Liebe Gundula, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Na ja, an dem hat sich im Grunde kaum etwas geändert, da ich ja auch zuvor schon zu Hause gewerkelt habe. Dem Kern meiner Arbeit kann ich glücklicherweise weiterhin nachgehen, also schreiben und übersetzen. Die Literatur ist die Immateriellste unter den Künsten, sie kommt mit Wenigstem aus. Im Extremfall könnte man sich sogar Papier und Computer wegdenken, ich würde aber den Bleistiftstaub und das Flackern der Buchstaben auf dem Bildschirm vermissen. Unterhalb der Woche stehe ich relativ früh am Morgen auf.
Der Vormittag ist die „ordentlichere“ Zeit, wo ich ein paar Stunden an Übersetzungsaufträgen aus dem Hebräischen arbeite, berufliche Kommunikationsdinge erledige etc. Um Mittag herum mache ich länger Pause, das sind die „nüchternsten“ Stunden des Tages. Aber ich freue mich dann jedes Mal riesig aufs Laufen im Stadtwald; in den Wald bin ich echt dauerverliebt. Ich muss mich überhaupt viel bewegen. Als zu Anfang von Corona eine komplette Ausgangssperre kommen sollte, hat mich das echt panisch gemacht. Ich schaue gerne dem Licht zu, wie es sich verändert und mich verändert, also meine Stimmungen und Empfänglichkeiten moduliert. Leider ist der deutsche Himmel oft monatelang so grau, als wäre man von oben zubetoniert. Und dazu dann „Lockdown light“. Meine Lieblingszeit ist sonst der Nachmittag und der Übergang in den Abend. In diesen Stunden bin ich in der inneren Verfassung, um an Gedichten zu arbeiten und mich von allem gefangen nehmen zu lassen, was dorthin führt.
Ich bin Tiefsee-Taucherin und Bühnen-Junkie in einer Person. Genügend Alleinsein ist mir notwendig, aber ebenso brauche ich den regelmäßigen Kontakt zum Publikum bei Lesungen und den Austausch mit meinen Kolleg*innen und Freunden in einer nicht nur literarisch pulsierenden Stadt wie Köln. Eine Stadt ist ja auch ein lebendiges Wesen und die meine fühle ich derzeit nicht mehr so recht. Auch Fahrradfahren macht nicht mehr denselben Spaß wie früher. Und natürlich fehlen mir die selbstverständlichen Israel-Aufenthalte. Das gibt es so ein richtiges schmerzhaftes Ziehen; Sehnsucht eben, nach der Sprache, bestimmten Atmosphären und guten Freunden. Doch trotz all dieser Einschränkungen habe ich schöne Projekte, dichterische wie übersetzerische, so dass ich die Zeit als erfüllt erlebe. Und obendrein wurde mir im April für mein Lyrikband-Projekt Hioba Hymore eines der beiden Dieter-Wellershoff-Stipendien des Literaturhaus Köln und der Stadt Köln zugesprochen. Für all das bin ich ungeheuer dankbar.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Einerseits weiterhin: das Akzeptieren dieser irgendwie auch skurrilen Situation, die die Welt derzeit im Griff hat, und der wir eben zum Teil machtlos ausgeliefert sind. Andererseits aber: Unbedingt in Bewegung bleiben und nicht in Lähmung verfallen; erfinderisch sein, wie man sich dennoch menschlich und künstlerisch begegnen und nahekommen kann. Wege jenseits des Bildschirms kultivieren. Also immer auch mal wieder weg von den unechten Blumen. Jetzt im Frühling und Sommer kann man sich endlich wieder in Parks oder auf Balkonen treffen.
Sich bewusst zu machen, wie viel immer noch da ist. Egal wie unterschiedlich unsere Lebenssituationen auch jeweils sein mögen, bin ich mir sicher, dass das bei jedem von uns, zumindest hier in der westlichen Welt, noch viel ist. Noch mehr lieben, was uns umgibt. Jeden Tag für unaufwändige Freuden sorgen und die so richtig genießen: die Tasse Kaffee als greifbare Auszeit, die gute Einfälle bringt; die Natur, die immer geöffnet ist. Und sich erlauben, Zukunftspläne zu schmieden und die nächsten Reisen zu planen. Es kommt wieder und wir werden es auf Händen tragen.
Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Es gibt eine gewisse positive Erfahrung des geteilten Leides sozusagen, weil diese Einschränkungen und Verluste eben uns alle, den ganzen Globus betreffen. Corona hat meiner Beobachtung nach auch bewirkt, dass man sich leichter öffnet, unterschiedliche Bedürfnisse und Sensibilitäten halten sich an der Oberfläche auf. Diese Solidarität, größere Bereitschaft des einander Zuhörens und Unterstützens sollten wir als humanes Potential nicht wieder verschwinden lassen.
Durch die Pandemie ist das Unverzichtbare, sind die wesentlichen Aufgaben der Kunst in aller Schärfe klar geworden, und die, denke ich, weisen den Weg in die Zukunft. Dass sie keine Begleiterscheinung unserer Gesellschaft ist, sondern uns mit der Essenz des Menschlichen versorgt. Literatur und Kunst sichern jene Freiräume, die es ermöglichen, auf die wohl intensivste Weise mit uns selbst und mit anderen in Berührung und Dialog zu sein. Und in meinen kühnsten Visionen ist es noch immer so, dass Kunst einen Krieg verhindert, ein Gedicht ein Menschenleben rettet. Kunst und Literatur sind immer auch ein Werkzeug des Widerspruchs und des Abweichens von dem, was andernorts gerade als das Wichtigste und Nützlichste erscheinen mag. Sie bringen das wesentliche Plus an Perspektiven. Mit Literatur demonstrieren wir vielleicht am deutlichsten, welche Art Mensch und Gesellschaft wir sein wollen und was es braucht, um daran arbeiten zu können.

Was liest Du derzeit?
Ach, viel zu vieles gleichzeitig und wild durcheinander, vieles bleibt dann oft lange angeknabbert liegen. Aber zielgerichtet sind es im Moment zwei Bücher: Schchol wekischalon (Breakdown and Bereavement) von Josef Chaim Brenner und Noa Noa von Paul Gauguin.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Weil ich ihre Interpunktion, besonders die Gedankenstriche, schon immer mochte, auch darum, klassicherweise, Verse von Emily Dickinson (aus dem Gedicht: „There’s a certain Slant of light“), an dieser Stelle unübersetzt:
„Heavenly Hurt, it gives us – / We can find no scar, / But internal difference – / Where the Meanings, are –“
Vielen Dank für das Interview liebe Gundula, viel Freude weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Gundula Schiffer, Dichterin-Übersetzerin
Foto_Porträt_Falko Alexander; Foto_Werkstatt/Gedicht_Gundula Schiffer.
6.5.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.