
Foto: am Schiff, Ossiacher See_Kärnten
Liebe Hildegard, wie geht es Dir? Wie verbringst Du den Sommer?
Prima, danke. Es ist der dritte kreative Sommer am Stück. Vor ein paar Tagen ist mein zweiter Dokumentarfilm fertig geworden ist. Eine meiner Darstellerinnen, fast 103 Jahre alt, erzählte mir, dass sie Covid überlebt habe, weil sie im Bauch der Mutter die Spanische Grippe durchgestanden habe.

Was sind Deine derzeitigen literarischen Projektschwerpunkte?
Mit meinem Team (Lektor, Layouter und ich) arbeite ich an der Biografie von Alfonsina Storni (Link: https://www.editionmaulhelden.com/). Gerade eben sind die letzten zwei Bände der Werkausgabe, die ich übersetzt und auch gestaltet habe, erschienen. Seit Jahren bin ich mit ihr unterwegs, am Anfang stand mein Radiofeature aus dem Jahr 2010.


Die aus dem Tessin stammende Argentinierin ist eine Entdeckung, die ich jedem als Herz lege. Jetzt kann man sie auf Deutsch lesen und ihre eigene Stimme hören – nicht nur das weltberühmte Lied über ihren Freitod.
Gibt es ein Zitat von Alfonsina Storni, das Du uns in diesen Sommertagen mitgeben möchtest?
Ich schätze Porträtkunst, sei es in der Literatur, Malerei oder im Film. Deshalb möchte ich aus Gabriela Mistrals Porträt von Alfonsina Storni (1926) zitieren: «Storni erschafft das Fest ihrer Freundschaft ganz mit Intelligenz. Sie ist heiter, aber ohne diese Fröhlichkeit grellbunter Teppiche, die aufdringlichen Menschen eigen ist. Ihre Heiterkeit ist elegant und immer passend. Sie ist hellwach und achtet auf ihr Gegenüber, mit einer Geistesgegenwart und Intelligenz, die Zuneigung ausdrücken.»
Man hatte Mistral gesagt, die Storni sei hässlich, aber als sie dann zum ersten Mal wirklich vor ihr stand, war sie perplex, weil das Gegenteil der Fall war. Nach dem Besuch schrieb sie ein wunderbares Porträt. Es ist im Band CARDO nachzulesen.
https://www.editionmaulhelden.com/books-more/no-7-cardo#c244
Du warst langjährige Jurorin des Klagenfurter Bachmannpreises. Wann und wie kam es dazu, dass Du Jurorin des Bachmannpreises wurdest und wie lange warst Du in der Jury?
Das war im Dezember 2008. Ich lebte in den USA, war Professorin in Bloomington IN, und war nach Semesterende gerade wieder in Zürich gelandet. Als ich die Koffer abgestellt hatte, klingelte das Telefon. So erhielt ich die Einladung in die Jury. Schon bald kamen die ersten Bewerbungen per Post.

Foto: Elisabeth Keller, Yannic Han Biao Federer und Petra Gruber 3sat (von links)



Wie gestaltete sich der Kontakt mit den teilnehmenden Schriftsteller*innen? Gab es da Austausch?
Ja, und oft auch Auseinandersetzung mit dem Text, Arbeit am Layout, am Auftritt, Outfit und so weiter. Wenn möglich, gab es persönliche Treffen vor den TDDL, sonst auf Skype, was in der Prä-Covid und Prä-Zoom-Ära noch ungewöhnlich war, aber für mich als transatlantische Pendlerin natürlich unverzichtbar.


An welche besonderen Momente erinnerst Du Dich in den Bachmannpreisjahren? Was ist Deine schönste Erinnerung?
Die Bedeutung des Herrn Justiziars hat mich immer besonders fasziniert, schon vor Jahren als Fernsehzuschauerin. Er hatte damals immer etwas von einem Sonderbeauftragten in einem Hochamt. In meinen elf Jahren vor Ort hat sich der Abstimmungsmodus massiv verändert, der Justiziar überwachte das Ganze. In meinen ersten Jahren war man noch Anwältin derer, die man eingeladen hatte, bis zum bitteren oder süßen Ende. Später durfte, konnte, musste man das nicht mehr. Zum Schönen gehörten die Begegnungen und Wiedersehen vor dem ORF-Studio, die täglichen Eskapaden auf dem Rad oder am Sonntagnachmittag, wenn alles vorbei war, auf dem Motorboot der Seerettung. So viel PS hat keine Jurydiskussion. Das ist auch gut so. Über Bücher und die Menschen, die sie hervorbringen, darf nicht hinweggebrettert werden.

Ich erinnere mich, dass Du in Klagenfurt auch gerne mit dem Fahrrad zum See und der Stadt unterwegs warst. Was schätzt Du besonders an Klagenfurt?
Eben, genau das: Literaturszene aus dem deutschsprachigen Europa, Blogger, Verleger:innen, Autor:innen, Groupies, Literatouristen, Presse und andere Medien, alle an einem Fleck, auf einem Floß. Das ist einmalig. Unvergesslich sind auch die Empfänge im Garten von Loretto und der Wahnsinns-Eisladen.



Wie hast Du in den letzten beiden Jahren den digitalen Bachmannpreis miterlebt?
Ich war dabei und habe mir fast alle Lesungen und Diskussionen angeschaut und gestaunt, wie findig die Crews alle mit allen verkabelt hatten und dass es funktioniert hat. Vermisst habe ich das fantastische Kürbiskernöl-Eis. Souverän hat sich die neue Jury-Vorsitzende in ihrer Rolle bewegt. Was die Autor:innen betrifft: Die Texte von Julia Weber und Lukas Maisel hätten es verdient, ernst genommen zu werden.

In den nächsten Jahren kommt es zu den runden Gedenkjahren Ingeborg Bachmanns. Welche Bedeutung hat Ingeborg Bachmann für Dich? Welche Bezüge, Inspirationen gibt es für Dich von ihr?
»Ich muss jetzt. Im Goethe-Haus liest die Bachmann.« Das sagt Hannah Arendt, die Hauptfigur meines Romans Was wir scheinen, zu ihrem Mann, setzt sich ins Taxi und lernt mitten in Manhattan eine Dichterin kennen, mit der sie sehr viel mehr gemein hat, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Für mich ein fantastisches Feld der Inspiration, die in der Realität beider Frauen fußt.


Du lebst in Zürich und bist als Kulturunternehmerin aktiv. Ingeborg Bachmann lebte ja auch kurzzeitig dort. Hast Du Dir etwas einfallen lassen für ihr Gedächtnis in Zürich, in der Schweiz?
Literaturoutdoors, Deine Plattform, wäre auch ein Titel für das, was wir anbieten: thematische Stadttouren. Tatsächlich haben wir eine Zürichtour zu Ingeborg Bachmann entwickelt, unter dem Titel Max und Ingeborg, aber unser Publikumshit ist das Kriminelle Zürich. Vielleicht hat Ingeborg Bachmann einen Gastauftritt im Oktober, bei der Buchtaufe von Was wir scheinen im Dolder Grand. Heribert Prantls Leseempfehlung im SZ-Newsletter sagt auch etwas über diese Matinée: Die Banalität des Bösen und die Eier mit Speck. Dazu gibt es Champagner und Arendt-Überraschungen.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Gesundheit, viel Freude und Erfolg weiterhin! Schöne Sommertage!

Fotos_Hildegard E.Keller_Impressionen_Sommer und Jury_Bachmannpreis Klagenfurt, Impressionen Klagenfurt _ 1,2,11,13 Hildegard E.Keller; 3-10 Walter Pobaschnig
Fotografin des Porträts
Ayse Yavas
Infos zu Hildegard E. Keller:
„Was wir scheinen“ Hildegard E. Keller . Roman _ Neuerscheinung 2021

https://www.luebbe.de/eichborn/was-wir-scheinen-roman-hildegard-keller/id_8885976
Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Köln (Eichborn) 2021.
Werkausgabe von Alfonsina Storni

CHICAS. Kleines für die Frau. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Hildegard E. Keller. Mit Geleitwort von Georg Kohler. 264 Seiten. 29,80 CHF, 28,— € (D), 28,80 € (A) ISBN: 978-3-907248-03-4
CUCA. Geschichten. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Hildegard E. Keller. Mit Geleitwort von Elke Heidenreich. 264 Seiten. 29,80 CHF, 28,— € (D), 28,80 € (A) ISBN: 978-3-907248-04-1
CARDO. Interviews & Briefe. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Hildegard
E. Keller. Mit Geleitwort von Denise Tonella. 304 Seiten. 31,80 CHF, 29,— € (D), 29,80 € (A) ISBN: 978‐3‐907248‐07‐2.
CIMBELINA. Theaterstücke. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Hildegard E.
Keller. Mit Geleitwort von Daniele Finzi Pasca. 272 Seiten. 29,80 CHF, 28,— € (D), 28,80 € (A) ISBN: 978‐3‐907248‐08‐9.
http://www.editionmaulhelden.com
Filmproduktion_Hildegard Keller:
https://bloomlightproductions.ch/de/
Tätigkeit als Professorin
https://www.zurichstories.org/
Walter Pobaschnig _Wien 22.8.2021