Liebe Antje-Kathrin Mettin, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Unstet, zum Glück. Oft ein illustrer Wechsel aus: Konzentrierter Vertiefung, Lektüre und dem Versuch, Gedanken und Beobachtungen in tragfähige Worte zu fassen, dem Versuch, Korrespondenzen zu tätigen, dem Versuch, lauter sich türmenden Aufgaben nachzukommen und dem Drang nach anderem – nach Leichtigkeit, Unterbrechung, Luft, Gesang, danach, auch den bisher nicht untergekommenen, drängenden Worten Freigang zu gewähren in Ton und Text. Und dem Drang nach Wörtern, die etwas zu sagen haben, nach schillernden Wörtern, wie sie sich in guter Literatur, in schönen Gesprächen finden lassen. Ein Tag voller Versuch|ung|en also & lauter Drängen. Endet er glücklich, dann verlässt ein wenig Unruhe mich abends – wenn nicht, nehme ich sie mit in die Nacht.

Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Zu erkennen, dass die Dinge zwar komplex sind, aber nicht kompliziert zu verstehen, wäre hilfreich: Es ist nicht kompliziert zu begreifen, dass man niemandem ein Leid zufügen soll, es ist nicht kompliziert zu begreifen, dass jeder Wünsche hat, die erfüllt werden möchten, es ist nicht schwer zu begreifen, dass Leid und Kummer Unglück und Härte befördern, und es ist nicht schwer zu begreifen, dass das Leben glücklicher wird, wenn man spielerisch, freundlich, undogmatisch zu sein sich erlaubt. Die Frage, wie sich diese Dinge verwirklichen lassen, mag komplex sein – zumal wenn man bedenkt, wie verschlungen Naturgeschichte und Geschichte der Gesellschaft sind und wie lange sie einander schon durchdringen –, die Dinge zu erforschen ist unabdingbar – sie zu verkomplizieren und dadurch implizit zu negieren aber ist grausam und beschwört exakt die Scheußlichkeiten herauf, wie sie uns in Wort und Tat allenthalben in Vergangenheit und Gegenwart begegnen.
Kurzum: Die Frage danach, was jetzt besonders wichtig für uns alle ist, lässt sich vielleicht mit ähnlichen Worten beantworten wie jenen, die der Erzählung nach Rabbi Hillel jenem Mann gegeben hat, der ihn bat, er möge ihm die Tora lehren, während er auf einem Bein stehe: »Was Dir zuwider ist, das tu keinem anderen an. Das ist die ganze Tora. Geh jetzt und lerne alle Gebote, damit du weißt, was du tun sollst und was du nicht tun darfst.«

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Es wäre schön, es gäbe tatsächlich einmal einen Aufbruch – und nicht ein permanentes Verwandeln alter Verhärtungen in neuer Aufmachung. Diese Dynamik wird sich aber wohl nur ändern können, wenn ein Leben ermöglicht wird, das nicht unter dem Druck permanenter Produktivität steht. Wenn permanent produziert werden muss, um leben zu können, dann ändert sich überhaupt nichts, dann dreht alles sich in einer Spirale immer weiter und schraubt sich immer weiter ins Katastrophale. Die Kunstszene folgt darin leider oft dieser Dynamik. Der einzelne Künstler hat kaum die Möglichkeit, sich anders zu verhalten, sonst gerät er freilich unter die Räder. Aber wenn er das permanente Produzierenmüssen verherrlicht, wird es erschreckend.
Ich denke, wir brauchen nicht permanente Produktion, sondern sinnvolle. Was das aber sein könnte: eine sinnvolle Produktion, kann ohne eine Verfeinerung der Wahrnehmung, ohne eine Resensibilisierung der Sinne – des Hörens, Sehens, Riechens, Schmeckens, Fühlens, Sprechens, Denkens, Träumens,… – kaum beantwortet werden. Zur Resensibilierung gehörte auch ein scharfes Bewusstsein für die eigene Materialität, die eigene Vergänglichkeit, die Kostbarkeit des Augenblicks, für Schönheit. Und es gehörte die Fähigkeit zur Utopie dazu: Ein Drängen nach einem glücklichen Leben, nach einem Leben ohne Tod, ohne Zwang. Literatur, Theater, Kunst gehören, so wie sie historisch geworden sind, heute zu den wenigen Bereichen, in denen eine solche Verfeinerung der Sinne potentiell überhaupt noch möglich ist – es müssten nicht die einzigen Bereiche sein und allzu oft wird auch hier nicht verfeinert, sondern vergröbert und paralysiert.

Was liest Du derzeit?
Unstet ist auch mein Lesen – auch hier, zum Glück, oftmals ein illustrer Wechsel: Ich lese versetzt die letzten Seiten von Gisela von Wysockis ›Der hingestreckte Sommer‹, E.T.A. Hoffmanns ›Der goldene Topf‹, Prosastücke aus Robert Walsers ›Kleinen Dichtungen‹, Soma Morgensterns ›Joseph Roths Flucht und Ende‹, Jörg Wickrams ›Rollwagenbüchlein‹, August Klingemanns ›Die Nachtwachen des Bonaventura‹, Gedicht-Fragmente von Sappho, Märchen aller Art, freilich immer wieder Walter Benjamins wundervoll poetische Texte, dazu Ernst Schöns ›Der Verlust der Sinnlichkeit/ oder die Verwandlungen des Lesers‹ über die Ursprünge unseres heute doch arg entsinnlichten und verdisziplinierten Lese- und Literaturverständnisses, und aus aktuellem Anlass – meiner Beschäftigung mit frühen ›Zeitungensformen‹ – gerade auch immer wieder in der Schedelschen Weltchronik von 1493. Dies sind Lektüren, für die ich selbst mich entscheiden kann. Um das permanente Lesen kommt man sonst ja, leider, kaum herum: Alles ist voller Buchstaben, überall Zettel, überall Äußerungen, überall zweifelsfreies Meinen – als wären Sprache und Buchstaben nichts Kostbares, als wären diese Schlangenlinien, die Bilder formen, als wären die Laute, die Klangbilder formen, nichts, was es zu deuten gälte. Um diese Art des suggestiven Lesens drücke ich mich, so gut es geht – und lese lieber in den Dingen, der Welt, den Augen, in Mimik und Gestik, in den Farben, Formen und Klängen – dort, wo ich deuten kann und darf.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ein Zitat aus Gisela von Wysockis ›Der hingestreckte Sommer‹, das auf den Punkt bringt, was hoffnungsvolles Sprechen, Schreiben und Mitteilen wäre. Wysocki fragt sich nämlich, warum die Texte Peter Altenbergs auf sie als Elfjährige einen solch überwältigenden Reiz ausüben konnten und gelangt zur Vermutung: »Es könnte ein Reiz davon ausgegangen sein, kein Verstehen aufgetischt zu bekommen. Sondern die Suche danach. Das wird es vielleicht gewesen sein. Für das Kind, beim Umblättern der Seiten. Es wird keine Ruhe gefunden haben und keine Klarheit.« Man könnte mit Wysocki selbst noch hinzufügen: Es wird außerdem daran gelegen haben, dass Altenbergs Worte »ruhelose Wörter« sind – Wörter, die aussprechen wollen, »was ihnen ins Auge sticht. An sich reißen, was sie kriegen können. Aus den letzten Winkeln kehren sie sich ihr Zeug zusammen. Es käme einer Täuschung gleich, ihnen etwas vorzuenthalten. Dafür würden sie sich rächen, sich in ihre Reviere zurückziehen. Eiskalt machen sie dicht und schweigen. Weil sie nicht nur ruhelose sind, sondern selbst Getriebene.« Das aber hat es mit jedem wirklich gelungenen Sprechen und Schreiben auf sich: Dass in ihm ruhelose, getriebene Wörter am Werk sind – und nicht vorgeplante, absichernde Suggestionen, die kein Deuten leiden mögen.
Vielen Dank für das Interview liebe Antje-Kathrin, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literatur-, Theater-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Antje-Kathrin Mettin, Schriftstellerin,
Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin
Zur Person_Antje-Kathrin Mettin _ geboren 1989 am Niederrhein, lebt derzeit in Leipzig und ist als Schriftstellerin, Theatermacherin, Literatur- und Theaterwissenschaftlerin tätig. Im Entstehen inbegriffen sind derzeit mehrere Gedichtzyklen: ›Durchbrüche – oder auch: Epiphanien im Bade‹, ›Schwesternschaften‹, ›Farbsuche‹ und ›Mikroskopie : Krustentiere‹ sowie ihre ›Mikrogramme‹ – lyrische Continuationen, die sie laufend bei Instagram veröffentlicht. Parallel dazu arbeitet sie derzeit an einem Buch zu Walter Benjamins Idee des Erzählens sowie an verschiedenen Theaterprojekten – darunter aktuell gemeinsam mit Juliane Harberg eine Aufführung von Paul Scheerbarts ›Okurirasûna‹ sowie Experimente zu einer neuen Form des Licht- und Schattentheaters. Sie studierte, gefördert durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes, Literatur- und Theaterwissenschaft in Leipzig und Paris. Es folgten Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Universität Leipzig sowie der Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy.
Fotos_privat
26.5.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.





































































