Liebe Saskia, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
In den letzten beiden Jahren habe ich mir durch das vermehrte Arbeiten von zu Hause feste Routinen geschaffen. Dazu gehören einige Stunden am Morgen, die nur mir gehören. Ich stehe meist um kurz nach sechs auf. Ich trinke Kaffee und esse ein Stück Obst. Danach praktiziere ich eine Sequenz Yoga. Das bringt mich in eine innere Stille, aus der heraus ich mich hinsetze und schreibe, mindestens eine halbe Stunde, häufig länger, je nachdem, wann mein erster Termin stattfindet.
Im weiteren Verlauf gestalten sich meine Tage sehr unterschiedlich. An manchen Tagen kann ich mich ganz meinen eigenen Vorhabe widmen, an anderen steht die künstlerische Lehre im Fokus. Ich bin dankbar für die Abwechslung und dankbar, dass ich mich durch das, was ich tue, mit anderen in einem stetigen Forschungsprozess befinde, der sich durch die besonderen Umstände, in denen wir uns einrichten mussten, intensiviert hat. Ich habe den Eindruck, wir sind mit Fragen konfrontiert, welche die Bereitschaft zu tieferen Auseinandersetzungen in uns anregen. Ich bin dankbar, dass ich in den letzten beiden Jahren vielen Menschen begegnet bin, die zu diesen Auseinandersetzungen auf eine offene und aufrichtige Weise bereit sind und mit denen ich mittlerweile regelmäßig arbeite.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Viele von uns befinden sich gerade in diesen Tagen in Zuständen der Angst. Dabei wäre es so wichtig, jetzt zentriert zu bleiben. Wenn wir etwas anderes in der Welt sehen wollen als das, was sich vor unseren Augen entfaltet, sind wir es, die in der Verantwortung sind, es zu gestalten. Egal, wie klein wir die Dimension unseres Wirkungsradius einschätzen mögen. Ich glaube daran, dass ein Handeln im Kleinen auch auf den nächstgrößeren Kontext wirkt und so weiter. Neue Perspektiven können durch Kunst, durch Literatur eingebracht werden, aber auch durch unser unmittelbares Wirken in jedem Moment.
In meinen Augen braucht es dafür einen inneren Ort, der unberührt ist von dem, was sich im Außen vollzieht. Für mich persönlich stelle ich fest, dass das auch bedeutet, mich zeitweise von medialen Inhalten zu distanzieren, nicht um Ignoranz zu kultivieren angesichts der Vorgänge in der Welt, sondern um in der Lage zu sein, meinen Teil zu dem beizutragen, was ich – was wir – sehen wollen. Um meine Energie- und Kraftressourcen und meine innere Klarheit zu bewahren.
Eine Frage, die ich mir seit einer Weile täglich stelle, ist diese: Habe ich heute mehr kreiert als konsumiert?
Wenn wir heute auf Facebook posten, dass wir uns für Frieden und gegen Krieg aussprechen und Demonstrationen besuchen, ist das zwar richtig, aber es verpflichtet uns auch dazu, dass wir die Prinzipien, die Frieden stiften, selbst verkörpern – auch im Kleinsten. Für mich ist dies eine der wichtigsten Wertvorstellungen, die ich angesichts dieser konfliktreichen Zeit gewonnen habe. Und wenn ich sie wirklich an mich heranlasse, sehe ich die vielen subtilen Ebenen, auf denen ich selbst noch Prinzipien reproduziere, die nicht dem dienen, was ich sehen möchte und von Instanzen außerhalb meiner Selbst einfordere. Die Prinzipien, die Krieg, also konfliktreichen, militärischen Auseinandersetzungen von Staaten, zugrunde liegen, sind die gleichen die konfliktreichen Auseinandersetzungen in meinem unmittelbaren Umfeld zugrunde liegen. Die Dimension und Tragweite mag sich gewaltig unterscheiden, aber in seinem Wesen drückt sich Konflikt in allen Dimensionen durch ähnliche Prinzipien aus. Ich denke, es ist wichtig, auch hin und wieder still zu werden, sich zurückzuziehen und in eine bescheidene, ehrliche Auseinandersetzung mit sich selbst zu kommen, um schließlich im Wirken nach außen kollektive Traumastrukturen nicht weiter zu reproduzieren. Das ist für mich der Moment, wo innere Arbeit über das Persönliche hinausreicht und zu einem gesellschaftlichen Beitrag wird.
Diese Frage beschäftigt mich bereits sehr lange: Inwiefern tragen wir unerlöste Anteile in uns, die auf sehr subtile Weise in unserem Wirken zur Reproduktion der Prinzipien von Krieg, Herrschaft und Gewalt führen, insbesondere unter dem Einfluss vermeintlicher oder realer Bedrohungen, die auf uns einwirken. Diese Frage war für mich auch beim Schreiben meines Romans Drop zentral, der vor dem Beginn der Pandemie fertig war, aber noch nicht erschienen ist. Diese Zeit weist so viele Parallelen auf zu dem, was ich dort beschrieben habe, dass es mir manchmal unheimlich ist. In gewisser Weise überrascht mich deshalb nicht, was wir im Augenblick erfahren.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Den Aufbruch spüre ich persönlich sehr stark. Es mag zunächst paradox wirken angesichts des Gewaltvollen, das sich im Augenblick in der Welt zeigt. Oft ist es in meiner Erfahrung aber gerade diese innere Erschütterung, der Illusionsverlust, den es benötigt, um sich für etwas Neues öffnen zu können.
Für das Schreiben, die Literatur, kann es wichtig sein, sich zu vergegenwärtigen, dass alle Geschichten, die wir erzählen, Welt erschaffen.
Da ich an der Schnittstelle zwischen Literarischem Schreiben und Design arbeite und lehre, inspirieren mich häufig Schriften aus dem Designbereich für das literarische Schaffen und das Nachdenken über Literatur. In letzter Zeit kommt mir häufig die politische Designtheorie von Friedrich von Borries in den Sinn: Weltentwerfen, 2016 im Suhrkamp Verlag erschienen, die mich nachhaltig geprägt hat. Der Band beginnt mit der Herleitung seiner zentralen Thesen aus Martin Heideggers Sein und Zeit: »Als geworfenes ist das Dasein in die Seinsart des Entwerfens geworfen.«
Der Gedanke, dass der Mensch nicht anders kann, als zu entwerfen, ist auch für das Erzählen relevant. Der Mensch kann nicht nicht erzählen. In jedem Moment erzählen wir und entwerfen damit Welt, oft jedoch ist uns unser eigenes Erzählen und das Wirklichkeit stiftende Moment, das ihm innewohnt, nicht bewusst. Wenn wir uns dieses Vorgangs bewusstwerden, haben wir die Chance Welt bewusst zu gestalten, als literarisch Erzählende, aber auch als Mensch, jetzt, in diesem Moment.
Von Borries zitiert auch Vilém Flusser, der Heideggers Gedanken ein politisch wiederständiges Moment hinzufügt, wenn er sagt: »Wenn wir entwerfen, befreien wir uns. Das ist der Wesenskern unseres Menschseins.«
Auch das lässt sich auf das Erzählen, auf das Kunstschaffen im Allgemeinen übertragen, ebenso wie Otl Aichers zentrale These aus seinem Text die welt als entwurf: »die welt, in der wir leben, ist die von uns gemachte welt. (…) im entwerfen kommt der mensch zu sich selbst.«
Von Borries‘ darauf aufbauende Designtheorie ist für mich – mit dem Gedanken an ihre Übertragbarkeit auf Literatur – sehr aufregend zu lesen und stiftet viel Hoffnung, erinnert aber auch an die Verantwortung, die uns als Gestaltenden und Schreibenden zukommt.
Um den Vorgang des Erzählens wahrnehmen zu können, ist es hilfreich, wenn unser Denken auch einmal still werden kann. Scheinen dann Gedanken auf, die sich zu Erzählungen formen, werden wir sie als solche wahrnehmen können. Dann wird es möglich, eine bewusste Entscheidung zu treffen, ob diese Erzählung eine Verkörperung finden soll, zunächst einmal, indem sie laut ausgesprochen oder aufgeschrieben wird. Die innere Stille ist für mich zentral. In dieser Hinsicht wohnt selbst der Meditation ein politisches Moment inne. Ich muss still sein können, um wahrzunehmen, was ich der Welt hinzufüge.
Was lest Du derzeit?
Vor einem Jahr habe ich WOW & FANCE gegründet, ein Research Lab, in dem es um die Erforschung der künstlerischen Praxis des Schreibens, insbesondere unter Einbezug somatischer Ansätze aus dem Movement Research, dem Tanz und dem Yoga geht, aber auch um die bewusste Gestaltung von Werkstattprozessen für das Schaffen von Literatur, die bestimmte Mechanismen des Literaturbetriebes nicht reproduzieren. (www.wow-and-fance.de)
Im Augenblick lese ich hauptsächlich hierfür und für ein Seminar, das ich im Sommersemester am Literaturinstitut in Hildesheim geben werde, bei dem es ebenfalls um den Einbezug des Körpers in den Akt des Schreibens gehen wird. Gerade liegen hier: John Lees Writing from the Body, Jacques Lecoqs Der poetische Körper und Bücher von Twyla Tharp und Martha Graham.
Das ist für mich eine weitere wichtige Qualität in dieser Zeit: wirklich verkörpert zu sein. Das heißt zunächst einmal, in meinem Körper präsent zu sein. Mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen und aus diesem sicheren Stand heraus mein Wirken in der Welt zu gestalten, auf eine möglichst bewusste Weise.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Kein Zitat, aber einen Impuls:
Was habe ich heute kreiert? Und entspricht es dem, was ich unserer Gegenwart hinzugefügt sehen möchte?
Vielen Dank für das Interview, liebe Saskia, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Danke für die wichtigen Fragen und die wundervolle Interview-Serie.
5 Fragen an Künstler*innen:
Saskia Nitsche, Autorin
https://www.saskianitsche.com/
Foto_Daniel Nartschick
28.2.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.