. Das tut gut gerade in diesen dunklen Tagen, nur Mut.

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Welchen Textimpuls aus Deinen Literaturprojekten möchtest Du uns mitgeben?

Einen kleinen Teaser in eigener Sache, und zwar einen etwa einseitigen Ausschnitt aus einem Hörspiel, das ich für Deutschlandradio schreibe, verfasst witzigerweise im Oktober vergangenen Jahres, als noch kaum die Rede von Corona war. Ich werde nämlich im Oktober normalerweise jedes Jahr krank:
„Es war derzeit heißt und August. Eine Südwestströmung herrschte und füllte das Sommerloch. Zeitungen feilten an Schlagzeilen und spielten auf Spanische Grippe an. Denn ein Virus kursierte auf den Boulevards und spukte durch Umtrunkstuben von Krug zu Krug. Es reichte eine wiederverwendete Halbe, speichelkontaminiert der Zapfhahn. Alsbald lag ein weiteres Glas daran, wie unstillbare Säuglinge, die im Anschluss Mütter-Väter-Verwandten-Münder küssen. Die Grippe grassierte an Lippen entlang durch Absturzschuppen und infizierte die Filter und Tips herumgereichter Kippen und Spliffs. Die sickness schlich in Wirtslungen und trudelte weiter in den Clubuntergrund, den supersonic-Saibling, die acid-Äsche, das crazy Werk und die ille Forelle, alle am Kanal gelegen. Im Outdoorbereich regnete es Kontakte und nicht allzu selten Gegrapsche. Im Bauch der Hallen hagelte das Stroboskop. Licht brachte die tanzenden Körper erst zum Schwitzen und dann zum Gleißen. Der Film rann langsam nackte Arme hinab und die leichten T-Shirts trieften bald, die schweren Jeans zum Auswringen nass. Die Tropfen krochen in die Socken und flatschten durch die Löcher in zertanzten Turnschuhsohlen zu Boden. Wie frisch gewienert glitschte die Tanzfläche und bald der ganze Club ein einziger Pfuhl. Die Party kochte und die Moleküle hopsten, die Tanzenden rasten in vor Fieber vibrierender Luft. Klang schlug in perlenglänzende Gesichter, Schallwellen drangen in Ohrmuscheln, und zur Sperrstunde strebten alle heim, wie Quellen der Krankheit, die sich ein Delta bahnen aus dem Springbereich der Clubs, der desease Saibling, die amphe-Äsche, das ätzende Werk und die sicke Forelle. Und so sprudelt der Virus mutiert durch Studentenbuden, strudelt Stiegen und Treppenhäuser hinauf, tröpfcheninfiziert die Nachbarn beim sporadischen Hallosagen, setzt sich an Briefkästen und Wassergläsern fest, Zahnputzbecher und DHL-Pakete, danke, dass Sie das annehmen. Die Pandemie legte so viele Kinder flach, dass Herr Gerber eines Morgens ganz alleine in seinem Hallenbad saß. Kein Schwimmschulkurs war da, klasse!“

 

Vielen Dank für das Interview lieber Leander und viel Erfolg für Deine aktuellen Literaturprojekte und persönlich alles Gute!

 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Leander Fischer, Schriftsteller, Deutschlandfunk Preisträger 2019_Klagenfurt. 

 

23.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

Foto_Walter Pobaschnig _ Klagenfurt 2019.

 

https://literaturoutdoors.com

„Literatur wird eine neue Sprache, einen neuen Ausdruck brauchen“ Isabella Feimer, Schriftstellerin_Wien 6.4.2020

 

Liebe Isabella, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Tagesablauf, hm. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass er sich nicht verändert hätte, dass ich drauflos schreiben könnte, wie ich es sonst so in meinen Tagen zu Hause tue. Dem ist gerade nicht so. Ich finde die momentane weltweite Situation bedrückend und beängstigend.

Jeder Tag ist neu, und man kann auch nicht sagen, wie er sich emotional entwickeln wird. Ich glaube, genauso sind meine Tage im Moment auch gestaltet. Mich einem größeren Text zu widmen, vollends in andere Welten abzutauchen, empfinde ich zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwer bis unmöglich… und letztendlich muss alles, was vor der Krise war, vermutlich alle Lebensbereiche, neu überdacht und gestaltet werden.

 

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Besonders wichtig ist, dass wir füreinander da sind. Für die engsten Freundinnen und Freunde, genauso aber für Fremde. Da meine ich, zum Beispiel, die ältere Frau, die mir gegenüber wohnt. Jeden Tag um 18 Uhr klatschen wir und winken einander und verabreden uns, bevor wir die Fenster wieder schließen, für den nächsten Tag.

Es ist wichtig, dass Humor – es kann auch durchaus schwarzer Humor sein – unsere Tage erhellt und dass wir immer noch Schönes sehen – da draußen, und im Inneren.

 

 

Es wird jetzt ein Neubeginn sein, von dem wir gesellschaftlich und persönlich stehen werden. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur zu?

 Ich hoffe, dass es ein Neubeginn wird – oder besser gesagt: die logische Konsequenz dieser Veränderung, in der wir uns befinden – und dass wir alle nicht wieder in alte Muster zurückfallen, in das Konsumieren von Welt, von Dingen wie auch Menschen, sobald es uns wieder gestattet ist und dass das Egoausgerichtete mal ein bisschen um sich schaut und sich von seinen Scheuklappen befreit.

Das wäre die Chance, glaube ich, von der gerade viele ZukunftsforscherInnen reden, eine Neuorganisation von Welt und ihren Mechanismen. Da ist die Literatur natürlich nicht ausgenommen. Auch sie wird die Veränderung in sich aufnehmen, wird vielleicht eine neue Sprache brauchen und neuen Ausdruck … sie wird danach suchen, sie wird beides finden. Und auf diese Texte und Bücher und Stücke und Drehbücher freue ich mich dann.

Die Rolle der Literatur jetzt, möchte ich noch hinzufügen: ist Trost, ist Ablenkung, ist es, den Leser und die Leserin um die Welt, auch ins All und darüber hinaus, zu schicken.

 

Was liest Du derzeit?

Zur Zeit lese ich Gedichte quer durch mein Bücherregal, die Tagebücher von Susan Sontag und „Unrast“ von Olga Tokarczuk. Leider lässt mich meine eigene Unrast nicht allzu lange über Texten verweilen, so lese ich immer nur ein paar Seiten. Dann muss ich aktiv etwas tun, etwas notieren, etwas räumen … ach ja, die „Stardust Interviews“ mit David Bowie lese ich auch gerade. Das Buch war das Geschenk einer Freundin, und wenn ich darin lese, kann ich ihr nahe sein.

 

 

Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinem aktuellen Roman möchtest Du uns mitgeben?

„sich verirren in einem Wald, der smaragdgrün schimmert, das Licht fangen, das sich zwischen Baumkronen hindurchdrängt, über Blätter streichen, Seide atmen hören, sich fallenlassen in ein Bett aus Moos, darin versinken, verweilen wie im Wohlgefühl von zarten Küssen, umschlungen von Liebkosung sein, sich verirren wollen, Irrfahrt into loneliness … für Einsamkeit muss man lange Wege gehen, denke ich, für jene Einsamkeit zumindest, die erfüllend ist, was, denke ich weiter, wenn wir jetzt anhalten und wieder umkehren würden, was wäre, wenn ich das, was vor uns liegt, nie sehen könnte?“

(Das Zitat stammt aus der Erzählung „Monster“.)

 

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Vielen Dank für das Interview liebe Isabella, viel Erfolg Deine großartige aktuelle Erzählung und alle weiteren Literatur- und Kunstprojekte wie persönlich alles Gute in diesen Tagen!

 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Isabella Feimer, Schriftstellerin, Regisseurin

Aktuelle Erzählung von Isabella Feimer: „Monster“ Limbus Verlag 2018

https://isabellafeimer.wixsite.com/news/literatur

 

25.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

Foto_Isabella Feimer

 

https://literaturoutdoors.com