„Ganz kurz: Stay tuned!“ Martin Meyer, Schriftsteller, Bamberg/D 12.2.2021

Lieber Martin, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Da ich meinen erlernten Beruf gesundheitsbedingt habe aufgeben müssen, hat sich mein Tagesablauf durch Corona nur wenig verändert. Ich schreibe vor allem am späten Vormittag und späten Nachmittag; dazwischen erledige ich Sachen, die man eher beiläufig tut, Social Media zum Beispiel. Doch steht durch Corona nun einmal in der Woche Home-Schooling an, nicht bei uns daheim, sondern bei Nichten und Neffen. Da ich wegen einer schweren Erkrankung meiner Frau stets koche, einkaufe und chauffiere, ist es nicht an allen Tagen gleich.

Martin Meyer, Schriftsteller, Musiker

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Geduld und Empathie. Geduld ist in unserer globalisierten, schnelllebigen Welt zu einem arg knappen Gut geworden, desgleichen die Empathie. Jeder und jede Einzelne sowie auch die Gesellschaft als Ganzes bedürfen dieser Tugenden in diesen Zeiten mehr als je zuvor. Sie sind daher auch conditio sine qua non dafür, dass Individuum und Gesellschaft unbeschadet, hoffentlich sogar gestärkt, aus dieser Krise hinauskommen.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Musik, der Kunst an sich zu?

Kunst aller Gattungen ist seit jeher ein Seismograph des Mikrokosmos Mensch und des Makrokosmos Gesellschaft – ob Literatur oder Musik, bildende Kunst, Theater, Tanz oder Architektur. In der Kunst kann sich Individuelles ungehindert und schöpferisch Bahn brechen in dieser globalisiert uniformen Welt. Daher ist mir um den einzelnen Künstler, die einzelne Künstlerin nicht bange. Mehr Sorge beschleicht mich über die institutionelle Kunst, die Theater, Orchester, Ballette und Museen. Auch hier ist aber jeder einzelne Künstler, jede einzelne Künstlerin mit in der Pflicht. Wir zusammen müssen darauf dringen, dass es solche Räume der Kunst auch nach Corona ungeschmälert gibt.

Was liest Du derzeit?

Als Sachbuch lese ich gerade „Salon Deutschland. Geist und Macht 1900-1945“ von Wolfgang Martynkewicz.

An Romanen „Lügenbilder“ von Kerstin Lange, das ist ein aktueller Krimi, der im pfälzischen Speyer spielt und in die Nazizeit zurückreicht. Und „Die Ewigkeit des Augenblicks“ von Stefanie Hohn, ein überaus lesenswerter Roman, der von dem französischen Bildhauer Rodin inspiriert ist.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ganz kurz: Stay tuned! Mir gefällt dieser Impuls, weil er mehr meint als nur das Durchhaltevermögen. Mit ihm ist man auch stets gut gestimmt, ähnlich wie bei „Good vibes/vibrations“. Ich bin ja auch Musiker, ich weiß genau, wovon ich da spreche.

Martin Meyer, Schriftsteller, Musiker

Vielen Dank für das Interview lieber Martin, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Musikprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

Ich habe zu danken.

5 Fragen an Künstler*innen:

Martin Meyer, Schriftsteller

Martin Meyer – Autor Martin Meyer (sprachklangwelten.de)

Fotos_Manuela Obermeier

19.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Ein Innenleben“ Roland Neuwirth, Musiker_Wien 11.2.2021

Lieber Roland, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Man schwebt so dahin, da kann man wenigstens nicht stolpern.

Roland Neuwirth, Musiker, Komponist, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ein Innenleben.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Musik, der Kunst an sich zu?

Was heißt Aufbruch? Ich bin schon 70 Jahre unterwegs. Und was heißt gesellschaftlich? Meine Gesellschaft ist die AKM, finanziert von Gabalier.

Stimmt, Kunst ist ein Grundnahrungsmittel, aber auch nur für Menschen.  

Was liest Du derzeit?

„Orfanelle“ von Franz Winter

„Deutsche Metrik und Versgeschichte“ von Dieter Breuer

„Große Kompositionslehre, 2. Band, Der polyphone Satz“ von Hugo Riemann, S.138, §2: Der Ursprung der Fuge

„Die Axt im Hause“ von Otto Werkmeister

„Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß!“ von Josef Joffe

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Zur Widersprüchlichkeit der Forderung nach einem Grundeinkommen für freischaffende Künstler (so leid sie mir auch tun!):

„Reifen besteht nicht im Verzicht auf unsere Sehnsüchte, sondern im Eingeständnis, dass die Welt nicht verpflichtet ist, sie zu erfüllen.“

 Nicolás Gómez Dávila

Vielen Dank für das Interview lieber Roland, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Musik-, Buchprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Roland Neuwirth, Musiker, Komponist, Schriftsteller

Roland Neuwirth & Extremschrammeln

Foto_Ernst Schauer

16.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Die Macht der Seuche“ Wie die große Pest die Welt veränderte 1347-1353. Volker Reinhardt. Beck Verlag

„Die Macht der Seuche“ Wie die große Pest die Welt veränderte 1347-1353. Volker Reinhardt. Beck Verlag

Es sind Zeiten, die Mensch und Gesellschaft erschüttern. Eine Pandemie ergreift die Welt und katapultiert aus wie verändert gewohnte vertraute Lebensbahnen. Plötzlich ist alles anders und tagtägliche Herausforderungen in Bekämpfung und Perspektive begleiten Zeit und Gegenwart…

So unsicher der Blick in die Zukunft in Zeiten einer Pandemie ist, so interessant ist der Blick zurück auf ähnliche Ereignisse und deren Erfahrungen und Veränderungen. Die Geschichte kann hier Anhaltspunkte, Reflexionen und Impulse anbieten, die Gegenwärtiges einordnen helfen können oder zumindest zu sehen, dass die Menschheitsgeschichte auch immer eine Geschichte medizinischer Herausforderungen war und ist.

Der renommierte Sachbuchautor und Professor für Geschichte an der Universität Fribourg, Volker Reinhardt, legt nun einen umfassenden Blick auf die Pestepidemie in Europa im 14.Jahrhundert vor, die in ihren Detailkenntnissen wie flüssigen Erzählform begeistert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Italien und den Auswirkungen der Pest auf das tägliche private wie gesellschaftliche Leben. Es sind erschütternde historische Informationen, die Leserinnen und Leser hier kennenlernen, welche die Gefahr und in vielen auch Hilflosigkeit von Mensch und Gesellschaft angesichts der Pest erkennen lassen.

Der Autor gibt einen Überblick zu Pest in Italien/Europa in drei Kapitel, die Ausbreitung und Leiden wie auch die Zeit danach in den Blick nehmen. Es entsteht so ein Gesamtbild, welches im historischen Vergleich interessante Zugänge bietet. Ein Anhang mit Anmerkungen, Quellenangaben, Bildnachweis und Personenregister lässt sehr gut historisch orientieren wie auch weiterführende Informationen nachschlagen.

„Ein erschütternder wie spannender Blick in das Zeitalter der Pest in Europa.“

Walter Pobaschnig 2_21

https://literaturoutdoors.com

„Nicht irgendein Virus ist das Problem, sondern der Kapitalismus“ Moritz Gause, Schriftsteller_Berlin 11.2.2021

Lieber Moritz, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Das ist natürlich eine sehr persönliche Frage. Mich hat der Wegfall von Gewissheiten weitaus mehr getroffen, als ich zu Beginn des Jahres erwartet hatte. Auch das Ausbleiben öffentlicher Lesungen und von mir geleiteter Werkstätten ist nur schwer für mich zu verkraften. Auch wenn ich im privaten Leben ein eher introvertierter Mensch bin, hatten doch die (gemeinsame) Arbeit mit Menschen und der Austausch mit Kolleg*innen und Literaturinteressierten immer einen sehr großen Wert für mich, und waren notwendiger Teil meiner Arbeit. Deren Ausbleiben hat den üblichen Selbstzweifeln noch mehr Raum verschafft. Daher, dass Reisen seit langem ausbleiben, sitze ich vornehmlich zuhause, lese, schreibe und zeichne. Außerdem habe ich begonnen, mich mit kurzen, sehr einfach gehaltenen Animationsfilmen zu beschäftigen – eine sehr intensive, kleinteilige Arbeit, die mich manches Mal alles um mich herum hat vergessen lassen. Auch unternehme ich häufig längere Spaziergänge – das Unterwegssein ist von jeher eine wichtige Komponente meiner Arbeit, und nun muss ich neue Wege finden. Hoffentlich wird es mir gelingen, dies als Bereicherung begreifen zu lernen.

Moritz Gause, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Irgendwie cool bleiben wahrscheinlich. Und nicht vergessen, dass diese Pandemie ein Ende haben wird. Warme Kleidung ist jetzt wichtig, damit wir viel in die Natur gehen können, sofern es uns möglich ist. Oder, wenn wir in einer Großstadt leben, durch die ausgestorbenen Innenstädte zu laufen. Zumindest Berlin-Mitte wirkt derzeit wie ein weithin ausgerolltes Gemälde De Chiricos.

Die Verlagerung vieler Lebensbereiche in den digitalen Raum missbehagt mir sehr, und die vergangenen Monate haben mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass wir weniger Internet brauchen, und eine geringere Frequenz von Nachrichten. Die Pandemie hat die Tendenz in den Medien nur noch verstärkt, dass wenig über Prozesse gesprochen wird, und viel über einzelne Ereignisse. Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns nicht von der engen Taktung des Nachrichtengeschehens mitreißen und vereinnahmen lassen – jeden Tag Statistiken abzurufen und sich über neue Pandemiebekämpfungsmaßnahmen unterrichten zu lassen, verstellt lediglich den Blick auf die notwendigen, langfristigen Prozesse.

Weiterhin hat eben jener immense Bedeutungszuwachs der digitalen Sphäre eine weitere, bereits länger bestehende Tendenz deutlich verschärft: Das permanente Aneinander-vorbei-Reden in den sogenannten sozialen Netzwerken. Wie diese Entwicklung verlangsamt werden könnte, oder gar zum Positiven gewendet, scheint mir ungewiss. Klar wäre es schön, wenn wir zu einer Art 2009er-Facebook zurückfänden, aber das scheint mir eine sehr naive Vorstellung zu sein. Wahrscheinlich sollten wir uns derzeit einfach beschränken, sofern es uns möglich ist. Sowohl physisch als auch fernmündlich: weniger Kontakte, dafür aber umso intensivere.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Zum einen bin ich momentan zu pessimistisch und gelähmt, um darauf eine profunde Antwort geben zu können.

Zum anderen ist das wirklich eine schwierige Frage, da die Antwort so substanziell ausfallen müsste, dass sie hier jeden Rahmen sprengen würde. Es wird keinen Neuanfang geben, weil es kein Ende gegeben hat. Nicht irgendein Virus ist das Problem, sondern der Kapitalismus.

Und dass hinsichtlich einer radikalen Lösung dieses Grundproblems Impulse aus der Kunst kommen, die eine ausreichende Reichweite haben, sehe ich nicht. Und ich sehe da auch wenig Perspektiven. Es läuft vieles nebeneinander her, aber ein Gespräch zwischen den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft findet kaum statt. Es braucht ein weitaus mehr in die Breite reichendes Bewusstsein für die Problemlage, als derzeit vorhanden ist.

Sehr vieles auf diesem Planeten müsste sich radikal ändern. Eine vollkommen utopische Vorstellung. Und diese wird sich kaum verwirklichen.

Freilich sollten wir überlegen, welcher derzeitige Verzicht, bzw. welche als Verzicht empfundene Aufgabe von Gewohnheiten und gewohnten Mustern, tatsächlich kein Verzicht ist, sondern eine auch zukünftig notwendige Beschränkung auf Wesentlicheres.
Wie wäre es mit: Weniger Fernreisen, mehr langfristige (bestenfalls mit Arbeit verbundene) Auslandsaufenthalte (und zwar nicht nur für einige privilegierte, sondern für alle – weltweit; und auch nicht den Mustern post-kolonialer Ausbeutungsstrukturen folgend). Weniger materieller Konsum, mehr Kultur. Weniger Lohnarbeit, mehr Miteinander. Weniger Netflix, mehr Spaziergänge. (Aber ich bin pessimistisch.)

Was wir außerdem brauchen: Mehr Kunst im öffentlichen Raum.

Was wir außerdem brauchen: Weniger Werbung. Mehr Kunst im öffentlichen Raum.

Was liest Du derzeit?

  • Andreas Kapeller: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall
  • Judith Keller: Die Fragwürdigen
  • Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt
  • Marina Zvetajeva: Gedichte
  • Abscheu. Politische Gedichte aus dem alten China, herausgegeben und übersetzt von Thomas O. Höllmann
  • Vladimir Majakovskij: Aus vollem Halse (insbesondere das Gedicht „Wolke in Hosen“)

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„[…] Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich. […]“

aus: Bertolt Brecht, „An die Nachgebeborenen“

Vielen Dank für das Interview lieber Moritz, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Moritz Gause, Schriftsteller

Foto_Sascha Kokot

16.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Und versuchen, sich selbst und die Welt neu/tiefer zu begreifen“ Elizabeta Kostadinovska, Multimedia Künstlerin, Berlin 10.2.2021

Liebe Elizabeta, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

„Jetzt“ ist relativ lange. (How long is now?). Jetzt ist eigentlich seit März 2020 … aber ich habe in diesem Jetzt die Biennale für zeitgenössische Künste SlovoKult :: literARTour in drei Städten organisiert und durchgeführt – mit insgesamt 5 Veranstaltungen, 2 in Mazedonien (draußen – September 2020) und 3 in Berlin (21.-23.12 – Stream vom ACUD-Theater) … und parallel dazu vier Bücher herausgegeben + die Festivalanthologie (huh) – und somit auch meinen winzigen Verlag richtig gestartet… Das war viel Arbeit in diesem Jetzt, es war ziemlich anstrengend – aber, auch sehr schön, denn durch die Arbeit habe ich weniger von der Realität mitbekommen, wollte nur, dass GERADE JETZT alles funktioniert – und wir haben es geschafft! Es war anders, aber es war erfolgreich…  Und dieses „Jetzt“ geht weiter… Im Grunde habe ich dieselbe Situation wie seit 2008 – freelance und Home Office, das ich liebe, und ich es auch nicht ändern würde… Ich freue mich alleine zu leben, meine alltäglichen Rituale zu haben, denn in dieser Situation reichen mir meine zwei Persönlichkeiten aus (nicht pathologisch, sondern professionell):  1. Lindner – Herausgeberin, Übersetzerin, Festivalveranstalterin und Verlegerin und 2. Kostadinovska – Autorin und Künstlerin, die permanent beschäftigt sind… aber es ist anders, wenn das „zuhause bleiben“ ein Befehl ist. Ich vermisse Veranstaltungen, Gespräche, Partys, meinen Taiji-Kurs, und vieles mehr… und versinke wieder in Arbeit, Kunst, Film/Serienstream und in Nachdenken…  Ich habe gerade meine Wohnung auch ein bisschen befreit und verschönert, davor hatte ich leider keine Zeit… Jetzt würde ich gerne Freunde zum Essen, Trinken und Chillen einladen, auch gerne mehr als eine*n.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Den Geist zu pflegen, auch den Körper – hier besonders die Immunität, aber das ist viel einfacher (gute Ernährung, einige Supplemente und Bewegung) als den Geist. Der Geist war wie eh und je vernachlässigt und deswegen ist er in solchen (krassen) Situationen nicht in der Lage im Sinne der Logik und der Kritik zu handeln. Er wurde permanent von dem Mainstream klein gehalten und dann auch von Fake News weiter geschwächt und verwirrt, so dass er jetzt fast verloren ist.

Hinterfragen, das musste er schon im März 2020 tun, aber das hat er nicht geschafft. Und jetzt, fürchte ich, ist es vielleicht auch zu spät, dass er richtig funktioniert und sich mehr in die Öffentlichkeit wagt, um nach einer Debatte/Diskussion/Besseren Lösung zu verlangen. Denn die Rechten (inklusive Verschwörungstheoretiker*innen, Querdenker*innen und Spinner*innen) wurden als Beschützer*innen der Menschenrechte zugelassen und kein Geist traut sich mehr, was „kritisches“ zu sagen – sonst wird er abgestempelt.

Aber dennoch ist es sehr wichtig, jegliche Ungerechtigkeit anzusprechen und zu kritisieren, je mehr – desto besser, denn so wird man die Benachteiligten und Schwächeren schützen und eine bessere Zukunft für alle gestalten können.

Deswegen finde ich es richtig, diese Zeit für sich selbst zu nutzen: sich so viel wie möglich von den Medien fernzuhalten und schöne Sachen zu machen – etwas Anderes als üblich lesen, angucken, häufiger nichts tun – also denken, spazieren, schlafen… (mit Kindern finde ich es auch wichtig, dasselbe zusammen mit ihnen zu tun)… aber auch Menschen treffen… Und versuchen, sich selbst und die Welt neu/tiefer zu begreifen, versuchen, Solidarität, Menschenwürde, Menschlichkeit, Zukunft und Diversität besser zu verstehen.  

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Leider bin ich von den Menschen ziemlich enttäuscht, insbesondere von den Intellektuellen und Künstler*innen, weil sie immer noch zu schwach sind, den Weg für eine konstruktive Kritik und Debatte zu ebnen. Alle sind angepasst und gemütlich, egal was für eine Katastrophe sichtbar ist.

Wir müssen aus dem Mainstream austreten und uns der Kunst, der Literatur, aber auch der allgemeinen Information (Medien) und der Bildung anders widmen, – ihren talentierten Akteur*innen mehr Platz räumen, egal ob sie sich verkaufen oder nicht – Zahlen sind eher überschätzt – denn sonst schaffen wir es niemals, den Geist auf ein höheres Niveau zu bringen, um dem unerreichbar scheinenden höheren Bewusstsein näher zu kommen. In diesem Sinne, wäre es an der Zeit, sich mit der Qualität und nicht mit der Quantität und der Verkäuflichkeit zu beschäftigen, die Wirtschaft darf weder die Literatur und die Kunst, noch die Information oder die Gesundheit bestimmen. Wie man die Werte in der Literatur und in der Kunst verliert, verliert man sie auch in der Gesellschaft und am Ende kann man nicht so einfach den richtigen Anspruch stellen und die Kriterien erhöhen, um besser über die Sachen, aber auch über sich selbst und die Welt zu beurteilen.

Jene Menschen, die sich nicht nach vorne drängen (in der Ellenbogenkultur), sind die besseren Professionellen – und die muss man nach vorne bringen.

Aber ehrlich gesagt, ich denke nur Außerirdische können die Menschheit retten, meiner Meinung nach, hat sie total versagt und nur ein Wunder aus dem Universum kann sie auf den richtigen Weg bringen.

Was liest Du derzeit?

Einmal, um mich für etwas zu entschuldigen, habe ich mich scherzhaft als „Tochter des Chaos’“ bezeichnet, aber das trifft zu, wenn es um das Lesen geht. Denn Lesen ist Teil meines beruflichen Lebens und ich bin ziemlich schnell und geübt darin – in vier Sprachen.  Eine davon Mazedonisch, meine Muttersprache, die gerade von der europäischen Balkanpolitik bedroht wird – sie soll keine Zukunft mehr haben, und das bringt extra Lesestoff – also, ich lese rum, von kritischen Online-Artikeln, über einzelne Gedichte/Texte aus meiner Bibliothek bis hin zu Sachen, die ich spontan recherchiere (wie zufällige Assoziationen oder Verbindung zu meiner Kunst oder zu einem meiner Texte oder zu einer Übersetzung), – das kann alles sein, Fragmente aus verschiedenen Gebieten: Mythologie, Philosophie, Mystik, Theorie, Belletristik … oder ich lese etwas, was ich gerne übersetzen würde… Aktuell befinden sich um mich herum: die Bücher, die ich herausgegeben habe (ich checke sie immer wieder), dann eine schöne Anthologie auf English – Poems for the Millennium und ein neugedrucktes seltenes Büchlein von Ljubomir Micic von 1922 (Rettungswagen, Zenit); online geöffnete Seiten gerade sind Essays von Oscar Wilde, Walter Benjamin, Rilke über Rodin, –  um einiges aus dem „Chaos“ zu beleuchten.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Am liebsten etwas aus Sebalds Roman „Die Ringe des Saturn“, den ich übersetzt habe, aber wegen kapitalistisch gezüchteter Inkompetenz, es unmöglich ist, dieses Buch bald herauszugeben: „Denke ich heute, wo unser Blick den fahlen Widerschein, der über der Stadt und ihrer Umgebung liegt, nicht mehr zu durchdringen vermag, an das achtzehnte Jahrhundert zurück, dann nimmt es mich wunder, in welch großer Zahl, zumindest an manchen Orten, die Menschen bereits in der Zeit vor der Industrialisierung mit ihren armen Körpern fast ein Leben lang eingeschirrt gewesen sind in die aus hölzernen Rahmen und Leisten zusammengesetzten, mit Gewichten behangenen und an Foltergestelle oder Käfige erinnernden Webstühle in einer eigenartigen Symbiose, die vielleicht gerade aufgrund ihrer vergleichsweisen Primitivität besser als jede spätere Ausformung unserer Industrie verdeutlicht, daß wir uns nur eingespannt in die von uns erfundenen Maschinen auf der Erde zu erhalten vermögen.“

links: Das Festival – https://www.slovokult-literatur.de/index.php/slovokult-literartour-biennale-for-contemporary-arts/

Die Buchreihe: https://www.slovokult-literatur.de/index.php/slovokult-slovothek/

Die Festivalanthologie: https://www.slovokult-literatur.de/index.php/produkt/slovokult-literartour-2020-anthologie-anthology/

Meine Bio-Bibliographie: http://slovokult.de/index.php?/pages/elizabeta_lindner.html

Vielen Dank für das Interview liebe Elizabeta, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Elizabeta Kostadinovska, Schriftstellerin

Alle Fotos_Elizabeta Kostadinovska

10.2.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Wir brauchen Geschichten wie Luft zum Atmen“ Ljuba Arnautovic, Schriftstellerin_ Wien 10.2.2021

Liebe Ljuba, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Verschobener Schlafrhythmus, um etwa vier Stunden. Dazu derzeit leicht nervös, weil demnächst mein zweiter Roman „Junischnee“ erscheint. Eigentlich arbeite ich schon am letzten Teil der als Trilogie angelegten Familiensaga, aber im Moment schweifen die Gedanken oft ab: Ob es möglich sein wird, mein Buch in die Welt zu bringen? Wird es eine Präsentation geben? Lesungen? Zu Beginn der Lockdowns habe ich dem Ganzen noch was abgewinnen können – wenig „Sozialstress“, endlich komm ich zum Lesen, zum Schreiben, endlos liegt die Zeit vor mir. Mittlerweile geht es mir auf die Nerven. Zum Spazierengehen in der grauen Stadt muss ich mich zwingen – zum Glück muss man fast täglich raus, zum Lebensmitteleinkauf.

Ljuba Arnautović, Schriftstellerin _ Foto: Paul Feuersänger

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Dass wir uns daran erinnern und versuchen festzuhalten, was diese Pandemie auch gebracht hat – kein Lärm am Himmel, anderes Konsumieren, respektvoller Umgang im öffentlichen Raum, die wenigen persönlichen Begegnungen sind besonders intensiv. Wir haben erlebt, dass Veränderungen sehr schnell möglich sind. Gut zu wissen.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Wir brauchen Geschichten wie Luft zum Atmen. Das war immer schon so, und das wird immer bleiben.

Ljuba Arnautović, Schriftstellerin_Lesung in St. Andrä/Lavanttal 2020 _Foto: Dominik Brei.

Was liest Du derzeit?

Nadeschda Mandelstam „Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe“

Bell Hooks „Die Bedeutung von Klasse“

Maria Lazar „Die Eingeborenen von Maria Blut“

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Denn vergäße man sie (die Gräuel) nicht, wie könnten sie sich dann wiederholen?“

(Ivo Andrić „Die Brücke über die Drina“)

Ljuba Arnautović, Schriftstellerin _ Recherchereise _Jüdischer Friedhof Mikulov _Foto_Livia Getreider.

Vielen Dank für das Interview liebe Ljuba, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Ljuba Arnautović, Schriftstellerin

Ljuba Arnautović – Offizielle Seite (ljubaarnautovic.at)

17.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Sich klar zu machen, dass die eigenen Chancen womöglich schlecht werden, grottenschlecht. Und sie nutzen.“ Dieter M.Gräf, Schriftsteller_Berlin 10.2.2021

Lieber Dieter, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Reduziert. Das war er auch im ausgegangenen Jahr, aber da war das Licht noch schön und mir war es gelungen, mich in der Beschränkung gut einzurichten. Oft war ich dennoch heiter und übermütig. Die letzten Tage waren nun sehr trüb, mein winterliches Corona-Leben fühlt sich gerade monoton an. Ich stehe immerhin mit Liegestützen auf und dusche mich auch kalt. Ich darf ja seit vielen Wochen nicht mehr ins Fitness-Studio und dort auch nicht schwimmen. Vor den Nachrichten mache ich meist eine Stunde Mehr-oder-weniger-Sport im Schlafzimmer, mit Widerstandsbändern und ohne. Nicht sehr dynamisch, aber immerhin. Wenn es die Witterung zulässt, gehe ich nach dem Frühstück bei Shakespeare & Sons in der Warschauer Straße vorbei und nehme einen Papp-Cappuccino mit, dann laufe ich die weiterhin stattliche Karl-Marx-Allee entlang, bis ich merke, dass ich demnächst pissen muss. Ich wohne also in Berlin-Friedrichshain. Im Pseudo-Sozialismus, denke ich mir, konnte man immerhin das gewiss tun, da hat bestimmt Henselmann mit seinem Kollektiv höchstselbst Bedürfnisanstalten entworfen. Im Kapitalismus in seiner coronalen Phase ist das jedenfalls nicht vorgesehen und für einen Mann auch kaum diskursfähig. Menschen mit schlechterer Blase, denke ich mir, wie mag es denen gehen. Ich esse japanisch früh zu Mittag, vor 12 also, wochentags hole ich das Essen meist in der Garbe, am Wochenende beim Vietnamesen, oder koche selbst. Im letzten Jahr las ich viel, aber derzeit ist mir kaum danach. Ich bin zu oft auf Facebook, liebe mein Laptop und sehe dort auch TV, setze mich dabei aber selten. Eigentlich nur beim Elfmeterschießen und bei Nacktszenen. Weiß gar nicht so genau, welche sozialen Kontakte ich legal noch haben darf. Aber ab und dann habe ich Sex und ab und dann treffe ich eine Ex. Würde mich auch gerne von einer Dritten massieren lassen, aber der Lauterbach steckt ja überall.

Dieter M. Gräf, Schriftsteller (mit Tanikawa Shuntaro). Foto: / Goethe-Institut Tokyo

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Die Macht der Narrative zu erkennen und ihnen tief zu misstrauen? Bei Trump und seinen Anhängern sehen wir das ja überdeutlich: der erfindet einen Wahlbetrug und wiederholt das laut und penetrant. Bis sein Mob das Kapitol stürmte, machte das republikanische Lager mit, nun bröckelt das. Das ist ein plumpes Modell, daran kann man leichter erkennen, wie ein Narrativ funktioniert. Wer ihm auf den Leim geht, ist für das, was ist, kaum mehr zugänglich. Was ist denn? Das ist positiv kaum benennbar, aber wer sich einem Narrativ, einer Bewegung anschließt, verklebt seine Suchbewegung. Das ist kein speziell rechtes Phänomen. Die Neo-Progressiven machen das auch, wenngleich viel intelligenter und argumentativ virtuos unterfüttert. Wenn ein Narrativ sich festgesetzt hat, ist das eine gewaltige Macht, die andere einzuschüchtern vermag, oder sogar soweit bringen kann, dass sie nicht in die Lage kommen, es in Frage zu stellen. Im Mittelalter stand fest, dass es den Teufel gibt. Auch bei den Reformatoren. Einer warf gar ein Tintenfass nach ihm. Wir brauchen, finde ich, weiterhin eine offene Gesellschaft und keine Denkverbote, wildes Denken und nicht das aus der Sonntagsschule. Vielfalt, aber nicht das, was die Neo-Progressiven darunter verstehen, nämlich nur Wahrnehmungsräume für die eigene Korona, von der dürfen alle und der Rest kann weg. Sonst knallt’s auch hier.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Hm. Ich meine, dass wir die Corona-Zeit sehr, sehr unterschiedlich erleben. Ein Single, der nicht mehr arbeiten darf oder nur noch eingeschränkt, wird ganz andere Nöte spüren als Familienmenschen, die obendrein womöglich im Krankenhaus oder im Schuldienst gefordert sind und öffentliche Verkehrsmittel täglich benutzen müssen. Mein Weinhändler hat Rekordumsätze, nein, nicht durch mich, ich bin auf alkoholfreies Bier gewechselt. Die Cafébetreiberin um die Ecke hingegen scheint vorm Ruin zu stehen. Der DAX klettert auf Rekordwerte. Es gibt Menschen mit mittelständigem Einkommen, die kaum mehr gefordert werden und vor sich hinplätschern und Leute, die jeden Monat immense Summen verlieren. Leute, die plötzlich von Sozialhilfe leben müssen und Angst bekommen, ob das je wieder gut werden wird und solche, die die Zeit nutzen um gemütlich ihre Datsche zu renovieren, oder sich freuen, dass sie kaum mehr Verpflichtungen haben und endlich ungestört am neuen Roman schreiben können. Ich weiß also nicht, wie belastbar ein „wir“ sein kann, auch nicht für die Zeit nach Corona, sofern es die geben wird.

Der kulturelle Sektor ist in seiner jetzigen Form eine Wohlstandsfolge, Teil einer weit verzweigten Freizeitgesellschaft. In Berlin ist er unglaublich stark vertreten, in manchen Gegenden sind viel mehr bei der Künstlersozialkasse organisiert als in der IG Metall. Hier hat sich eine Kulturelle Kaste gebildet, halblinke Neo-Brahmanen, alle privilegiert, aber in materiell bescheidenen Verhältnissen lebend und natürlich beständig subventioniert. Die springen jedem mit blankem Gesäß ins Gesicht, der das in Frage stellt. Wir sind sowas wie Staatskünstler geworden, die mit Tofu-Häppchen rege gefüttert werden und im eigenen Milieu kreisen, das gar nicht klein ist. Ob diese Ausstattung bleiben wird, steht in den Sternen. Sollte die Wohlstandsgesellschaft einsacken, wird es für viele von uns sehr eng. Ja, was wird wesentlich sein? Sich keine getönten Scheiben vors Gesichtsfeld zu setzen. Sich klar zu machen, dass die eigenen Chancen womöglich schlecht werden, grottenschlecht. Und sie nutzen. Wie die Spieler von Holstein Kiel. Im entscheidenden Moment die Nerven behalten.

Welche Kunst braucht die Gesellschaft? Schwer zu sagen. Sie ist derzeit gänzlich überfüttert mit allem. Sogar während des sogenannten Lockdowns. Den Künsten ist ihr Hallraum abhanden gekommen, weil der Input so immens angewachsen ist. Für die Künste wäre es eher gut, würde die Kulturelle Kaste für eine Dekade einsacken. Ruhe im Karton. Das wäre aber extrem gegenläufig zu unseren Interessen und Ambitionen.

Was liest Du derzeit?

Virginie Despentes. Den zweiten Band von Das Leben des Vernon Subutex. Außerdem fange ich an, mich auf mein nächstes Residenzstipendium vorzubereiten und lese nun zu Istanbul. Dort werde ich voraussichtlich im April/Mai und im Oktober/November arbeiten. Wie es dann weiter geht, ist gänzlich offen. Vielleicht erscheint danach bald mein nächstes Buch, vielleicht erscheint keines mehr von mir. Beides kann ich mir derzeit kaum vorstellen.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Die Welt ist nicht schlecht, sondern voll“. Heiner Müller im Gespräch mit Alexander Kluge, dctp.tv 1994.

Vielen Dank für das Interview lieber Dieter, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Dieter M.Gräf, Schriftsteller

Foto_Yota Kataoka.

16.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Wir drehen quasi gezielt und bewusst durch, um nicht den Verstand zu verlieren. Und dann wird es Abend.“ Guido Rohm, Schriftsteller_ Petersberg/D 9.2.2021

Lieber Guido, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich stehe auf, sehr früh, weil ich ein Morgenmensch bin, ein Dämmerungsbegleiter, ein Zwischenweltbewohner, der den Moment des Übergangs von der Nacht in den Tag mit seiner Schreiberei begleitet. Schreiben als musikalischer Akt. Danach heißt es momentan, dem Druck, der sich im Alltag und durch die Coronanachrichten aufbaut, standzuhalten, indem ich mit meiner kleinen „Bühne des Wahnsinns“ dagegen antrete, meine Frau und ich, die die Wohnung zu einem „Kurhotel des Irrsinns“ umfunktionieren. Wir spinnen herum, machen Fotos, stellen Bilder und Filme nach, entwerfen Ideen, verwerfen sie und bewerfen am Ende über das Internet das Draußen damit. Wir drehen quasi gezielt und bewusst durch, um nicht den Verstand zu verlieren. Und dann wird es Abend, ich liege im Bett, schlafe ein und rutsche hinab ins Tal des nächsten Tages. 

Guido Rohm, Schriftsteller, Künstler

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Geistig und körperlich gesund zu bleiben. Daher muss man nicht nur den Körper bewegen, sondern eben auch den Geist, muss ihn Gewichte stemmen lassen. Er soll Liegestütze machen, soll in 80 Tagen um die Welt laufen, soll 20 000 Meilen unter das Meer, soll zum Mittelpunkt der Erde reisen. Es ist wichtig, diese für uns alle schwere Phase, heil zu überstehen, indem man sich Stelzen an die Träume bindet, um noch höher und weiter über all das Ungemach steigen zu können. Es geht darum, Menschenleben zu retten, alles Leben, und das gelingt uns in dieser Situation am besten, wenn wir uns gemeinsam vereinsamen – auch wenn das eine grausame Forderung ist. Sie muss aber sein, um dem Virus das Wasser abzugraben, um es auszuhungern. Am Ende muss man aus diesem Moment der Schwäche einen der Stärke gemacht haben, weil man die Zeit nutzte, um sich Sieben-Meilen-Stiefel des Geistes zu nähen, die einen in die Zukunft tragen, von der wir hoffen, dass sie für alle Menschen als Land erreichbar bleibt, was uns nur gelingt, wenn wir in dieser Coronakrise dafür die Grundlagen legen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Die Kunst, die Literatur muss immer erst einmal gar nichts. Sie darf tun, was sie will. Deshalb liebe ich sie so sehr. Sie darf ein unartiges, aber auch ein artiges, ein hässliches, aber auch ein schönes Kind sein, ein Depp und ein Genie.  (Sicherlich umgeben wir uns lieber mit Genies. Aber nicht immer.)

Die neue Zeit, in die wir in einem botanischen Sinne hineinvegetieren, in die wir hinüberwachsen, in die wir hineinschlingen, wird eine sein, die von der Digitalisierung geprägt sein wird. Und das kann die Kunst, kann die Literatur auf ihre ganz eigene Art und Weise begleiten. Sie kann diese Zeit kritisieren, sie ignorieren, sie umstoßen, sie bekriegen, sie lieben, vergöttern.

Ein Neubeginn ist eine wunderbare Sache. Wir beginnen das erste Kapitel eines neuen Romans, testen die ersten Szenen eines neuen Films, aus dem wir eine Tragödie oder eine Komödie machen können. Es treten Akteure auf und ab, die ich anspielen, ansprechen kann, ich kann den Dialog auf- und annehmen. Ich muss es aber nicht. Denn Kunst und Literatur sind Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Sie haben ihren eigenen Umgang mit der Welt. Manchmal reicht es ihnen auch, unter den Sternen zu liegen und eine Maispfeife zu rauchen. Morgen ist wieder ein Tag am Mississippi unseres Lebens. Mal sehen, was der Strom bringt.    

Was liest Du derzeit?

Unsere Wohnung ist ein Bücherdschungel, ein undurchdringliches Dickicht. Ich entdecke oft Bücher, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie besitze. Ich bin ein Quer- und Anleser, der ständig, wie ein Hamster an allen möglichen Büchern nagt, bis er an einem hängenbleibt, das ihm besonders gut mundet. Munden tun mir gerade …

Graham Greenes „Ein Mann mit vielen Namen“

Rayk Wielands „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“

Das sind nur zwei Bücher, das ist eher wenig, da ich ein springender Leser bin, der von Textstein zu Textstein hoppst. Manchmal hocke ich mich auch hin und bleibe.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Für diese Zeit diese zwei Zitate:

„Andererseits ist durch nichts erwiesen, dass der Mensch auf der Erde das herrschende Lebewesen ist. Vielleicht sind es ja die Viren …“ Heiner Müller

„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Blaise Pascal

Guido Rohm, Schriftsteller, Künstler

Vielen Dank für das Interview lieber Guido viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Guido Rohm, Schriftsteller, Künstler

https://de.wikipedia.org/wiki/Guido_Rohm

Alle Fotos_Annette Rohm

16.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

„Lyrik und Kurzprosa sollte man in dieser Situation als Guide bei sich haben oder auswendig können“ Oedipa Fraser, Autorin, München_9.2.2021

Liebe Oedipa, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich beginne meinen Arbeitstag als Praktikant*in der „Gesellschaft der Literaturfreunde“ um 11 Uhr morgens, bereite Frank Hornungs Band „Gedichte für die Gesellschaft“ für die Veröffentlichung vor und tippe das wiederendeckte Tagebuch „Stephan und Lojo in Amerika“ von Joachim Lottmann ab, das wir derzeit auf unserer Internetseite herausbringen. Um 15 Uhr abends fahre ich von Schwabing zurück zu meinem Zimmer in München-Neuperlach, das ich seit meiner Emigration aus dem UK im letzten Jahr bewohne.

Oedipa Fraser, Autorin und Philologin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Das Ankommen in der bundesdeutschen Wirklichkeit.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Man muss sich hinter den Zeitmauern verstecken und, wenn die Luft rein ist, vorsichtig ein Stückchen weiterbewegen. Lyrik und Kurzprosa sollte man in dieser Situation als Guide bei sich haben oder auswendig können.

Was liest Du derzeit?

„Einführung in die Linguistik“, erschienen bei yeh.de. Eine Erzählung von Thorsten Krämer über seinen Studienabbruch in 1995, als er ein Freund der Gesellschaft der Literaturfreunde wurde.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Gibs auf!“ (Erzählung von Franz Kafka)

„Give it up!“ (letzter Satz in „Disgrace“ von J.M. Coetzee)

Vielen Dank für das Interview liebe Oedipa, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Oedipa Fraser_Autorin und Philologin

Gesellschaft der Literaturfreunde Frank Hornung (gesellschaft-der-literaturfreunde.de)

Foto__Oedipa Fraser

14.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

Ameisenmonarchie, Romina Pleschko. Roman. Kremayr&Scheriau Verlag

Er war der Sohn. Und sie seine Tochter. Was vererbt wird sind Beruf und Geld. Wenn man es hat. Herb Senior hat genug davon. Vom Erbe und vom Leben. Da ist Magdalena seine Frau. Ihr gibt der Doktor Herb, Gynäkologe, Beruhigungsmittel. Nicht in die Hand. Nein, in die geliebte Salami. Ist ja schon wurscht. Herb Junior wollte nur in eine Vagina blicken, daher die Fußstapfen des Vaters. Eine Kaiserschnittnarbe bei Untersuchungen erkennt er nicht. Wie auch, wenn er sich selbst nicht kennt. Niemand kennt hier irgendwen. Klaus blickt aus dem Türspion zu Karin, bevor er das Haus verlässt. In seiner Wohnung ist alles perfekt abgestimmt. Teller, Tassen, Gläser. Jeden zweiten Tag der Abwasch. Und Karin weiß viel über das Scheitern. Von Männern und Frauen. Wenn ihre Tochter Helene schläft, schreibt sie. Ins Forum im Internet. Die Welt draußen und die Welt drinnen. Niemand kennt hier irgendwen. Oder irgendwann.

Aber jetzt beginnt es. Das Öffnen der Türen. Des Tages und der Nacht. Von Seele und Leben. Oder was davon noch da ist. Oder da war…

Die Wiener Schriftstellerin Romina Pleschko lässt mit ihrem ersten Roman „Ameisenmonarchie“ die sehnsuchtsvoll tragische Seele des modernen Menschen brennen. Und das lichterloh.

Der Mensch der Gegenwart in seinem Umschlungen- und Erdrücktsein von Lebenssehnsucht, Lebensherkunft und Lebenswelt wird in rasanter Sprachdynamik demaskiert und zerfetzt. Romina Pleschko beherrscht dazu alle Formen des Wortes von Direktheit, Hintergründigkeit und Stille, die offenlegen und erschüttern. Personen werden kunstvoll gesetzt wie in einem Mandala, das in jedem Moment wieder verwischt werden kann. Nichts bleibt. Da gibt es keine Brücken nur stürzendes Wasser. Ein literarischer Tanz, der begeistert.

„Ein Roman, der das Literaturjahr fulminant eröffnet!“

Walter Pobaschnig 2_21

https://literaturoutdoors.com