„wir müssen Sprache einen Raum geben“ Vinzenz Fengler, Schriftsteller_ Berlin 16.5.2023

Lieber Vinzenz Fengler, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich fahre jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit, die mit meiner literarischen und künstlerischen nicht so viel zu tun hat. Dennoch würde ich nicht von einem Brotjob sprechen. Ich habe mich vor fast 20 Jahren, während einer Neuorientierungsphase, dafür entschieden eine Arbeit zu finden, die ich mit Herzblut machen kann, und die mir auch genügend Zeit lässt, meinen kreativen Impulsen nachzugehen.

Also fahre ich nun täglich ins Büro und arbeite dort als systemischer Elterncoach und Antigewalttrainer bei einem Träger der Kinder- und Jugendhilfe. Die Elternberatungen mache ich dann im Büro, mit den Kindern und Jugendlichen gehe ich oft raus zum Arbeiten und nenne das Gedankengänge. Wenn man (zusammen) geht fließen die Gedanken einfach besser und es ist nicht so konfrontativ, weil man gemeinsam in eine Richtung schaut. Ich habe im Laufe der Jahre viele Fortbildungen gemacht und gemerkt, dass ich diese Arbeit sehr gut kann, dass sie zu mir passt, dass ich mich selbst als wirksam erlebe und im Ergebnis oft etwas bewirken kann, insbesondere für eine Verbesserung der Lebensqualität dieser Kinder und Jugendlichen. Und so fahre ich dann  – zwar erschöpft oft, aber zufrieden – jeden Tag bis Donnerstag wieder mit dem Fahrrad nachhause.

Von Freitag bis Sonntag stehen dann bei mir den Musen alle Türen und Tore offen. Nicht selten schleichen diese sich aber schon unter der Woche ein, und ein Gedicht kommt über mich, oder die Idee zu einer Fotoserie oder einer Performance. Das läuft dann doch nicht so trennscharf ab. Aber auch das ist gut so. Ich liebe es, überrascht zu werden. Und seit der Corona-Zeit habe ich mich wieder mehr mit der Natur verbunden, fahre am Wochenende raus, nehme auch in der Stadt viel mehr die kleinen Idyllen wahr, die Tiere, die Parallelwelten zu Hektik und Stress. Langsam erinnere ich mich wieder an den kleinen Jungen, der ich war, der in den Wäldern der Lausitz aufgewachsen ist; ich finde immer mehr Zugang zu ihm, es ist wie das Neuentdecken einer fast verschollenen Identität, eine längst überfällige Biographiearbeit, die sich in letzter Zeit oft auch in Gedichten widerspiegelt.

Vinzenz Fengler, Schriftsteller, bildender Künstler & Performer

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Auch als „abgefallener Katholik“ (O-Ton: meine Mutti) würde ich sagen: Demut. Und zwar in dem Sinne, sich selbst immer wieder gewahr zu werden, was man hat und in Anspruch nehmen kann, und welchen Dingen man, auf Grund seiner Herkunft, dem Ort, an dem man geboren wurde und aufgewachsen ist, und den damit einhergehenden Privilegien, nicht ausgesetzt ist. Und aus dieser Selbstreflexion sollte, aus meiner Sicht, ein Solidaritätsbestreben entstehen, also der Reflex, sich für Schwächere einzusetzen mit all den Möglichkeiten, die man hat. In meiner Arbeit zum Beispiel begegnet mir (nicht erst seit Corona) ein eklatanter Anstieg von häuslicher Gewalt und auch psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Erklärungsversuche dafür gibt es zahlreiche. Bei den Kindern und Jugendlichen spüre ich aber einen enormen Leistungsdruck und krass existentielle Zukunftsängste. Ich finde, wir müssen es schaffen, ihnen wieder diese Unbeschwertheit zurückzugeben, die z.B. ich als Kind noch hatte. (Auch wenn wir damals den Horror eines Atomkriegs auch schon vor Augen hatten)

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Auch wenn ich glaube, dass gute Gedichte über einen kommen wie etwas, gegen das man sich nicht wehren kann (und sollte), und nicht in kleinteiliger Heimarbeit am Schreibtisch zusammengebastelt werden, sollten wir uns – insbesondere als Lyriker:innen – immer mal wieder vergewissern, ob wir uns nicht zu weit aus gesellschaftlichen Gegebenheiten und -Zusammenhängen herausgelöst haben und – möglicherweise – in einer nach außen getragenen Innenschau nur noch um uns selbst kreisen. Und damit meine ich nicht, dass wir eine explizit politische Lyrik brauchen, aber das Außen sollte uns noch berühren (im Sinne von Mitgefühl) und ab und zu (wenigstens) in den Gedichten verhandelt werden, indem sie z.B. auf Leid und gesellschaftliche Schieflagen hinweisen, und so Resonanzen erzeugen, möglicherweise auch Handeln und Engagement auslösen. Ich bin ein zutiefst Gläubiger, was die Heilkraft der Sprache anbelangt. Aber wir müssen dieser Sprache einen Raum geben, insbesondere auch wenig oder nicht gehörten Stimmen.

Was liest Du derzeit?

Gerade wiedermal den (inzwischen fast zerfledderten) Gedichtband „Asketische Zeichen“ des rumänischen Dichters Virgil Mazilescu. Ich hab diesen ins Deutsche übersetzten Band Ende der 80er-Jahre in Rumänien gekauft und konnte danach lange nichts mit diesen Gedichten anfangen. Später hab ich schlagartig einen Zugang gefunden und liebe diese – dem Suprematismus von Malewitsch zugeneigten – Gedichte seitdem, staune immer wieder, ziehe meinen Hut, nein, reiß mir die Mütze vom Kopf vor Ehrfurcht. (Pathosverdacht! : egal)

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Zuerst müssen wir uns beruhigen, atmen und über uns selbst hinwegkommen.“ (Chimamanda Ngozi Adichie)

Und speziell auf die Literatur bezogen möchte ich auf den Aufsatz „Der Tod des Autors“ von Roland Barthes verweisen. (vgl. meine Überlegungen weiter oben)

Vinzenz Fengler, Schriftsteller, bildender Künstler & Performer

Vielen Dank für das Interview lieber Vinzenz, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literatur-, Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Vinzenz Fengler, Schriftsteller, bildender Künstler & Performer

Zur Person_Vinzenz Fengler wurde 1969 in Hoyerswerda geboren und lebt seit 2001 in Berlin. Seit Anfang der 90er Jahre beschäftigt er sich mit Photographie und Performance Art, später kommen noch Kunstinterventionen im öffentlichen Raum dazu.  Er schreibt Lyrik, Prosa und Stücke. Zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Vinzenz Fengler ist Zweitplatzierter (zusammen mit Monika Littau) des Polly Preises für Politische Lyrik 2016. Im Juli 2020 erschien „Stimme.Stimme“, ein gemeinsam mit Isabella Lehmann geschriebenes Theaterstück bei Edition Maya, im April 2023 sein Lyrikband „Materialermüdung tragender Teile“ im ELIF Verlag.

www.vinzenz-fengler.de

Fotos_privat

Walter Pobaschnig _ 10.4.2023

https://literaturoutdoors.com

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