„Spiritualität ist eine Bereicherung“ Franzobel im Interview zu seinem neuen Roman „Einsteins Hirn“ Zsolnay Verlag 2023.

Franzobel, Schriftsteller_
Bachmannpreisträger 1995
_
Fotos _ Prater Wien 5/22

Lieber Stefan, Dein neu erschienener faszinierender Roman „Einsteins Hirn“ („Einsteins Hirn“ Franzobel. Roman. Paul Zsolnay Verlag. 2023) begibt sich auf die Lebensspuren des US-amerikanischen Pathologen Thomas Stoltz Harvey, der dem toten Albert Einstein sein Hirn entnahm und dieses mit auf seine Lebensreise in allen Schattierungen mit. Diese persönlichen Lebensstationen öffnen auch die gesellschaftlichen Fragen, Positionen zu  Mensch, Welt, Wissenschaft, Religion und Zeit.

Der österreichische Schrftsteller Franzobel vor dem Haus von Albert Einstein in Princeton/New Jersey/USA. Foto:Franzobel (folgende)

Wie kam es zu diesem literarischen Stoff und Ausgangspunkt für Dich?

Ich denke, der Stoff war ein kosmisches Geschenk, jedenfalls wusste ich sofort, dass ich über diesen Thomas Harvey, der 42 Jahre mit Einsteins Hirn gelebt hat, schreiben muss, weil es eine irre Geschichte ist, die unglaublich viel Potential enthält. 

Princeton, Spital, in dem Albert Einstein (*14.März 1879 Ulm/D) am 18.April 1955 starb. Foto:Franzobel (folgendes)

Wie gestaltete sich der Schreibprozess?

So wie Harvey von dem Hirn besessen war, war ich es von dem Stoff. Natürlich war auch viel Recherche notwendig und gab es mit dem Text auch Kämpfe, aber größtenteils war es ein einziger furioser Schreibrausch.

Du hast ausgedehnte Recherchereisen für „Einsteins Hirn“ unternommen. Welche Stationen hast Du besucht und was war dabei besonders beeindruckend?

In Lawrence, Kansas, konnte ich Menschen treffen, die Harvey kannten. Leute, die in der Plastikfabrik gearbeitet haben, in der auch der 80jährige Harvey als Hilfsarbeiter beschäftigt war. Seine Quäkerfreunde, einen Mann, der in dem Gefängnis gearbeitet hat, in dem Harvey eine Weile lang als Arzt tätig war. In Princeton sah ich Einsteins Wohnhaus, den Ort, wo damals das Spital stand, in dem der große Physiker gestorben ist und Stunden später von Harvey obduziert worden ist. Außerdem war ich länger in Manhattan. Am beeindruckendsten aber war die Wüste in Algerien und ein heiliger Berg in Sri Lanka.   

Dein Roman stellt sich den Fragen von Leben, Endlichkeit und Unendlichkeit auf vielfältige spannendste Weise. Hat das Schreiben am Roman deine Perspektiven dazu verändert?

Kann man sich überhaupt verändern? Schreiben ist immer wie in einen Traum eintauchen und das tapsige Gefühl danach gleicht dem Gehen in warmem, frischem Sand. Die Spuren sind jedes Mal neu und wenn man auf spitze Steine tritt, sticht es jedes Mal aufs Neue.    

Religiöse wie wissenschaftliche Sozialisation beginnt meist mit Schuleintritt. Wie hast den Religions- und Physikunterricht in der Schule erlebt und was braucht es für Dich da pädagogisch heute?

Klebrig. Ich habe Schule immer als Zwang empfunden, wo Begeisterung eher zerstört als gefördert wird. Der Institution Schule ist immer noch das Leitmotiv zur Fabrikation williger Untertanen anzumerken. Man müsste das völlig neu denken, was nicht leicht ist, weil bei den Erwachsenen das Ich-habs-auch-überlebt-und-es-hat-mir-nicht-geschadet vorherrscht. Schule ist ein System, das alle unglücklich macht und Kreativität zerstört, weil es die Genialität des einzelnen verdurchschnittlicht.    

Welche Bedeutung haben Wissenschaft und Religion für eine Gesellschaft?

Glaube kann sehr bereichernd sein, so lange er nicht darauf beharrt, der einzig wahre und richtige zu sein. Dann gibt es auch keine Konkurrenz zur Wissenschaft, der wir natürlich allen Fortschritt und Luxus verdanken. Die Erkenntnisse der letzten hundertzwanzig Jahre sind ebenso atemberaubend wie die im Namen der Religion verübten Verbrechen.    

Die Bedeutung wie die Kritik an Wissenschaft nahm in den letzten Jahren gesellschaftlich zu. Wie siehst Du diese Spannungen und wie kann es hier wieder zu einem guten Miteinander kommen?

Die Dummheit ist tatsächlich grenzenlos und angesichts der vielen Unrechtssysteme denke ich mir oft, Himmel, lass Hirn regnen. Religiöse Hardliner sollten sich in Klöster zurückziehen und den Rest der Menschen in Ruhe lassen. Wissenschaftsfeindlichkeit ist leider sehr verbreitet und nicht selten der Keim für ein inhumanes, menschenverachtendes System. Für mich lauten die Zauberworte Toleranz, Gelassenheit, Humor und Freiheit. 

Was bedeutet Dir persönlich Religion?

Spiritualität ist eine Bereicherung. Ich gehe auf Reisen immer in alle Tempel, Kirchen, Moscheen, Synagogen, und liebe es, an religiösen Ritualen und Festen teilzunehmen, weil mich das ergreift. Noch wichtiger ist mir aber das Staunen über die Vielfalt der Natur. Der Mensch hat die Bestimmung zu leben, und seine erste Pflicht ist es, das Leben zu achten. Wenn man an eine unsterbliche Seele glaubt oder daran, dass alle Menschen Kinder Gottes sind, sieht sofort alles anders aus, wird auch die Welt ein bisschen besser.  

Harvey war Mitglied der Quäkerreligionsgemeinschaft. Du hast mit Mitgliedern gesprochen. Welchen Eindruck hast Du da über Harvey und den alternativen Lebensstil in dieser Gemeinschaft gewonnen?

Auch Einstein war fasziniert von dieser friedliebenden, unhierarchischen Gemeinschaft. Die „Gesellschaft der Freunde“, wie sie sich selbst nennen, ist eine faszinierende Religionsgemeinschaft, die im Gegensatz zu den meisten anderen nichts Schlimmes angerichtet hat. Ich mag die Quäker sehr.   

Das tägliche „Universum“ von Harvey in Liebe, Beruf, Perspektive ist ein brüchiges. Was lässt Harvey immer wieder neue Kraft finden?

Harvey war ein sympathischer Kerl, der sehr gläubig war, das Leben geliebt hat und eine große Leidenschaft, ja fast Besessenheit hatte – das Hirn von Albert Einstein.    

Harvey lebte gegen Ende seines Lebens in Nachbarschaft zum amerikanischen Autor W.S.Burroughs. Hatten die beiden Kontakt? Sind die Wohnhäuser heute Museen?

Der Beat-Poet und der Pathologe mit Einsteins Hirn waren befreundet. Museen sind beide Häuser nicht. Burroughs kleines rotes Häuschen wird gerade zum Mieten angeboten, und Harvey wohnte in einer einfachen Wohnhausanlage.

Wohnhaus von William S.Burroughs (*5.Februar 1914 St.Louis, Missouri + 2.August 1997 Lawrence/Kansas), Schriftsteller, „Naked lunch“ (1959), in Lawrence/Kansas. Foto:Franzobel

Im Roman spricht „Einsteins Hirn“. Was würdest Du Einstein selbst fragen wollen?

Natürlich würde mich interessieren, wie ihm das Buch gefällt.

Wo befindet sich Einsteins Hirn heute?

Es heißt, das Hirn ist in Chicago und die plastifizierten Streifen sind in Philadelphia. Aber wer weiß, vielleicht befinden sich die in Formaldehyd eingelegten Hirnwürfel auch in meinem Nachtkästchen? Oder als Kimchi bei einem Koreaner? 

Was sind Deine kommenden Projektpläne?

Nordgrönland. Wieder ein historischer Roman, weil mir da gerade die liebste Form ist, aber auch die meiste Arbeit. Wieder hat mir das Schicksal eine unwahrscheinliche Informationsquelle geschenkt, aber davon später mehr.

Herzlichen Dank, lieber Stefan, für das Interview und Deinen großartigen Roman! Viel Freude und Erfolg weiterhin!

Roman Neuerscheinung:

„Einsteins Hirn“ Franzobel. Roman. Paul Zsolnay Verlag. 2023.

Alle Fotos_USA_Haus Einstein/Spital_Haus Burroughs _ Franzobel 2022

Fotos_Portrait/Franzobel _ Walter Pobaschnig_Wien Prater _ 5/2022

Walter Pobaschnig 2_22

https://literaturoutdoors.com

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