„Das Lesen bringt uns zurück zu uns selbst“ Alida Bremer, Schriftstellerin _Münster/D 13.8.2021

Liebe Alida, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Aktuell bin ich auf einer Insel inmitten der kroatischen Adria. Es ist eine kleine Insel, auf der ich im Rahmen einer Sommerschule engagiert bin; mit Kolleginnen und Studierenden aus Österreich und Kroatien übersetze ich literarische Texte und diskutiere mit ihnen über Literatur; an den Abenden beobachten wir Sterne, sprechen über Nachhaltigkeit und über die Kenntnisse früherer Generationen, die auf solchen Inseln autark und ohne Hilfe von außen lebten, und die noch wussten, wie man Regenwasser sammelt und filtert, aus Olivenöl Licht gewinnt, wie man Gemüse und Wein anbaut, Ziegenkäse produziert, und wie man aufs Meer fährt, um Fische zu fangen. Die in Worte schwer zu fassende Schönheit der Natur, die Sonnenuntergänge, das türkisfarbene Meer, die Oleanderblüten und die harten Blätter der Olivenbäume, der Friedhof mit den geschmückten Steinplatten, die sich als ein Memento Mori um die kleine Kirche vor dem Fischerhafen reihen, all das gibt mir die Gewissheit, dass diese Insel ein Ort wäre, an den ich mich zurückziehen wollen würde, wenn demnächst die Welt untergeht. Natürlich sprechen wir bei unseren Spaziergängen auch darüber, wie so ein Weltuntergang zu verhindern wäre.

Wir halten uns streng an die epidemiologischen Vorgaben, da sie Bedingung für das Funktionieren unserer Sommerschule sind, und auch wenn all unsere Begegnungen im Offenen stattfinden, lassen wir uns alle zwei Tage testen. Wir sind dankbar, dass wir hier sein können. Eines unserer Themen ist der Segen unserer behüteten europäischen Existenzen. Auch wenn unsere Biografien nicht immer einfache Lebenswege beschreiben, auch wenn es unter uns ehemalige bosnische Kriegsflüchtlinge gibt, die sehr wohl wissen, was Leiden und die Entbehrung bedeuten, sind wir uns dessen bewusst, dass wir im privilegierten Teil der Welt leben und dass diese epidemiologischen Maßnahmen definitiv nicht der Rede wert sind. Wir befolgen sie ohne zu diskutieren; viel mehr Sorgen machen uns die Nachrichten über die Brände in Griechenland und in der Türkei oder die unvernünftige Sehnsucht vieler Zeitgenossen, auf komplexe Fragen einfache Antworten zu bekommen.

Alida Bremer, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Sich zu fragen, ob wir eine weitere Tasche Made in China und ein T-Shirt Made in Bangladesch besitzen müssen. Versuchen wir damit unseren Stellenwert in der Gesellschaft zu erhöhen und unseren Wunsch nach Freiheit durch das Image einer coolen Person zu befriedigen? Muss man Tomaten aus Spanien und Nüsse aus der Türkei nach Norwegen transportieren? Müssen wir zu jeder Zeit alles im Supermarkt kaufen können, worauf wir gerade Lust haben und was in unseren Internet-Gourmet-Blogs gepriesen wird, ungeachtet der lokalen klimatischen Bedingungen? Müssen wir zweimal im Jahr in Urlaub fahren, mit Billigfliegern in Länder reisen, von denen wir kaum etwas mitbekommen?

Die alten Leute auf unserer Insel erinnern sich an die Zeiten ohne Touristen – es ging auch. Gegessen wurde, was die Insel und das Meer hergaben, und man überlebte trotz der Tatsache, dass nicht fünfzig Joghurtsorten zur Verfügung standen, ob vegan oder nicht. Übrigens ist auch heute noch die Auswahl in dem winzigen Inselladen sehr begrenzt.

Entschleunigung und Bescheidenheit.

Reisen, aber mit Respekt vor den Anderen, und nicht allzu oft, am besten mit dem Zug. Nicht nach schnellem Vergnügen im Ausland suchen, sondern richtig reisen, in der Fremde nicht nach schnellem Spaß verlangen, sondern ins Gespräch kommen.

Die Sprachen der Anderen lernen. Bücher lesen. Nicht über Dinge in den social media diskutieren, von denen man ausschließlich in den social media gehört hat. Nicht glauben, dass man informiert ist, weil man etwas gegoogelt hat.

Wieder Respekt vor dem Wissen empfinden. Endlich begreifen, dass ein Arzt sechs Jahre studieren muss, nur um die Grundausbildung für seinen Beruf zu absolvieren. Bücher aus der Geschichte der Medizin lesen. Ich hätte da einen Tipp: „Die Heilung der Welt. Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840-1914“ von Ronald D. Gerste. Romane lesen. Auch da hätte ich einen medizinischen Tipp: „Nemesis“ von Philip Roth. Begreifen, dass man für das Lernen und für das Lesen Zeit braucht. Und dass nicht billige Kleider, sondern Zeit den wahren Luxus darstellt. Häufig vergeht unsere Lebenszeit in hartem Arbeiten, damit wir das Geld verdienen, mit dem wir Dinge kaufen, die wir gar nicht brauchen.

Literarische Sommerschule _ Premuda_Kroatiien

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Es ist eindeutig, dass die Digitale Revolution uns alle überrollt und maßlos überfordert hat – ob als Individuen oder als Gesellschaften. Die Folgen sind immer noch nicht abschätzbar, aber die Diskussionen im Netz, die zu allen Themen, zuletzt vor allem zum Corona-Virus, entflammen, zeigen uns, dass unsere einzelnen intellektuellen Kapazitäten der technologischen Entwicklung, wie wir sie im Bereich der Computer und des Internets erleben, nicht gewachsen sind.

Der Literatur kommt dabei m. E. eine entscheidende Rolle zu. Dafür gibt es mehrere Gründe: Das Lesen bremst unser Hetzen durch den Alltag und durch das Internet, es beruhigt unseren Puls und schärft unsere Wahrnehmung, es bringt uns zurück zu uns selbst, es ermöglicht uns Kontakt mit unserer inneren Welt. Die Literatur gibt uns Zweifel zurück, sie lehrt uns, komplexe Zusammenhänge zu akzeptieren und geduldig bis zur letzten Seite auf die Lösung eines Rätsels zu warten.

Mit der Literatur reisen wir mühelos nach Grönland oder nach Afrika. Die Schriftsteller bringen Landschaften und Sitten, Nöte und Sorgen, Liebesbeziehungen und Todesfälle, Verbrechen und Heldentaten aus fernen Gegenden in unsere Bibliotheken. Nur aus der Literatur, und nicht mit einer Reisegruppe eines billigen Pauschalreisenanbieters oder in einer Facebook-Debatte, werden wir nachempfinden können, dass ein Ehebruch auf Mallorca genauso schmerzhaft ist wie in Österreich und dass eine glückliche Familie in Russland glücklich ist auf ähnliche Art wie in Indien. Wir lernen zu verstehen, dass die Menschen weltweit in ihren Grundbedürfnissen ziemlich ähnlich sind.

Die Literatur ist der einzige Diskurs, in dem Ambivalenzen von entscheidendem Vorteil sind. Nur in der Literatur können Protagonisten mit all ihren widersprüchlichen Eigenschaften aus dem binären schwarz-weißen Muster der digitalen Welt ausbrechen.

Was liest Du derzeit?

Orient-Expreß von Graham Greene.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Stets halte Ithaka im Sinn.

Dort anzukommen ist dir vorbestimmt.

Jedoch beeile deine Reise nicht.

Besser ist, sie dauere viele Jahre;

und alt geworden lege auf der Insel an,

nun reich an dem, was du auf deiner Fahrt gewannst,

und ohne zu erwarten, dass Ithaka dir Reichtum gäbe.

Ithaka gab dir die schöne Reise.“

(Aus dem Gedicht „Ithaka“ von Konstantinos Kavafis, Brichst du auf gen Ithaka… – Sämtliche Gedichte, Griechisch Deutsch, erschienen im: Romiosini-Verlag, Köln 2009, in der Übertragung von Wolfgang Josing unter Mitarbeit von Doris Gundert und in der Bearbeitung von Alexios Mainas)

Alida Bremer, Schriftstellerin

Vielen Dank für das Interview liebe Alida, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Alida Bremer, Schriftstellerin

http://www.alida-bremer.de/

Fotos_privat

13.8.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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