„Denn ich denke, dass Krieg in den Köpfen, im Kleinen beginnt“ Leonhard F.Seidl, Schriftsteller _ Fürth/D 23.5.2022

Lieber Leonhard, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Der sieht fast täglich anders aus.

Wenn ich Glück habe, weckt mich der Sonnenschein durch mein großes Fenster. So fällt es mir leichter, den Morgen dankbar zu beginnen. Dankbar für meine Gesundheit, Obdach, Essen, meine Freund:innen, Familie und meine Kinder; und für den Frieden.  Nun gilt es Frühstück und Brotzeit für die Kinder vorzubereiten, mit ihnen zu frühstücken und sie zu verabschieden. Darauf folgen die Fünf Tibeter, eine meditative Morgengymnastik.

Nachdem ich mich fertig gemacht habe, checke ich emails, gebe Interviews, schreibe, lese, gehe in die „Natur“, schreibe darüber, recherchiere, schreibe.

An manchen Tagen bin ich noch ehrenamtlich tätig als Vorsitzender des Schriftsteller:innen-Verbandes in Mittelfranken oder für das PEN-Zentrum, wo ich mich für verfolgte Kolleg:innen einsetze, um sie am hohen Gut der Meinungs- und Kunstfreiheit teilhaben zu lassen.

Nachmittags und Abends verbringe ich Zeit mit meinen Kindern, Eltern und / oder Freund:innen. Oder auf der Matte im Aikido-Dojo oder in der Boulderhalle oder in der „Natur“. Zu meinem Tagesabschluss gehört meine unverzichtbare und liebgewonnene Zen-Meditation und meine Kinder ins Bett zu bringen. Manchmal bin ich abends allerdings auch unterwegs und habe eine Lesung oder nehme an einer Podiumsdiskussion teil.“

Leonhard F.Seidl, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Alles dafür zu tun, die Klimakatastrophe zu stoppen. Unser Leben, das Wirtschaftssystem, Mobilität und Konsum müssen alles auf dieses Ziel hin angepasst werden. Für die Erde, unsere Kinder und die nachfolgenden Generationen, weltweit.

Der Krieg in der Ukraine hat noch einmal unterstrichen, wie wichtig es ist, auf erneuerbare Energien umzusteigen, um nicht von Autokraten abhängig zu sein. Und wie wichtig dafür der Friedenswille ist. Ich bin schockiert von den unzähligen Kriegsminister:innen in den sozialen Medien, die sprachlich aufrüsten und unreflektiert Kriegsvokabular verwenden. Denn ich denke, dass Krieg in den Köpfen, im Kleinen beginnt und Frieden tendenziell durch Diplomatie und nur seltenst mit Waffengewalt erreicht werden kann.  Diese bringt Leid mit sich, bei den Menschen, die sie erfahren, die ihre Söhne verlieren, aber auch bei denen, die sie ausüben. Da bin ich ganz bei Fritz Oerter, dessen kommentierte Autobiografie „Lebenslinien“ gerade im im Verbrecher-Verlag erschienen ist und der auch in meinem druckfrischen Kriminalroman „Vom Untergang“  (Edition Nautilus) eine Rolle spielt. Darin geht es übrigens auch um einen Säulenheiligen der heutigen extremen Rechten, um den neurotischen Lügner Oswald Spengler, der regelmäßig in dem oberbayerischen Ort Isen war, in dem ich aufgewachsen bin und als einer der Wegbereiter des Hitlerfaschismus gilt. Auch er ist einer der Protagonist:innen in „Vom Untergang“.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Literatur kann eine Vermittlerrolle zwischen Natur und Kultur einnehmen und damit die künstlich erzeugte Trennung bestenfalls aufheben. Dabei sehe ich mich durchaus als Botschafter. Etwa, wenn ich ab heute zwei Wochen auf der österreichischen Seite im Nationalpark Thaytal verbringen werde und zwei Wochen im tschechischen Národní park Podyjí im ehemaligen Zollhaus am Ufer der Thaya, dort, wo einst der Eiserne Vorhang verlief. Dort werde ich den Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart nachspüren, im Tal der Thaya als verbindendes Element des Schutzgebietes. Aufgrund des völkerrechtswidrigen Angriffes Putins und der russischen Armee auf die Ukraine, rückt dieses Kapitel der Geschichte noch einmal in ein aktuelleres Licht.

Was liest Du derzeit?

Wie immer mehrere Bücher. Berge im Kopf von Robert McFarlane. Die Diplomatin von Lucy Fricke, die ich für den September im Zuge einer Lesereihe des Schriftsteller:innen-Verbandes Mittelfranken zu einer Lesung zusammen mit Christian Baron und Anke Stelling nach Fürth eingeladen habe zum Thema „Klasse!?“. Außerdem lese ich noch Grammatik der Lebendigkeit von Robin Wall Kimmerer und blättere gerne im imposanten Bildband „20 Jahre Nationalpark Gesäuse – Wildes Wasser – steiler Fels“, um die Berge nicht zu sehr zu vermissen.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Es entwürdigt den Menschen, wenn er Gewalt erduldet, aber es entwürdigt ihn noch mehr, wenn er sie verübt.

Der tiefste Sinn der menschlichen Kulturbewegung liegt wohl darin, die Gewalt im Leben der Menschheit mehr und mehr auszuschalten, bis alle Konflikte ausschließlich durch den Geist gelöst werden und ein völliger Friede erreicht ist.“

Fritz Oerter

Vielen Dank für das Interview lieber Leonhard, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an Künstler*innen:

Leonhard F.Seidl, writer bei Verbrecher Verlag, Autor bei Kulturmaschinen und writer bei Edition Nautilus

Foto_Katrin Heim.

19.5.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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