Lieber Alexander, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Der grobe Tagesablauf hat sich durch Corona nicht wesentlich verändert. Es sind ein paar Auftragsarbeiten weggefallen, dadurch habe ich mehr Zeit und Aufmerksamkeit für das Stöbern in älteren Materialien. Es sammelt sich ja bei jedem viel an – ob das Fotos, Filme oder eben Texte oder mehr Fragmente sind – da gehe ich einiges durch, was mich auch froh macht. Selbst wenn es nicht drängend so sein sollte, dass jedes Fragment mehr als ein Fragment sein muss, manchmal reicht ja genau das, dass sich ein Satz oder eine Beschreibung, eine Argumentation ergibt. Ich hoffe immer wieder darauf, dass genau diese Notizen woanders hinführen, nicht zur Verzettelung, aber zu den wesentlicheren Texten (zumindest für mich selbst ‚wesentlicher‘).
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich habe einen Essay mit dem Titel „Die Eule der Minerva“ geschrieben, in dem es u.a. um die Erkenntnisse geht, die genau in der Dämmerung möglich sind. Der Flug dieses Symboltiers der Göttin der Weisheit erfolgt, wenn die Sicht nicht klar ist. Wenn ein Kartenhaus zusammenbricht, wird es anders wiederaufgebaut. Mit anderen, ebenso fragilen Baumaterialien vermutlich. Bei Antonio Gramsci findet sich dieser Gedanke zum Übergang, dass „das Alte stirbt, das Neue jedoch noch nicht zur Welt kommen kann.“ Daraus kann man ableiten, die Beurteilung dessen, was stattfindet – die permanent eingefordert wird – hindert auch daran, einigermaßen vorurteilsfrei das Beobachten zu wahren. Was auf der sehr individuellen Ebene deutlich wird, ist die Botschaft, kümmere dich um deine persönlichen Angelegenheiten – eine Botschaft, die jede Krise mitteilt, umso stärker, wenn die Krise eine kollektive ist. Auf der sozialen Ebene stellen sich viele Fragen jetzt ebenfalls deutlicher – es wäre eine gute Chance, den ökologisch-sozialen Wandel zu forcieren. Ganz praktisch gedacht: Wenn es beispielsweise eine Sanierungsmilliarde gibt, dann ist die etwas eingeschlafene Sanierungsbereitschaft gefestigt und Wohnräume werden behaglicher und zukunftstauglicher. Viele ähnliche Beispiele lassen sich leicht finden zu Verkehr, Arbeit usw. Auf europäischer Ebene ist eine einheitlichere Gesundheits-, Sozial- und Fiskalpolitik wünschenswert – leichter gelänge dieser Wandel bestimmt dann, wenn die EU-Politiker sich mehr von ihren nationalen Parteien emanzipieren würden.
Ich möchte das Interview nutzen, um genau auf diese soeben publizierte, sehr anregende Anthologie mit dem Essay „Die Eule der Minerva“ zu verweisen: NOTFALL: COVID-19 im Löcker Verlag http://penclub.at/blog/2020/05/19/notfall-covid-19/
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Die fünfte Gewalt im Staat, die Kunst, kann sich jetzt profilieren. Denn in einer Epoche der Verwirrung braucht es Fantasie, Verdichtung und geistige Wendigkeit. Jede Kunstdisziplin fördert diese Qualitäten, so sehr sich die formalen und inhaltlichen Mittel auch unterscheiden mögen. Die Literatur nährt den Mut sich das anzusehen, was man nicht ansehen oder benennen will. Sie hilft das grundsätzliche ‚Unbehagen in der Kultur‘ besser zu meistern und ist der geistige Schutzraum in neoliberalen und autoritären Zeiten (beide Adjektive sind mit Vorsicht zu genießen, da sie inflationär verwendet werden – es erstaunt jedoch schon, dass gerade in Zeiten der Irritation wie 2008 und jetzt durch die Pandemie oft auch von sehr marktgläubigen Interpreten der starke Staat gefordert wird). Auf der Ebene der Weitsicht hilft jede Schulung der Sprachmächtigkeit, wenn ich etwa Pandemie und Pandeismus gegenüberstelle. So allgegenwärtig wie Corona war weltweit im letzten Jahrzehnt kaum ein Thema – bestenfalls vielleicht eine Fußball-WM (selbst da gibt es noch die völlig Uninteressierten, die sich allerdings auch abgrenzen müssen und somit marginal das Thema streifen), und mit erstaunlicher medialer Präsenz die „Fridays for future“-Aktionen zum Klimawandel (wäre das mit den ersten Berichten des „club of Rome“ in den 70er Jahren passiert, wer weiß, wo wir da schon wären!). Die Literatur ist nicht unbedingt sozial in einem Sinn Dostojewskijs, dass ich nach der Lektüre ein sozialer agierender Mensch bin, aber sie ist sozial, weil sie die eigenen Fragen mit den allgemeinen Fragen verbindet und das ist für jede massive Veränderung zentral. Die Besonderheit der Pandemie ist es, dass jeder Mensch gefordert ist, eine Position dazu zu entwickeln – im Sinne einer Demokratisierung und Stärkung der Zivilgesellschaft erscheint mir das förderlich.
Was liest Du derzeit?
Ich lese in den letzten Wochen viel, auch deshalb, weil etwa Schreibseminare ausgefallen sind, die ich „normalerweise“ im Sommer halte. Das ist ein ziemlich weites und buntes Feld: Lettre international, öst. Gegenwartslit. (immer auch KollegInnen und Kollegen – manchmal auch eine Art Nachholen wie zuletzt Menasses „Die Hauptstadt“ oder auch Unbekannteres wie Dieter Sperls „Random Walker“, Lazars „Leben verboten!“ und dazwischen viele Gedichte, dann wieder Fachbücher zur Neurologie oder auch Essays – aus arbeitstechnischen Gründen, etwa wieder Abhandlungen zur Bedeutung der Geschichte sowie regional zu Südafrika und Namibia, diese Länder spielen für eine Erzählung eine Rolle, die gerade im Entstehen ist – das alles Lektüren der letzten Woche)
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich habe hier nichts verloren, deshalb muss ich suchen.
(aus meiner wachsenden Aphorismen-Sammlung; ich weiß, wer heute noch Aphorismen verfasst, kann leicht als eitel oder elitär betrachtet werden, doch die Zugkraft eines prägnant formulierten Gedankens ist in Zeiten der Über-Information und Textflut wichtiger denn je, zudem: mit dem Paradoxon lassen sich viele Denkräume öffnen)
Vielen Dank für das Interview lieber Alexander, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Schreibprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Alexander Peer Schriftsteller
https://www.peerfact.at/werke/der-klang-der-stummen-verhaeltnisse/
Foto: Michael Winkelmann
6.7.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.