Liebe Barbara, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Der Tag beginnt mit einem 3-teiligen Ritual, auf das ich in der 4. Frage nochmal zu sprechen komme, und Kaffee. Dann setze ich mich an den Schreibtisch und schreibe, was gerade ansteht oder mir einfällt. Kolumnen, Blog-Texte, ein Gedicht, ein Fragment, von dem ich noch nicht weiß, was daraus wird. Emails. Briefe. Und natürlich Tagebuch. Das ist wichtiger denn je. Ich will alles festhalten. Ich will alles verstehen. Und das geht am besten schreibend.
Spätestens am Nachmittag muss ich raus, laufen. Oder ich fahre Bus oder Bahn, zu Verabredungen oder an lang vermisste Orte oder zu ganz neuen. Dabei schreibe ich weiter oder lese ein Buch, die Zeitung, die Stadt. Oder ich unternehme etwas mit dem jüngeren Kind. Das große lebt schon ein sehr eigenes Leben. Am Abend lese ich oder treffe Menschen zum Essen oder auf ein (zwei, drei) Glas Wein. Oder ich habe Besuch.
Nicht wesentlich anders als früher also, seit die Kinder wieder in die Schule gehen. Sogar mein Klarinettenunterricht findet wieder statt. Aber: Die Tage sind weniger atemlos, alles, auch die kleinsten Handlungen, hat mehr Platz. Ich habe das Leben schon immer als sehr zerbrechlich wahrgenommen, aber jetzt ist das noch stärker. Deswegen möchte ich nichts davon verschwenden. Durch Stress, Überflüssiges, sinnloses Sichärgern.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Nähe. Wir sind keine Flugmangos, schrieb ich vor über einem Jahr in einer Kolumne. Dass ich erst 14 Monate später Überschriften wie „Umarmen in Pflegeheimen“ wieder erlaubt lesen würde, hätte ich damals nicht für möglich gehalten. Und 2019 nicht, dass Einanderanfassen jemals gesetzlich verboten und die Aufhebung des Verbots eine Zeitungsmeldung sein könnte. Dass ich das immer noch absurd finde, beruhigt mich. Dass ich von anderen ähnliches höre, zeigt mir: Die meisten von uns können ohne Nähe nicht leben. Vor allem nicht ohne körperliche, aber auch nicht ohne die in Gedanken, im Gespräch. Vielleicht bedingen sie einander.
Wo die Nähe beschädigt ist, brauchen wir behutsame Annäherung. Oder auch mal einen Schritt zurück, „Abstand“ in dem Sinne, wie wir ihn früher verstanden haben. Als produktive Distanz. Damit man den anderen besser begreift. In vielen Fällen: Damit man verzeihen kann. Es ist so viel kaputt gegangen. Alles wird nicht zu kitten sein. Aber vieles.
Wenn, und jetzt kommt das, was mich zur Zeit am meisten beschäftigt, wir auf unsere Sprache achten. Sie ist eines der größten Opfer dieser Zeit. Laut, vulgär, verletzend ist sie einerseits geworden, im öffentlichen Diskurs, aber auch in vielen Familien, Nachbarschaften, Freundschaften. Klinisch und kalt andererseits ist die „Sprache der Pandemie“, die tief in den Alltag eingesickert ist.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welch Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Siehe oben: Das Zarte, Vorsichtige, die Genauigkeit in der Sprache zu retten. Die Sinnlichkeit. Kunst kann Totes wiederbeleben, Stille hörbar machen und Lärm in Sprache verwandeln. Und – es mag sich dramatisch und zugleich wie eine Binse anhören, aber ich habe es so erlebt, weiß es auch von anderen und Wahrheiten kann man nicht oft genug wiederholen – sie kann Leben retten. Ohne das Lesen und Schreiben wäre ich an manchen Tagen verrückt geworden. Anderen hilft die Musik, die bildende Kunst.
Und: Die Schönheit und andere Formen der Überwältigung lehren Demut. Die sollte uns gerade jetzt nicht verloren gehen. Damit wir all das nicht vergessen, was wir 2020 in diesem sonderbaren Frühjahr, eingesehen haben.
Was liest Du derzeit?
„Ich bin Circe“ von Madeleine Miller (Deutsch von Frauke Brodd) und immer wieder in den „Betrachtungen“ von Zadie Smith (übersetzt von Tanja Handels), die in der feinen Edition Plus erschienen sind. Außerdem jeden Morgen ein Gedicht, weil ich mir, als ich vor einem knappen Jahr mein erstes Smartphone anschaffte, drei Regeln auferlegt habe: Bevor ich es in die Hand nehme nach dem Erwachen, sehe ich einem geliebten Menschen ins Gesicht, schaue einige Minuten in den Himmel und lese ein Gedicht.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt.“ Mein ewiger Begleiter aus dem „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil.
Vielen Dank für das Interview liebe Barbara, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Barbara Weitzel, Schriftstellerin
Foto_Orlando El Mondry
15.7.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.