„Kunst ist kein Luxusgut“ Dirk Hülstrunk, Schriftsteller_Frankfurt/Main 23.10.2021

Lieber Dirk, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Wenn ich das wüsste, wäre ich wahrscheinlich erfolgreicher. Hatte schon lange keinen geregelten Tagesablauf mehr. Warte auf Überraschungen aller Art. Aber erst nach dem Kaffee. Werfe alle Planung über den Haufen. Improvisiere mit Worten, Taten, Geräuschen und spätabends mit der Angst vor dem Absturz und dem Schreck, schon wieder eine Zoom-Sitzung verpasst zu haben.  

Seit Corona sitze ich fast nur noch zu Hause am Schreibtisch und rede mit mir selbst und meinen Endgeräten. Der schöne Traum vom internationalen Jet-Set-Künstler-Dasein ist mindestens beschädigt. Die tollen, großen Projekte schon im zweiten Jahr abgesagt oder noch mal verschoben oder vergessen. Dafür bin ich jetzt bei Instagram. Dafür lerne ich endlich mal meine Umgebung kennen und performe als local poet auf Straßen und in Parks. Ich übersetze Graphic Novels und Kinderbücher und schreibe gelegentlich wieder so etwas wie „echte“ Gedichte. Meisten zwischen Mitternacht und Morgengrauen.
Die Bedeutung der Performance von Texten ist vermutlich überschätzt. Geschriebenes läuft wenigstens nicht weg.

Dirk Hülstrunk_Schriftsteller, Soundpoet, Audiokünstler

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wenn ich wüsste, wer wir alle sind, würde ich sagen, bitte weniger Misstrauen, weniger Neid, weniger Missgunst, weniger Rechthaberei. Bitte Ausweitung der Grauzone. Bitte Subtext einfügen. Bitte weitergehen. Und bitte die Demokratie nicht vergessen. Aber natürlich kann ich nur für mich selbst sprechen.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Augen aufmachen und hinsehen. Dann hinsetzen, zuhören, nachdenken. Nicht in Panik geraten. Probleme erkennen, benennen und pragmatische Lösungen finden. Mit Fantasie nach den Fakten suchen.
Kunst ist kein Luxusgut, sondern sozialer Klebstoff und Erste-Hilfe in der Krise. Blick schärfen, Einfühlungsvermögen justieren, spielerisches Denkvermögen und Vorstellungsvermögen stärken. Kunst kann aber am meisten, wenn sie gar nichts muss.

Was liest Du derzeit?

Immer mehrere Bücher parallel, u.a.

Klasse und Kampf, herausgegeben von Maria Barankow und Christian Baron. Claasen, 2021. Weil elitäre Blasen und soziale Unausgewogenheit in der Literatur die Möglichkeiten von Kultur beschränken.

Chester B. Himes – A Biographie von Lawrence P. Jackson, New York 2017

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Wir spielen, bis uns der Tod abholt“ (Kurt Schwitters)

Dirk Hülstrunk_Schriftsteller, Soundpoet, Audiokünstler

Vielen Dank für das Interview lieber Dirk, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Dirk Hülstrunk_Schriftsteller, Soundpoet, Audiokünstler

www.dirkhuelstrunk.de 

Fotos_Oliver Lauberger_Büro für Gebrauchsgrafik.

23.9.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Schieles Kunst ist krass, unverblümt, schön“ Pauline Wentzel, Schriftstellerin_Station bei Egon Schiele_Wien 23.10.2021

Pauline Wentzel _ Schriftstellerin_Wien _
Station bei Wally Neuzil/Egon Schiele _ Wien

Liebe Pauline, wir sind hier in Neuwaldegg im Westen Wiens am Wohnhaus von Egon Schiele. Welche Eindrücke nimmst Du von Haus, Garten, Umgebung, Wegen unmittelbar auf?

Zuweilen mag einen in dieser Gegend eine Anwandlung ankommen, als werde die Zeit für einen Moment durchlässig, ganz kurz nur, etwa so, als wenn eine Schneeflocke auf der Haut schmilzt.

Das Haus ist im Gegensatz zu vielen anderen Teilen Neuwaldeggs nicht pittoresk, doch wenn man seine Rückseite vom Garten aus betrachtet, besitzt es einen ganz eigenen Reiz.

Ich glaube, im Garten hielte ich mich am liebsten an einem Spätsommertag wie dem heutigen auf, oder im Herbst.

Was bedeuten Dir Orte?

Orte verbinde ich oft mit dort geschehenen Momenten und darum stark mit Gefühlen.

Was sind Lieblingsorte von Dir in Wien?

Abgesehen von einem bestimmten Kaffeehaus, dem gegenüber ich empfinde, wie Altenberg es in seinem dem Kaffeehaus gewidmeten Gedicht beschreibt: eine kleine Stiege, die nahe der Jedleseer Brücke ins Wasser führt. Der Augarten. Eine Stiege an der die Wien begrenzende Mauer. Über große Teile hinweg die Fahrstrecke der U6. Der Stephansplatz, solange ich den Dom betrachte (u.U. auch der Stephansplatz im Allgemeinen). Das Cine Center.

Wie lebst Du den Kreislauf der Jahreszeiten?

Der Sommer gehört der Leichtigkeit, dem Schwimmen, den vielen Flusssandkörnern, die ich trotz aller Umsicht immer wieder in die Wohnung trage und den Schwalben am frühen und späten Himmel.

Im Herbst raschele ich durch die Platanenblätter im Augarten und spaziere – besonders am frühen Abend – durch die Stadt. In den Herbst fallen viele wohlgeordnete Tage, ebenso wie ein wenig Melancholie.

Der Winter ist fein, um an manchen Tagen nicht hinaus zu gehen, und Schnee bezaubert mich oft, doch spätestens ab Februar erwarte ich ungeduldig den Frühling.

Er ist abendliche Verheißung, schwer von Blüten.


Was bedeutet Dir Natur?

Natur ist wesentlich. Weitere Erklärungen würden die Frage nicht befriedigend beantworten.

Wie kann der moderne Mensch in Harmonie mit Welt/Umwelt leben?

Der Zustand der Harmonie ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Aspekte in größtmöglichen Einklang zueinander gesetzt werden. Insofern müssten die Allermeisten von uns sich wesentlich intensiver nicht nur mit den kurz-, sondern auch mit den langfristigen Folgen ihrer Handlungen auseinandersetzen und insbesondere strenger abwägen, zwischen dem Grad, in welchem eine Handlung das eigene Wohlbefinden steigert, und dem daraus resultierenden Schaden/Nutzen für die Umwelt.

Kurz gesagt sollten wir unser Tun also wesentlich stärker auf dessen Verträglichkeit hin überprüfen.

Ich gebe zu, dass ich selbst keineswegs immer die Konsequenz besitze, mich an diesen Maßstab zu halten.)


Du bist in München aufgewachsen und lebst jetzt seit bald zwei Jahren in Wien. Was
bedeutet Dir  Wien als Lebens- und Kulturraum?

Wien bedeutet mir Glück, ganz besonders, wenn ich mich auf dem Weg ins Kaffeehaus befinde/vom Kaffeehaus komme!

Wie war Dein Weg zur Literatur?

Literatur in allen Formen ist in meinem Leben seit jeher wichtig. Allerdings erfuhr ich erst mit achtzehn, wie sehr Schreiben fehlen kann. Dies war vor allem ausschlaggebend für die Entscheidung, meine Lebensumstände weitgehend auf das Verfassen von Texten hin auszurichten.


Welche Schwerpunkte hast Du im Schreiben? Wo findest Du Inspiration?

Hauptsächlich schreibe Ich Märchen und Gedichte. Ein einzelner Anblick – etwa eine Aprikose, das Schmuckstück eines Vorübergehenden etc. – gibt mir oft den Grundgedanken für einen Text ein. Oder aber eine Empfindung – dies häufiger bei Gedichten als bei Märchen.

Welche Bezüge gibt es von Dir zu Egon Schiele?

Schiele war einer der ersten Künstler, für die ich mich ernsthaft  begeisterte, seine Werke führten mich, neben denen Klimts, zum ersten Mal nach Wien.

Welche Bezüge gibt es von Dir zu Wally Neuzil?

Vielleicht die Freude am Modellstehen, wenngleich es freilich einen großen Unterschied macht, ob man dieser Tätigkeit erwerbsmäßig nachgeht oder nicht.

Welche Eindrücke hast Du von der Kunst Egon Schieles?

Sie ist krass, unverblümt, schön.


Welches Bild von Egon Schiele beeindruckt Dich besonders und warum?

Mir fallen an dieser Stelle mehrere Werke ein, darum greife ich einfach eines heraus:

Das Portrait „Gerti Schiele“ (1909) berührt mich sehr wegen der Zartheit und Innigkeit, die für mich darin liegt. Der weiße Hintergrund, der auch als leer empfunden werden könnte, gleicht in meinen Augen einer Umarmung.


Welche Eindrücke hast Du von der Darstellung Wally Neuzils in Schieles Werken?

Die gemalte Wally Neuzil ist für mich eine sehr ausdrucksvolle, schöne Frau. Faszinierend finde ich, dass die einzelnen Merkmale ihres Gesichts für sich genommen zart wirken, im Ganzen aber vor allem Willensstärke zeigen.


Was braucht Liebe immer, um zu wachsen, blühen?

Vertrauen, Achtung, Geduld, Bereitschaft, dem Anderen zuzuhören


Was lässt Liebe untergehen?

Gleichgültigkeit


Darf ich Dich zum Abschluss zu einer Wortassoziation zu „Wally Neuzil“ bitten?

Waldabend

Pauline Wentzel _ Schriftstellerin_Wien _
Station bei Wally Neuzil/Egon Schiele _ Wien

Station bei Egon Schiele/Wally Neuzil_Wien_ im Gespräch und szenischem Fotoporträt:

Pauline Wentzel_Schriftstellerin_Wien

Interview und alle Fotos_Walter Pobaschnig _Wien_9_2021.

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„Dass wir der Trash-„Kommunikation“ ein Ende bereiten“ Anke Glasmacher, Schriftstellerin_Köln 22.10.2021

Liebe Anke, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Die Woche ist bei mir zweigeteilt und hat sich auch in den letzten Monaten kaum verändert. Der weitaus größte Teil gehört einem „ganz normalen“ Brotberuf. Ich stehe recht früh auf, trinke ein, zwei Cappuccino, dann fahre ich ins Büro oder arbeite im Homeoffice. Nach Feierabend geht es zum Sporttraining. In der zweiten Wochenhälfte steht die Literatur im Vordergrund. Ich stehe immer noch früh auf, lese aber erst einmal in Ruhe Zeitung, freue mich auf TOM Touché in der taz und die klugen Artikel von Bernd Ulrich in der ZEIT, treffe mich zum Austausch mit anderen Autor*innen und vor allem: ich nehme mir Zeit zum Schreiben.

Anke Glasmacher, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich glaube, nach der längeren Phase von Selbstoptimierung brauchen wir wieder mehr Krisenkompetenz: den Blick weiten, die Perspektive von den Füßen auf den Kopf stellen. Dazu zählt auch, dass wir der Trash-„Kommunikation“ ein Ende bereiten, indem wir sie als das behandeln, das sie sein will: Trash, ein Stör-Senden. Eben genau keine Kommunikation.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Die Kunst hat in einer Gesellschaft immer eine wichtige Funktion. Sie spiegelt die Freiheit des Denkens. In der Kunst ist Unmögliches möglich. Kann Utopisches real werden. Aber dafür müssen wir uns als Künstler*innen selbst ernst nehmen, uns nicht in Genredebatten verlieren, als Unterhaltungskünstler*innen verkleinern lassen. Nicht der Markt, der Marktplatz ist unser Ort. Die schönen Künste müssen nicht schön sein. Sondern aufrichtig und wahrhaftig.

Was liest Du derzeit?

Hier liegen einige an- und noch ungelesene Bücher:

T.C. Boyle: Sind wir nicht Menschen

Colin Whitehead: Zone One; Die Nickel Boys

Javier Marias: Dein Gesicht morgen

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ich weiß, manche Zitate wirken in ihrer Tonalität wie aus der Zeit gefallen. Aber Kants Gedanken zur Aufklärung finde ich hochaktuell. Hier also nochmal verkürzt Immanuel Kant: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit / Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen (Immanuel Kant: Was ist Aufklärung).

Vielen Dank für das Interview liebe Anke, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Anke Glasmacher, Schriftstellerin

https://www.ankeglasmacher.com/

Fotos_1 privat; 2 Anke Glasmacher.

12.9.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Bowie Odyssee70“ Simon Goddard, hannibal Verlag.

1970. Ein neues Jahrzehnt bricht an. Viele Träume begleiten eine Generation. Friede, neue Lebensstile und Lebensformen sind Hoffnungen und Vorhaben. Der Aufbruch der 1960er Jahre trägt viele Erwartungen für die unmittelbare Zukunft in sich. Viel wird experimentiert, gewagt und findet seinen Weg…

Auch in der Musik. Das „Woodstock“ Festival 1969 hat gezeigt was Musik bewirken und wie Musik verbinden kann. Was wird jetzt Neues zu erwarten sein?

Einer, der mit großem Elan und Kreativität an seinen Musikprojekten arbeitet, ist auch David Bowie. Er sucht seinen Weg und kennt dabei keine Grenzen. Katapultiert sich gleichsam mit jedem neuen Song in den Weltraum der Musikgalaxien. Neues entsteht rundum und der britische Künstler ist ein Mittelpunkt und geht unbeirrt seinen Weg zwischen Studio, Konzert und dem Leben, das ebenso ein Karussell an Erfahrungen, Erlebnissen und neuen Wegen ist….

Der britische Musikjournalist Simon Goddard geht in dieser besonderen biographischen Spurensuche den Musik- und Lebensstationen eines der bedeutendsten Musikphänomene der modernen Musikgeschichte nach – David Bowie. Der Autor findet dabei eine ganz eigenständige literarische Form des Zuganges zu Kunst und Leben. Spannend und mitreißend folgen Leserin und Leser dem Weg eines aufstrebenden jungen Musikers wie dem musikalischen Aufbruch eines Jahrzehntes…

„Eine Musikbiographie als vielstimmiges spannendes Konzert“

Walter Pobaschnig 10_21

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„Wir sollten versuchen, reife Entscheidungen zu treffen & offen bleiben“ Wolfgang Nöckler, Schriftsteller_ Innsbruck 21.10.2021

Lieber Wolfgang, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

da es sehr viele Einflüsse gibt, die mit wechselnder Intensität die Abläufe bestimmen ist im Moment der Schul-/Kindergartenanfang meiner Kinder der Taktgeber, sprich: früh aufstehen! im besten Fall gelingen dann am Vormittag, wenn die Bahn frei ist, ein paar kreative Runden…

Wolfgang Nöckler, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

ich denke, es wäre wichtig, im Gemeinsamen zu bleiben, nicht zu sehr zu versuchen, einzig sein eigenes Ding durchzudrücken. ich verstehe Ängste, ich verstehe Vorbehalte. ich verstehe aber nicht die Ablehnung, ohne sich für die „Gegenseite“ zu interessieren. wie wir gelernt haben, sind wir im Moment noch mehr zur Schicksalsgemeinschaft geworden, da sollten wir aufeinander schauen (ohne uns selbst zu vergessen, natürlich), wir sollten versuchen, reife Entscheidungen zu treffen & offen bleiben

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

die Kunst hat viel Material geliefert bekommen, es ist vieles zu Tage getreten, was im Untergrund geschlummert hat; das zu verarbeiten wird sicher eine große Rolle spielen, allerdings auf eine nicht zu aufdringliche Art; vielen hängen die Themen zum Halse raus, da kann all zu plakatives Aufwärmen nicht unbedingt punkten. sehr wohl sehe ich aber eine Aufgabe darin, die Wiederverbindungen zu versuchen. auch die „anderen Seiten“ wertschätzend aufzugreifen. Gelerntes zu festigen… & vielleicht gibt es noch eine ganz andere Aufgabe: auch Dinge/Inhalte aufzugreifen, die rein gar nichts Pandemisches an sich haben, sondern unterhalten können, Lebensfreude bringen…

Was liest Du derzeit?

Momentan bin ich an zwei Büchern dran.

Einerseits „Die Familie Moschkat“ von Isaac B. Singer & andererseits „Die Gegenstimme“ von Thomas Arzt

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

spontan:

wer zitat? mehr als der aal

Vielen Dank für das Interview lieber Wolfgang, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Wolfgang Nöckler, Schriftsteller

Foto_privat.

23.9.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Die patriarchale Machtausübung ist sicherlich unterschwelliger geworden“ Irene Diwiak, Schriftstellerin_Wien_Undine geht _20.10.2021

Irene Diwiak, Schriftstellerin_Wien_
Undine geht

Liebe Irene, wir sind hier auf der Donauinsel in Wien – welche Bedeutung hat Wasser, die Natur für Dich?

Ich liebe das Wasser. Flüsse, Seen, Meere – alles. Ich bin gern im Wasser und gern am Wasser. 2019 habe ich ja als Gast für drei Monate im Literarischen Colloquium Berlin leben dürfen, das sich direkt am Wannsee befindet. Beim Frühstücken, Arbeiten und abendlichen Zusammensitzen auf der Terrasse hat man da immer das Wasser im Blick gehabt. Das war großartig, so würde ich am liebsten dauerhaft leben – aber dazu müsste ich wohl leider ein paar Bestseller schreiben…

Schwimmst Du gerne? Wenn ja, wo/wie hast Du schwimmen gelernt?

Natürlich schwimme ich sehr gern. Gelernt habe ich es ganz unromantisch bei einem Schwimmkurs in unserem heimischen Schwimmbad. Dieses heißt übrigens „Hietl-Bad“, was sich, glaube ich, von „Hüttel-Bad“ ableitet und immer für sehr erschrockene Gesichter bei Touristen sorgt, die „Hitler-Bad“ verstehen. 

Du bist in der Steiermark aufgewachsen und lebst jetzt seit 10 Jahren in Wien. Was bedeutet Dir und welche Impulse bekommst Du von Wien als Lebens- und Kunstraum?

Ich bin grundsätzlich eher ein Stadtmensch. Ich mag die Anonymität irgendwie, das „Allein- und doch Unter-Menschen-Sein“. In der U-Bahn oder im Café nimmt man die unterschiedlichsten Gesprächsfetzen wahr, hört Erzählungen aus Milieus, die einem ganz fremd sind, und erfährt von Weltanschauungen, auf die man selbst nie gekommen wäre. Das kann sehr inspirierend wirken, ohne dass man es direkt wahrnimmt. Im Lockdown habe ich erst gemerkt, wie sehr mir das abgeht. 
Naja, und in Graz geht das mit der Anonymität schon nicht mehr so gut. Graz ist klein genug, dass man immer irgendwen trifft, den man kennt.
Und das Kulturleben in Wien ist natürlich großartig. Ich geh fast nie irgendwo hin, aber ich liebe das Gefühl, dass ich jederzeit ins Theater, zu einem Konzert oder in die Oper gehen könnte, wenn ich nur wollte. Auch das hab‘ ich sehr vermisst im Lockdown.

Was sind Lieblingsorte von Dir in Wien?

Tatsächlich die Alte Donau. Da gibt es auch ein paar frei, also gratis zugängliche Stellen, dort halte ich mich im Sommer sehr oft auf.
Sonst streife ich aber auch sehr gern immer wieder durch die Innenstadt, weil man dort auch historisch interessantes und ästhetisch ansprechendes „Neues“ entdeckt, wenn man schon seit 10 Jahren Wien lebt. Und am Donaukanal und im Augarten bin ich auch oft.

Welche Bezüge gibt es von Dir zu Ingeborg Bachmann?

Das erste, was mir zu Bachmann immer einfällt, ist, dass sie beim Rauchen eingeschlafen und verbrannt ist. Das zweite ist der Bachmannpreis, und bei dem war ich noch nicht. Sind das Bezüge? Vermutlich nicht.
Aber jetzt komme ich ja bald in „Dreißigste Jahr“, vielleicht ist das ein guter Zeitpunkt, um neue Bezüge zu Ingeborg Bachmann zu erlangen.

Wie liest Du den Text „Undine geht“ von Ingeborg Bachmann? Welche Grundaussagen gibt es da für Dich?

Wie bei allen Texten von Ingeborg Bachmann bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich alles verstanden habe. Das ist sicher durchaus gewollt, das Rätselhafte, Offene, „was sich nicht festlegen lässt“, wie es in der Undine heißt. Und trotzdem stellt sich kein Gefühl der Beliebigkeit ein. Da brodelt schon etwas unter der lyrischen Sprache.
Wenn ich die Grundaussage von „Undine geht“ auf einen Satz herunterbrechen müsste, würde ich sagen: Die unterschiedliche Lebensrealitäten von Männern und Frauen. Und wenn ich das Sakrileg begehen und Bachmann kritisieren darf: Ein bisschen klischeehaft wird da die Frau der Natur und der Mann der Zivilisation zugeordnet.

Was kannst Du als Frau und Künstlerin von „Undine geht“ in das Heute mitnehmen?

Das ist immer so eine Frage. Was will man sich aus einem literarischen Text „mitnehmen“? Einen Ratschlag, eine Lebensweisheit? Vielleicht am ehesten eine Grundstimmung. Und die Grundstimmung ist für mich hierbei das Missverständnis, das einem Missverhältnis entspringt. Dieses Missverständnis will man sich vielleicht nicht unbedingt in das Heute mitnehmen, aber es ist eben leider noch da, weil ja auch das Missverhältnis noch da ist.

„Undine geht“ wurde vor 60 Jahren veröffentlicht. Was hat sich seit damals im Rollenbild von Frau und Mann verändert und was sollte sich noch ändern?

Heute heißen einmal bedeutend weniger Männer Hans. Hannes vielleicht. Aber Hans?
Sonst hat sich natürlich auch allerhand geändert, rechtlich, ökonomisch, auch gesellschaftlich. Aber was doch noch besteht, ist eben dieser Unterschied in der Lebensrealität von Männern und Frauen. Und Frauen sind viel geübter darin, die männliche Perspektive mitzudenken als umgekehrt. Darum sind ja so viele Männer aus allen Wolken gefallen, als sie im Rahmen der MeToo-Bewegung mitbekommen, dass Missbrauch auch in ihrem eigenen Umfeld stattgefunden hat. Dass ihre eigenen Partnerinnen, Kolleginnen, Schwestern solche Erfahrungen gemacht haben. Und relativ schnell kommen dann so „selber Schuld, wenn ihr euch nicht wehrt“-Vorwürfe, weil man sich überhaupt nicht in die Situation einfühlen kann. Und das durchaus nicht nur von Ignoranten, bei denen man es sich eh nicht anders erwartet hat, sondern durchaus auch von verständigen Männern.
Und es ist so unendlich schwer, diesen Unterschied in den Lebenswelten zu beschreiben, weil es oft Nuancen sind, die unterschiedliche Realitäten ausmachen, nicht greifbar, und Männer wollen ja immer alles logisch erklärt haben. Das ist übrigens auch eine sehr schöne Passage in dem Text: wie die Männer sich über den Motor beugen und die Technik erklären, „bis vor lauter Erklärungen wieder ein Geheimnis daraus geworden ist“.

Der Monolog geht mit der patriarchalen Gesellschaftswelt schonungslos ins Gericht. Wie siehst Du die Situation patriarchaler Macht heute, in Leben,  Gesellschaft, Kunst?

Die patriarchale Machtausübung ist sicherlich unterschwelliger geworden. Was es so viel schwieriger macht, gegen sie anzukämpfen. Die sogenannten „Gläsernen Decken“ sind ironischerweise beinahe unzerbrechlich. Und da stellt die Kulturwelt leider keine Ausnahme in unserer Gesellschaft dar.
Naja, und die richtigen Chauvinisten an den wichtigen Stellen gibt es dann natürlich auch noch. Die werden mittlerweile zwar in regelmäßigen Abständen öffentlich dafür kritisiert, aber nur in seltenen Fällen führt das dazu, dass sie von ihren Machtpositionen abgezogen werden. Da liegt noch ein weiter, steiniger Weg vor uns.

Der Text drückt auch viel Trauer über das Scheitern der Poesie der Liebe und des gesellschaftlichen Lebens aus? Ist eine Poesie darin möglich – zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur?

Für mich ist wahre Poesie ist eigentlich nur im Scheitern möglich. Alles andere ist Kitsch. Aber Kitsch tut auch gut, von Zeit zu Zeit.

Wie kann der moderne Mensch Poesie/Harmonie in Liebe und Welt/Umwelt leben?

Ich weiß nicht, ob man Poesie „leben“ kann. Poesie ist für mich eine Sache, die sich im Inneren abspielt, die weniger mit der Außenwelt zu tun hat als mit der eigenen Sicht auf diese, und da ist es eigentlich egal, wie „modern“ sie ist. Poesie denken, das geht vielleicht. Poesie denken im eigenen Scheitern an einfach allem und es sich damit erträglicher machen.

Was hat sich in der Liebe in Beziehung und Gesellschaft seit 1961 verändert?

Alles und nichts. Wie gesagt, am Papier sind Männer und Frauen mittlerweile rechtlich gleichgestellt. Aber eben nur am Papier. Und gerade Beziehungen gehorchen ja wieder ganz anderen Gesetzen. Aber ich benutze das mir zur Verfügung stehende Papier immer wieder, um diesen Verhältnissen auf literarische Weise nachzuspüren.

Was braucht Liebe immer, um zu wachsen, blühen?

Wie alles, das wächst und blüht: Zeit.

Was lässt Liebe untergehen?

Überzogene Erwartungen. Ich habe irgendwann einmal einen Artikel darüber gelesen, dass in unserer „atheistischen“ Welt die romantische Liebe oft als „Religionsersatz“ herangezogen wird und alle emotionalen, geistigen und körperlichen Bedürfnisse gleichzeitig abdecken soll. Das kann ja nicht funktionieren, da ist Enttäuschung vorprogrammiert.

Wie war Dein Weg zur Literatur?

Lang, aber ziellos. Ich habe schon als Kind wahnsinnig gern Geschichten erfunden und aufgeschrieben, habe dann früh bei Jugendliteraturwettbewerben mitgemacht und damit auch Erfolge gefeiert. Eigentlich wollte ich Schauspielerin werden. Aber mit meinen Texten habe ich offensichtlich mehr überzeugt als mit meiner Schauspielerei. Es war also gar keine Entscheidung, Schriftstellerin zu werden. Es hat sich so ergeben. Aber jetzt gefällt es mir ganz gut in der Literatur. Weil sie sich Zeit lassen kann, verspielt sein darf und auch einmal pedantisch, wenn’s sein muss. Und man hat Freiheiten, die man als Schauspielerin nicht hätte. Je älter ich werde, desto klarer wird mir, wie sehr ich eigentlich auf Freiheit stehe.

Welche Impulse gibt es von der Natur her für Dich als Schriftstellerin?

Tatsächlich gar nicht so viele. Ich schreibe sehr gerne in der Natur, und dann besonders gern an Gewässern. Aber direkt wirkt sich das nicht auf mein Schreiben aus. Die Inspiration hole ich mir eher aus dem Zwischenmenschlichen. Oder in der Literatur. Lesen geht übrigens auch ganz wunderbar an Gewässern.

Was sind Deine derzeitigen literarischen Schwerpunkte und Projekte?

Mein Arbeitsschwerpunkt ist momentan historisch. Mein dritter Roman, der von der Freundschaft zwischen Hans Scholl (schon wieder ein Hans) und Alexander Schmorell handelt, ist gerade in der Überarbeitungsphase und erscheint voraussichtlich 2023. Ein vierter ist aber auch schon in Arbeit, da geht es um eine alte Dame, die sich für die uneheliche Enkelin von Kronprinz Rudolf hält. Das wird dann ein Spiel mit historischer und gefühlter Wahrheit.
Und sonst würde ich auch gerne wieder Theatertexte schreiben, jetzt, wo die Theater wieder offen haben dürfen. Ein Drehbuchprojekt über die Jugend von Caterina Valente steht auch noch auf meiner Wunschliste.
Außerdem ist gerade ein Erzählband von mir erschienen: „Guilty Pleasures“ bei der steirischen Edition Kürbis. Das sind Texte von mir aus insgesamt sieben Schaffensjahren darin versammelt, und ich wünsche diesem bunten Büchlein noch viele Leserinnen und Leser.

Wie lebst Du den Kreislauf der Jahreszeiten?

Im Sommer ist es mir zu heiß und im Winter ist es mir zu kalt. Und Frühling und Herbst sind nicht Fisch, nicht Fleisch. Ich fühle mich eher selten so richtig wohl, wettermäßig. Aber dafür hat jede Zeit auch ihr Gutes: Im Sommer gehe ich schwimmen, und WENN es im Winter schneit, dann bin ich überglücklich.

Welches Zitat aus „Undine geht“ möchtest Du uns mitgeben?

„Und nun geht einer oben und hasst Wasser und hasst Grün und versteht nicht, wird nie verstehen. Wie ich nie verstanden habe.“

Darf ich Dich zum Abschluss zu einem Achrostikon zu „Undine geht“ bitten? (Wortassoziation zu der Buchstabenfolge – U=Stichwort, N=…..)

Ich habe so eine Art Gedicht gemacht:

Und
Nicht
Das
Innere
Nur
Erkennen

Gefühle
Ertragen
Hans
Treffen

Liebe Irene, herzlichen Dank für Deine Teilnahme am szenischen Projekt „Undine geht“!

Irene Diwiak, Schriftstellerin_Wien_
Undine geht

60 Jahre_Undine geht _Erzählung _ Ingeborg Bachmann _

Irene Diwiak, Schriftstellerin_Wien

Interview und alle Fotos_Walter Pobaschnig

Station bei Ingeborg Bachmann_Wien.

Walter Pobaschnig _Wien_10_21

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„Die Literaturszene und auch die Literaturkritik ist im Wandel“ Lop Strasoldo, Schriftsteller_ Wien 20.10.2021

Lieber Lop, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Meine Wochen sind zweigeteilt: Wenn ich arbeiten muss, ich arbeite in einem kleinem, sehr feinen Silberwaren Geschäft im Ersten Wiener Bezirk, stehe ich gegen halb acht auf, trinke einen Kaffee, fahre zur Arbeit. Abends lese ich und koche ich zusammen mit meiner Freundin.

An den anderen Tagen trinke ich morgens meinen Kaffee, frühstücke gemütlich, während ich Deutschlandfunk höre oder politische Diskussionen etwa auf Phoenix verfolge. Vormittags schreibe ich, allerdings fast nie länger als eine Stunde, danach lässt meine Konzentration nach und ich verziehe mich auf mein Sofa oder zurück ins Bett, lese meistens etwa 100 Seiten, lerne Italienisch, pflege meinen Blog.

Abends koche ich dann. Kochen ist für mich in den Zeiten, in denen man das Haus kaum verlassen hat, zu einem wichtigem Quell von Lebensqualität geworden: neue Rezepte entdecken, frische Zutaten einkaufen, gemeinsam schnibbeln und essen.

In den letzten Wochen sind wieder mehr Veranstaltungen dazugekommen: Lesungen, Kino- oder Theaterabende, Freunde, die auf ein oder fünf Gläser Wein vorbeikommen. Da muss viel nachgeholt werden.

Lop Strasoldo, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Neben den offensichtlichen Pflichten wie dem Impfen, halte ich es für besonders wichtig, dass wir uns als Gesellschaft klar machen, was wir in den letzten anderthalb Jahren verloren haben. Gerade im kulturellen Raum sind viele kleine Initiativen und Gestaltungsräume eingegangen, die großen Institutionen können so etwas wegstecken, das Burgtheater braucht sich um sein Publikum in gewisser Hinsicht keine Sorgen zu machen. Kleine Lesereihen oder Off-Theatergruppen dagegen haben sich jetzt teilweise über viele Monate nur Online treffen können, dabei ist gerade hier der physische Kontakt, das Aug in Aug sitzen, lesen oder spielen, unmittelbar zuhören ohne Mikrofon und die ganze Körpersprache des Anderen mitbekommen eminent wichtig. Viele beginnende Freundschaften oder Kontakte sind eingeschlafen, wer sich erst ein zwei Mal auf einer Lesung gesehen hat, der hat sich nicht Mal eben auf Zoom zusammengesetzt und geplaudert. Viele junge Künstler haben den Kontakt zu Anderen verloren und nicht alle werden wieder zurückkommen, dass sollten wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Wir stehen in mehrfacher Hinsicht vor einem Aufbruch: die Veränderungen, die der Klimawandel von uns verlangt, die Zukunft Europas, die immer tiefgreifendere gesellschaftliche Globalisierung, neue Formen des Wirtschaften und Leben. All diese Veränderungen passieren nicht einfach so, sie müssen wahrgenommen und gestaltet werden. Es gibt bei all diesen Themen mehrfache Gräben zwischen den Generationen, den gesellschaftlichen Klassen, Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund, verschiedenen Bildungshorizonten. Viele fühlen sich aus verschiedenen Perspektiven nicht verstanden oder abgehängt, nicht gehört. Hier muss die Kunst und speziell die Literatur ansetzen! Es ist für uns alle wichtig, dass Stimmen, die in den letzten Jahrzehnten eher nicht gehört wurden, zu Wort kommen, wir profitieren alle davon. Literatur kann Brückenbauer sein, aber dafür muss sie gelesen werden. Polemik ist hier fehl am Platze: weder ist es sinnvoll, keine Bücher mehr von „alten weißen Männern“ zu lesen, noch jüngere weibliche Autorinnen mit Schlagwörtern wie „Identitätskitsch“ zu belegen. Immer da, wo mir Bücher Einblick in eine mir fremde Lebensrealität geben, wo Perspektiven eingenommen werden, die ich aus mir selbst heraus nicht einnehmen kann, habe ich gewonnen. Das können nur Bücher und vielleicht noch Filme: über viele Seiten hinweg eine Stimme im Kopf zu haben, der ich im echten Leben nicht so eben über dem Weg laufe, ein Gespräch führen, mir detailliert und ohne Eile eine Welt erklären lasse, Gefühle nachvollziehe, Verletzungen miterlebe. Dafür braucht es manchmal viele Seiten, denn das Leben ist nicht einfach: es ist kompliziert, widersprüchlich, anstrengend, hässlich und zum Kotzen und schön, aufregend, bunt, voller Liebe und Freundschaft. Nicht nur, aber auch deswegen darf Literatur auch kompliziert und widersprüchlich sein, wenn es gute Literatur sein will, muss sie das vielleicht sogar.

Hier stoßen wir dann an einen heiklen Punkt: was ist „gute“ Literatur und wer bestimmt eigentlich, was „gut“ oder „schlecht“ ist? Ich habe darauf keine Antwort, einstweilen finde ich die Diskussion spannend. Die Literaturszene und auch die Literaturkritik ist im Wandel und das ist auch verdammt gut so, je mehr Stimmen sich lautstark Gehör verschaffen, desto besser. Das quere und/oder außereuropäische Literatur heute viel mehr gelesen und diskutiert wird, war allzu lange überfällig! Als Literat habe ich meinen eigenen, sehr persönlichen ästhetischen Anspruch, der auf gar keinen Fall Allgemeingültigkeit anstrebt und immer wieder von neuen Leseerlebnissen erschüttert wird. Aus dieser Perspektive muss ich sagen, dass ich auf den großen, verbindenden Aufbruch innerhalb der Literatur noch warte. Der Roman der Generation, die mit 9/11 groß geworden ist, wurde noch nicht geschrieben.

Was liest Du derzeit?

Gerade erhole ich mich von einem Buch, das so ein erschütterndes Ereignis war: der Roman „Wiesengrund“ der Autorin Gisela v. Wysocki. Ihre Sprache hat mich umgehauen, nachdem ich das Buch küssend weggelegt hatte, konnte ich erst mal für ein paar Tage nichts lesen. Heute beginne ich mit dem Roman „Roter Mohn“ des tibetisch-chinesischen Autoren Alai, über den ich naturgemäß noch nichts sagen kann außer, dass ich mehr chinesische Literatur lesen wollte und mich am renommiertesten Literaturpreis des Landes orientiert habe. Daneben lese ich den Gedichtband „Einmal hatten wir schwarze Löcher gezählt“ von Raoul Eisele, aber bei Gedichten bin ich langsam, mehr als ein oder zwei am Tag gehen nicht. (Außer Abends beim Wein, da geht alles!)

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtet Du uns mitgeben?

Vielleicht passt dieses Zitat aus dem oben genannten „Wiesengrund“ von Gisela v. Wysocki ganz gut (S.43):

„Es wurde Zeit, mich nach eigenen Instrumenten umzusehen, nach meinen Teleskopen. Die Leihbibliothek am Rudolfskai war meine erste Anlaufstelle. Ich trug Bücher, Bücherberge in die Wohnung. Die Bücher hielten Lupen bereit. In ihnen kamen die Menschen ganz groß heraus. Man konnte sie überdeutlich erkennen, sie trugen ihre Eigenschaften wie auf einem Tablett vor sich her. Ich hatte immer gedacht, dass die Sterne am Ende der Welt leben, aber es sind die Menschen. In den Büchern irren sie gedankentief herum. Oder sind vollkommen aus dem Häuschen geraten. Preschen in gewagte Unternehmungen vor, in die Gefahr. Es sind Komiker, Schöpfer oder Verräter. Gebeutelt von Einbildungen, heimgesucht von Einsichten. Auch von den Sternen war die Rede, Alascos Sternen. In den Büchern sahen sie aus, als wären sie in einer Gemäldegalerie überarbeitet worden. Bei Georg Trakl haben sie das Aussehen „fallender“ und von „weißer Traurigkeit“ gezeichneter Phantome. Bei Chamisso hat sich ein „lichtes Gold“ über sie gebreitet. Hofmannsthal zeigt sie uns als Gäste, die „mit zum Fest gehören“ in einem „durchsichtigen Haus“.

Vielen Dank für das Interview lieber Lop, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Lop Strasoldo, Schriftsteller

https://lopstrasoldo.wordpress.com

Foto_privat.

23.9.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Kunst als Botschafter der Hoffnung, der Inspiration, der Vision“ Roma Janus, Tanzmanagerin_Linz 19.10.2021

Liebe Roma, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Hier in Linz, wo ich seit einem Jahr lebe und arbeite, sieht mein Alltag sehr strukturiert aus. Es beginnt mit express Yoga Praxis und dann geht es ins Theater, wo eine 18köpfige Tanzcompany wartet. Jeder Tag bringt neue Herausforderungen und Erfahrungen. Das schätze ich sehr. Am Ende des Tages bleibt noch ein wenig Luft für die lieben und geliebten Menschen in meinem Leben. Ich erkunde sehr gerne die Linzer Kunstszene.

Roma Janus, Tanzmanagerin und Dramaturgin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Das Miteinander und Füreinander. Empathie steht ganz vorne. Allianzen aus Überzeugung zu schliessen, ist für den Neuanfang ganz wichtig.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Theater, dem Tanz, der Kunst an sich zu?

Ganz besonders jetzt, in der Zeitwende, der Zeit des Umbruchs, müsste der Kunst ein besonderer Stellenwert verliehen werden – Kunst als Botschafter der Hoffnung, der Inspiration, der Vision und der Mission. Darüberhinaus hat Kunst, meiner Meinung nach, eine außerordentlich therapeutische Rolle.

Was liest Du derzeit?

Sontag. Die Biographie von Benjamin Moser und BioMacht Theater von Sophie Reyer

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Die Vergangenheit selbst ist angesichts des sich immer schnellen vollziehenden historischen Wandels zum Surrealsten aller Themen geworden, die es ermöglichen, eine neue Schönheit in dem zu sehen, was verschwindet.

(Susan Sontag)

Von Allem bleiben drei Wahrheiten:

Die Sicherheit, dass wir stets neu beginnen

Die Sicherheit, dass wir es nötig haben, weiter zu gehen

Und

Die Sicherheit, dass wir unterbrochen werden, noch bevor wir etwas zu Ende gebracht haben.

(Fernando Pessoa)

Vielen Dank für das Interview liebe Roma, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Theater-, Tanzprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Roma Janus, Tanzmanagerin und Dramaturgin

https://www.landestheater-linz.at/public/Person%20Details?p=MTk3Njk5OTk5OQ==

Foto_Christian Düchtel

23.9.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Dass die Rolle, die Musik im Schlechten teilweise schon spielt, weniger wichtig wird.“ Paul Schuberth, Musiker _Linz 18.10.2021

Lieber Paul, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Immer anders, aber Musizieren und Lesen sind Fixpunkte.

Paul Schuberth, Musiker

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Das kommt darauf an, wer jetzt mit „uns“ gemeint ist. Sind es wir Menschen insgesamt, dann würde ich klar sagen: Nachdenken darüber, ob ein Wirtschaftssystem, dass alle Menschen zu Konkurrenten untereinander macht, das A und O ist. Ich frage mich, warum angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophe, die teils schon Gegenwart ist, nicht mehr darüber diskutiert wird, ob die Versorgung mit dem für Menschen Wesentlichen nicht eher sorgfältig geplant werden sollte, anstatt alles und alle der irrationalen Marktlogik, die immer menschenfeindlich ist, zu unterwerfen. Diese Logik führt zu einem an sich grenzenlosen Wachstum, das sich selbst Zweck genug ist, dem der Mensch aber nur ein Mittel ist. Die Grenzen dieses Wachstums bildet der Planet. Doch wenn dafür erst einmal der allerletzte Beweis angetreten ist, dürfte es zu spät sein. Wär schade drum!

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, der Kunst an sich zu?

Das kann ich gar nicht beantworten. Ich denke nicht immer sehr konstruktiv, sondern eher negativ. Also will ich es hier auch einmal von dieser Seite angehen. Ich kann nur hoffen, dass die Rolle, die Musik im Schlechten teilweise schon spielt, weniger wichtig wird. Rechtsextremisten erreichen Jugendliche mit Rechtsrock; deutsche Rapper verbreiten Antisemitismus mit eingängigen Reimen; österreichische Volksrocker machen das Heimatgetue wieder salonfähig; Kabarettisten verbreiten die Verharmlosung der Pandemie mit ihren Liedern; mit dem Abspielen von klassischer Musik an Bahnhöfen werden Obdachlose vertrieben; Musik ist oft ein allzu schneller Trost, wo Nachdenken, Kritik und Widerstand der bessere Rat wären. Meine Hoffnung ist immer nur, dass Musik nicht vom Schlechten, vom Unmenschlichen ablenkt oder es übertüncht.

Was liest Du derzeit?

Immer manches gleichzeitig, ich hopse hin und her.

Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges

Thomas Mann: Der Zauberberg

Anselm Jappe: Das Abenteuer der Ware

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Einen Auszug aus einem Statement der Menschenrechtsaktivistin Doro Blancke, die über ein in Graz von der FPÖ angebrachtes Plakat, das sich an Flüchtlinge richtet: „Graz ist nicht Eure Heimat, garantiert!“, schreibt: „Was macht es mit uns? Die nächste Stiege runter in Richtung „moralischer Verfall bis zum Verderben“? Welchen Angst, welchen Hass, welch emotionale Verstümmelung, welche zivilgesellschaftliche Verrohung akzeptieren wir, die tollen, innovativen, gebildeten, #NieMehrWieder rufenden GrazerInnen noch?“
Meine Ergänzung: Die Grazer Bevölkerung hat eine interessante Antwort gefunden.

Vielen Dank für das Interview lieber Paul, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Musikprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

Ebenso Dir vielen Dank.

5 Fragen an Künstler*innen:

Paul Schuberth, Musiker

http://www.paulschuberth.com/

Foto_Marc Daniel Mühlberger

30.9.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

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„Music Lovers“ John Densmore. Hannibal Verlag

John Densmore, der Drummer der legendären californischen 1960/70er Rockband „The DOORS“ , prägte mit seinem Schlagzeugbeat und –rhythmus den ganz besonderen Sound einer der erfolgreichsten Bands der Musikgeschichte wesentlich mit. Gemeinsam mit Robby Krieger (Gitarre), Ray Manzarek (Keyboard) und dem legendären Sänger Jim Morrison war er Teil einer ganz besonderen Reise in die Möglichkeiten und Ausdrucksformen von Musik und Poesie. Der tragische Tod von Jim Morrison 1971 war dabei Ende eines wesentlichen Karriereabschnittes wie auch musikalischer wie persönlicher Neubeginn für die Musiker der Band. Und dieser neue Weg war auch von Begegnungen und Kooperationen mit anderen Musikerinnen und Musikern geprägt, die wesentlich den Sound der Zeit kreierten.

John Densmore gibt im vorliegenden Buch einen anschaulichen Einblick in persönliche Eindrücke wie die Musikgeschichte der Zeit und lässt damit eine Epoche faszinierend aufleben. Es sind Begegnungen mit Musikgrößen wie Janis Joplin, Bob Marley oder Lou Reed, die sehr anschaulich und pointiert erinnert und geöffnet werden.

Im Vorwort schreibt Densmore, „hoffentlich genießt ihr das Festmahl“ und weist damit auf die Musikbegeisterung hin, die hier Seite um Seite neugierig lesend und sehend ihren Erinnerungsraum findet – es gibt auch einen umfangreichen Bildteil –  wie auch auf die vielfältige Erfahrung und Wirkung von Musik und Kunst auf Persönlichkeit wie Psyche hin, gerade in Zeiten wie diesen.

Ein Buch als faszinierende persönliche Schatzkiste moderner Rockgeschichte aus erster Hand“

Walter Pobaschnig 10_21

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