„Der poetischste Selbstmord der Literaturgeschichte“ Lisa Kröll, Schauspielerin_Romanjubiläum Malina_Wien 16.1.2022

Lisa Kröll, Schauspielerin_Wien

Herzlich Willkommen, liebe Lisa Kröll, Schauspielerin, hier im Café Prückel in Wien! Vielen Dank für das Interesse und die Teilnahme am szenischen Foto/Interviewprojekt zum Romanjubiläum „Malina“, Ingeborg Bachmann!

Welche Bezüge gibt es von Dir zum Roman Malina und Ingeborg Bachmann?

Ein Freund von mir ist ein riesiger Ingeborg-Bachmann-Fan, ich würde sogar sagen ihr größter Fan, und vor Kurzem hat er sich ihr Gesicht auf seine Brust tätowieren lassen. Das hat mich dazu bewegt, mich mit ihren Texten zu beschäftigen.

Den Roman Malina habe ich als Vorbereitung für unser Projekt gelesen, und ich habe mich immer wieder in Bachmanns namenloser Ich-Figur ertappt.

Möchtest Du da bestimmte Aspekte nennen?

In meinen früheren Beziehungen dachte ich immer, ich bin so der Ivan (lacht). In meiner aktuellen Beziehung musste ich feststellen, dass ich einen Ivan kennengelernt habe und für mich dann nur noch die Rolle der Ich-Erzählerin übrig war. Interessant, wie man in verschiedenen Beziehungen ganz unterschiedliche Rollen einnimmt und sich selbst durch sein Verhalten überrascht. Ich habe entdeckt, dass ich ein Ivan, aber auch die Ich-Person im Roman sein kann. Aufregend.

Sind die Protagonisten*innen in ihrer Typologie geschlechterunabhängig?

Meiner Meinung nach ja. Ich glaube, dass die Geschichte in der heutigen Zeit mit umgekehrten Rollenbildern genau so funktionieren würde.

Wie gehst Du jetzt in literarischer Analogie zur Ich-Erzählerin mit den Emotionen um?

In gewissen Situationen möchte auch ich manchmal in einem Riss in der Wand verschwinden (lacht).

Die Ich-Figur ist in ihren Emotionen gefangen. Ich finde es wichtig, immer wieder Abstand von den eigenen Emotionen zu nehmen und zu versuchen, den Sachverhalt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Je nachdem, welche Menschen einen dabei unterstützen, kann sich das Bild von der wahrgenommenen Situation und einem selbst drehen. So kann man eine komplett andere Sichtweise annehmen und andere Seiten / Rollen an sich entdecken. Es kann spannend sein, ganz Neues an einem zu sehen.

Was ist für Dich das Spannende und auch Dramatische an den Rollenwechseln?

Wir haben meist ein fixes Bild von uns wie wir uns benehmen, und man ist sich dann sicher – so bin ich. Und dann kommt eine Person und wirft es über den Haufen. Und genau das ist das Spannende, Dramatische.

Plötzlich merkt man, ich kann anders sein bzw. anders wahrgenommen werden. Ich kann so oder so sein. Es ist aufregend, wenn die eigene Erwartungshaltung in Frage gestellt wird.

Du hast das letzte Kapitel des Romans gestern Abend gelesen. Was sind jetzt Deine Gedanken unmittelbar danach dazu?

Den Schluss der Geschichte habe ich mir bis gestern Abend aufgespart, um den Nervenkitzel der letzten Seiten voll auszukosten (lacht).

Das dramatische Ende der Ich-Erzählerin hat mich so berührt, dass ich Gänsehaut bekommen habe. Ich fand es wahnsinnig schön und tieftraurig gleichzeitig. Ingeborg Bachmanns Sprache hat mich an dieser Stelle richtig gefangen genommen.

Müsste ich eine Lieblingsstelle des Romans nennen, wäre es eindeutig der Moment, in dem die Ich-Figur in einem Riss in der Wand verschwindet – der poetischste Selbstmord der Literaturgeschichte.

Wo und wie liest Du gerne, auch im Café?

Mich kann man an den unterschiedlichsten Orten lesend antreffen, da es mir große Freude bereitet. Einen Teil von Malina habe ich zum Beispiel im überfüllten und lauten Zug gelesen.

Ich finde es total cool, die Kaffeehauskultur zu zelebrieren und bin eine echte Kaffeehausleserin. Aber auch zuhause, ungeschminkt und in eine Decke eingemummelt, fühle ich mich – stundenlang ungestört lesend – wohl.

Manchmal passiert es, dass ich ein paar Minuten lese, auf die Uhr schaue, und merke, dass drei Stunden vergangen sind.

Wie siehst Du die Kapiteleinteilung des Buches und die inhaltlichen Schwerpunkte darin?

Ich finde es großartig, dass das Buch in drei Kapitel geteilt ist, die sich so stark voneinander unterscheiden – vom Stil, dem Inhalt und den Emotionen her, die die Ich-Figur durchlebt. So war ich immer schon erwartungsvoll, was das nächste Kapitel wohl bringen mag.

Im ersten Kapitel des Romans kommt es zur Begegnung mit Ivan vor dem Blumengeschäft. Gibt es Liebe auf den ersten Blick?

Gibt’s vielleicht, ich kenne sie nicht (lacht). Bei mir ist es eher Liebe auf den zehnten Blick oder so (lacht).

Man kann sich aber gut vorstellen, wie man hier entspannt sitzt und plötzlich eine umwerfende Person das Prückel betritt.

Wie siehst Du diese beginnende und weiterführende Liebesbeziehung zwischen der Ich-Erzählerin und Ivan?

Im Laufe der Geschichte entschwindet Ivans Liebe und das Selbstwertgefühl der Ich-Person prückelt … äh bröckelt (lacht). Mit der Zeit wird ihr die Beziehung zum Verhängnis: Ihre Abhängigkeit von Ivan führt neben dem tiefergehenden Ursprung ihrer Probleme zur Eskalation und zum verstörenden Ausgang.

Einen besonders schönen Moment ihrer Beziehung finde ich die vorhin erwähnte erste Begegnung vor dem Blumengeschäft. Die beiden sehen sich und ihnen wird unmittelbar klar, dass sie schnell miteinander weggehen müssen, um den fragilen Augenblick nicht zu zerstören.

Ist das auch heute möglich?

Wenn beide Malina gelesen haben und a bisserl romantisch sind – vielleicht (lacht).

Wie nimmst Du die Emotionen der Ich-Erzählerin wahr, etwa im wiederkehrenden Prozess des Wartens auf Ivan?

Sie sitzt nur noch untätig herum, vernachlässigt sich selbst und ihre Arbeit und das Warten auf Ivans Anrufe wird zur Hauptbeschäftigung. Sie nimmt eine passive Rolle ein und macht ihr Wohlbefinden von einem Mann abhängig. Das hat mich sehr geärgert!

In dem Moment, in dem ein Zeichen von Ivan kommt, explodiert ihr Glück.

Was steckt in der Explosion des Glücks mit Ivan alles drinnen?

Plötzlich hat sie das Gefühl, Bäume ausreißen zu können.

Die nächste Ivan-Dosis ist da, und alles ist wieder gut: Sie ist glücklich, beschwingt, voller Zuversicht und mit einer Energie erfüllt, die ihr alleine schon längst abhanden gekommen ist. Die Ivan-Droge (lacht).

Wie siehst Du die Erzählfigur Malina?

Ich habe lange gerätselt, wer Malina ist. Erst war ich überzeugt, dass er der Mitbewohner der Ich-Figur ist. Im Laufe der Geschichte bekam ich ein immer stärkeres Gefühl, dass die beiden eine Art Ehepaar sein könnten. Und am Ende war ich überzeugt, dass Malina so etwas wie ihr »Alter Ego« ist. Dass die Ich-Erzählerin diese Gespräche nur in Gedanken führt und Malina gar nicht wirklich existiert.

Das, was mich am Anfang genervt hat – nämlich, dass Malina so eine kryptische Figur ist, und ich einfach nicht dahinterkomme, wer er wirklich ist – hat mich im Laufe des Roman immer stärker fasziniert und schlussendlich den großen Reiz der Geschichte für mich ausgemacht.

Braucht es ein »Alter Ego« zur Selbsterkenntnis?

Ich glaube, dass jeder versucht, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Wie es aber enden kann, wenn eine Persönlichkeit stark gespalten ist und das Alter Ego zunehmend in Widerspruch zum Ich gerät, haben wir ja im Roman erfahren …

Wie siehst Du das zweite Kapitel »Der dritte Mann«?

Dieses Kapitel offenbart den wahren Ursprung der Probleme der Ich-Figur. Es beinhaltet viele düstere Andeutungen und hat mir ein paar Tränen in die Augen getrieben. Nach dem Kapitel »Glücklich mit Ivan« war ich wirklich überrascht von diesem großen Bruch.

Welche Bedeutung kommt der Vaterfigur in diesem Kapitel zu?

Man wird mit schrecklichen, die Ich-Erzählerin plagenden Traumszenen konfrontiert, in denen die Vaterfigur eine große Rolle einnimmt.

Es entsteht der Eindruck, dass die Ich-Figur alte, ungelöste Probleme mit sich herumträgt und der Vater ihre Persönlichkeit stark geprägt hat. Ihre Vergangenheit scheint maßgeblich für ihre jetzigen Gefühle verantwortlich zu sein – auch für die ungesunde Beziehung mit Ivan.

Wie siehst Du die Kommunikation, das Telefon ist dabei ja zentral, zwischen der Ich-Erzählerin und Ivan?

Die Telefongespräche zwischen den beiden finde ich irrsinnig gut von Bachmann zu Papier gebracht. Sie gehören aus meiner Sicht zu den besten Passagen im Roman. Die Dialoge haben keine richtigen Satzanfänge oder -enden, basieren allzu oft auf Missverständnissen und meistens reden die Ich-Figur und Ivan aneinander vorbei. Die Kommunikation der beiden spiegelt ihre Beziehung wieder.

Telefonierst Du gerne?

Ja, sehr gerne (lacht).

Die Menschen in meinem Umfeld würden sagen, viel und lang (lacht).

Aber so kann ich mit meiner Familie und lieben Menschen in Kontakt bleiben, die ich selten sehen kann, da sie in Tirol leben. Manchmal ergeben sich auch Gespräche wie in Malina, in denen man aneinander vorbeiredet und keine Satzenden findet (seufzt).

Wie siehst Du die Entwicklung der Ich-Erzählerin zum Ende hin im dritten Kapitel des Romans?

Ab einem gewissen Punkt im Roman scheint das Ende der Ich-Person unausweichlich. Trotzdem habe ich während des Lesens so gehofft, dass sie einen Weg hinaus aus ihrer Verzweiflung findet, dass ihr Schicksal doch noch eine wundersame, glückliche Wendung nimmt (zum Beispiel in dem Moment, als sie Ivan das letzte Mal trifft). Aber hätte Ingeborg Bachmann dem Roman ein Happy-End verpasst, würde er mich wohl kaum so nachhaltig aufwühlen und beschäftigen wie jetzt.

Wien ist der zentrale Romanschauplatz. Was bedeutet Dir Wien?

Ich liebe Wien – mit seinem berühmten Grant und Schmäh. Ich fühle mich hier super aufgehoben inmitten von lebensfrohen, kreativen Leuten und imposanten Gebäuden aus der Vergangenheit.

Dass mir Wien einmal so gut gefallen würde, dass ich nicht mehr von hier weg möchte, hätte ich anfangs nicht gedacht. Da war ich der Stadt gegenüber ein bisschen voreingenommen, muss ich zugeben (lacht).

Mir gefällt, dass hier in der Stadt ein gewisser Mut selbstverständlich ist, der am Land manchmal fehlt.

Woran liegt der Mut in der Stadt?

Man bekommt den Mut hier vorgelebt und mit der Zeit wächst man automatisch rein.

In Wien trifft man auf so viele unterschiedliche Menschen, Kulturen und Weltanschauungen und sieht unzählige Möglichkeiten wie man sein oder leben könnte. Da wird man einfach dazu inspiriert, mutig das zu verfolgen, was in einem selbst Leidenschaft entfacht.

Ein Dorf, in dem beinahe jeder jeden kennt, ist vielleicht nicht unbedingt der Ort, an dem man sich neu erfinden kann (lacht).

Wie war Dein Weg zum Schauspiel?

Als Kind dachte ich, dass man irgendwie verrückt sein muss, wenn man Schauspielerin werden will. Aber mit der Zeit hatte ich ein immer stärkeres Gefühl, dass ich verrückt bi… äh, dass ich genau das machen »muss« (lacht). Ich bewarb mich in Tirol an der Schauspielschule, wurde aufgenommen und war schnell total drinnen. Im dritten Semester habe ich nach Wien gewechselt und dort die Ausbildung abgeschlossen.

Mein Interesse fürs Theater an sich begann aber viel früher. Meine Mama ist ebenfalls eine große Theaterliebhaberin und hat mich schon als Kind zu Vorstellungen mitgenommen – so ist die Begeisterung auf mich übergesprudelt. In jungem Alter durfte ich bei Theaterprojekten mitwirken, die sie mit ihren Schülerinnen und Schülern auf die Beinen gestellt hat. Später spielte ich in einer Märchentheatergruppe und anschließend im örtlichen Theaterverein, in dem meine Mama Regie führte.

Ich mache auch weiterhin beruflich Grafik und Illustration, weil es mir ebenfalls Freude bereitet. Und dieses zweite Standbein ermöglicht mir eine gewisse Freiheit, besonders in der Pandemie.

Ich bin richtig froh, dass ich mich für eine professionelle Schauspielausbildung entschieden habe. Schauspielerin zu sein ist ein wunderschöner Beruf.

Was sind Deine derzeitigen Projekte, Projektausblicke?

Ich habe mehrere laufende Stücke am Pygmalion Theater in Wien, eines davon ist ein Solostück über die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Ich spiele es seit 2017. Super an der Inszenierung ist, dass ich sehr wenig Requisiten und kein aufwendiges Bühnenbild benötige und das Stück deshalb schnell »zusammenpacken« und an den unterschiedlichsten Orten spielen kann. Deshalb bin auch schon in einer Buchhandlung, einer Galerie und meiner Tiroler Heimat als Ulrike aufgetreten.

Gerne würde ich bald wieder ein Solostück machen, im Kontrast zum Meinhof-Stoff reizt mich etwas Lustiges!

Vor Kurzem »musste« ich mich für ein Casting in eine Schlammlacke werfen – aber daraus ist ein wirklich lustiges Video entstanden (lacht).

Im Roman ist die Ich-Erzählerin Schriftstellerin. Gibt es da auch ein Wiedererkennen im Beruf als Künstlerin?

Die großen Stimmungswechsel, die bei der Ich-Figur auftreten, je nachdem, ob sie die Ivan-Droge bekommen hat oder gerade auf »Entzug« ist, kann man auch im Schauspielberuf erleben. Oft sagt man, dass Schauspieler nur so gut wie ihre letzte Vorstellung sind. War der letzte Auftritt ein Erfolg, wandelt man wie auf Wolken durchs Leben, aber war die letzte Vorstellung schlecht besucht oder hat wenig Rückmeldung bekommen, ist man am Boden zerstört – ähnlich, wie wenn man ohne nächste Ivan-Dosis zurückbleibt (lacht). Dies lässt sich auch auf die Casting-Situation übertragen.

Welche Verbindung gibt es von Dir zum Wiener Café?

Bei meiner Übersiedlung nach Wien kannte ich nur eine einzige Person. Diese Schauspielerin hat mich in ein bekanntes Café geführt und von der Theaterszene und dem Leben in den Bezirken erzählt.

Ich habe sehr viele interessante, offene, aber auch skurrile Menschen in Wiener Cafés kennengelernt und manchmal hat sich auch ein kleines Projekt dadurch ergeben. Man trifft wirklich inspirierende Leute im Kaffeehaus. So wie jetzt (lacht).

Schreibst Du auch?

Schreiben ist eine tolle Tätigkeit. Eine Freundin von mir ist Schriftstellerin und veranstaltet immer wieder anregende Workshops, an denen ich gerne teilnehme. Ihre Übungen vermitteln wirklich Lust aufs Schreiben!

Ein strahlender Dezemberhimmel jetzt über Wien. Gibt es Lieblingsorte in der Stadt?

Ja, die Sonne kommt raus, das ist ein gutes Zeichen (lacht).

Ich habe eine Zeitlang in Döbling gewohnt, da war ich gerne in den schönen Weinbergen spazieren.

Den ersten Bezirk liebe ich besonders heiß. In meiner Anfangszeit in Wien bin ich in der Schauspielschule oft gefragt worden: »Was macht Du nachher, gehst mit auf a Glaserl?« Und meine Antwort war immer: »Gern, aber vorher muss ich noch durch den ›Ersten‹ spazieren, die besondere Atmosphäre aufsaugen« (lacht).

Derzeit wohne ich in der Josefstadt und finde es da total inspirierend.

Darf ich Dich abschließend zu einem Malina Akrostichon bitten?

Manchmal packt einen die

Angst, die

Langeweile oder der

Irrsinn – aber manchmal erlebt man auf dem

Nachhauseweg ein kleines

Abenteuer.

Lisa Kröll, Schauspielerin_Wien

Herzlichen Dank, liebe Lisa, für Deine Zeit in so inspirierendem Interview und wunderbarer szenischer Darstellung! Viel Freude und Erfolg für alle Theater-, Schauspielprojekte!

Vielen Dank für dieses prückelnde … äh prickelnde Projekt.

50 Jahre Malina _ Roman _ Ingeborg Bachmann _ im Gespräch und szenischem Fotoporträt:

Lisa Kröll, Schauspielerin_Wien

https://www.lisakroell.com/

Interview und alle Fotos_Walter Pobaschnig _Wien

Station bei Ingeborg Bachmann_Malina_Cafe Prückel_Wien.

Walter Pobaschnig  1_22

https://literaturoutdoors.com

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