Liebe Annerose, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Jetzt, nach anderthalb Jahren Corona, hat sich eigentlich kaum etwas verändert. Die ersten Wochen im Frühjahr 2020 mit Corona waren schon etwas beunruhigend, weil so wenig Fakten über das Virus bekannt waren, und auch Menschen in meiner Umgebung erkrankten und auch starben, leider. Das beschäftigt mich natürlich.
Da wir Autoren ja immer in aller Stille und allein wirken, ist der Tagesablauf überschaubar. Meine beste Schreibzeit ist am Morgen bis Mittag, gelegentlich auch bis in den späten Abend. Wenn Alltägliches dazwischen kommt, ändert sich der Rhythmus. Während der ersten Corona-Phase habe ich viel notiert, Filme gesehen und Musik gehört. Und es gab auch ein paar Veröffentlichungen in Anthologien.
Die schönste Entdeckung und Erfahrung dieser Zeit machte ich mit der russischen Sprache, die ich seit 2019 wieder intensiv lerne. Das hängt mit meinem nächsten Schreibprojekt zusammen. Was ich nie geglaubt hätte – heute lese ich russische Gedichte zum Beispiel von Lermontow, Jessenin, Zwetajewa, Tarkowski und anderen im Original und kann sehr gut mit den Übertragungen ins Deutsche vergleichen. Das Gehirn wird durchs Sprachenlernen aktiviert. Das ist großartig.
Durch Corona habe ich auch einen anderen Blick auf das Thema „Zeit“ bekommen, wenn es Zeit denn überhaupt gibt…? Die Erfahrung, wie die Natur uns reich beschenkt, wie die Stille eine besondere Harmonie vermittelt, wie man sich auf Wesentliches konzentrieren kann… Ich bin ein Mensch der Stille, das erlebe ich immer wieder. Sie ist notwendig, um Schreiben zu können.

Was ist jetzt für uns wichtig?
Die gesellschaftlichen Prozesse, Veränderungen und Einschnitte weltweit geschehen rasant. Was die Zukunft für Deutschland bringen wird? Als Schriftstellerin möchte ich auch in Zukunft wach bleiben, auch mit dem Blick zurück auf die eigene Vergangenheit. Ich bin ein positiv denkender Mensch, solidarisch, aber auch kritisch eingestellt, und denke, es gibt Hoffnung in der Welt. Es ist ja immer die Frage, ob man standhalten kann oder lieber flüchten will. Das Schreiben von Gedichten, das Lesen von Büchern, alles, was mit Kunst, Literatur und Musik zu tun, hilft dabei. Ich bin dankbar, dass ich diese, meine Arbeit, meine Berufung, ob Lyrik oder Prosa, ausüben kann, dass ich in Kontakt mit geschätzten Kollegen bin, dass ich wundervolle Bücher lesen kann. Überhaupt, jetzt im Alter spüre ich besonders, wie wichtig es ist, sich Welt intensiv aneignen zu können. Lesen und Schreiben lernen – das ist der Ursprung des Weges zu einem guten Leben, vielleicht. Und es gibt so viele Menschen auf der Welt, das klingt jetzt banal, die dieses Glück nicht erfahren können… Also: Wir sollten bei uns bleiben, aktiv und schöpferisch, das denke ich, ist das Wichtigste.

Was liest Du derzeit?
Mit dem Hinweis auf meine Beschäftigung mit der russischen Sprache, lese ich Bücher über ein schweres Thema: Stalinismus, Großer Terror, die Jahre 1937/1938 und später, Gulag… Die Literatur dazu ist vielfältig. Derzeit entdecke ich die im Geheimen verfassten Tagebuch-Notizen von Michail Prischwin. Als Ausgleich liegen der Roman „Unsichtbare Tinte“ von Patrick Modiano, der Band „Karst“ von Jan Röhnert und die neuen Gedichte von Lutz Seiler auf dem Schreibtisch.
Welches Zitat, Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Wenn wir uns heute, den heutigen Nöten und Forderungen gegenüber, einigermaßen menschlich und anständig halten, wird auch die Zukunft menschlich sein können.“
(Aus: Hermann Hesse, „Lektüre für Minuten. Gedanken aus seinen Büchern und Briefen“, Suhrkamp Verlag, 1985)

Vielen Dank für das Interview liebe Annerose, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Annerose Kirchner, Schriftstellerin
http://www.annerose-kirchner.de
Alle Fotos_privat
23.8.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.