Liebe Theres, wie sieht jetzt dein Tagesablauf aus?
An meinem Tagesablauf hat sich während der Pandemie kaum etwas verändert. Derzeit, bei Morgendämmerung, so gegen fünf Uhr, weckt mich Malewitsch, eine meiner beiden Katzen, und verlangt nach draußen. Manchmal, wenn mich die friedliche Morgenstimmung mit ihrem unvergleichlichen Vogelkonzert gefangen nimmt, beginne auch ich meinen Tag zu dieser frühen Stunde. Meist aber lockt mich das Bett für die nächsten zwei Stunden in seine Wärme zurück. Danach fünf Kilometer auf dem Ergometer, Porridge mit Obst mit meinem Liebsten, checken der E-Mails, etc …

Durch die Symbiose von Wohnung und Atelier sind meine kreativen Arbeitsphasen flexibel in den Alltag eingebaut. Seit längerem beschäftige ich mich mit kinetischen Skulpturen, die auch mein Wohnatelier bevölkern. Sie lassen mich, wie Alexander Calder schon sagte, den Raum neu begreifen. Und Räume erlangen in Homeoffice Zeiten eine ganz besondere Bedeutung.
Was der Raum, die bewegte Skulptur mit uns macht, damit setze ich mich auseinander. Bei meiner letzten Ausstellung in Berlin, in der Galerie O&O, konnte ich einiges von den beiden Architekten Laurids und Manfred Ortner über “Raum“ erfahren. Diese Ausstellung fiel übrigens in den 1. Lockdown und mein dort gezeigter GURKENSCHWARM musste nach nur einer Woche eingesperrt und die Besucher ausgesperrt werden.

Das Phänomen des Schwarmes fasziniert mich schon länger. Die rasante Digitalisierung aller Lebensbereiche hat die Theorie der Schwarmintelligenz in den Fokus gerückt. Die Zusammenführung von riesigen Datenmengen, das Entstehen der sogenannte Supra-Intelligenz … und wie man weiß, ist das Ganze mehr als die Summe der Einzelteile. In jüngster Zeit richtet man oftmals einen gebannten Blick auf ganz spezielle Schwärme und Cluster.

Die neuen Lockerungen des Lockdowns lassen den GURKENSCHWARM wieder ausschwärmen. Den Sommer über wird er im Stift Millstatt zu sehen sein. „konZENTRATION_ Auftritt und Rückzug ”, so der Titel der von Tanja Prušnik kuratierten Gruppenausstellung, die am 28. Mai eröffnet wird. Eine Ausstellung mit aktuellem Bezug: „Was bedeutet eine Verschiebung in unserem doch so vorgegebenen und kalkulierten Leben für uns im Einzelnen, was in der unmittelbar umgebenden Gesellschaft und Region, was in einem erweiterten Umfeld?“
Schon beim ersten Lockdown ist mein Wunsch nach einem Stück Natur so heftig geworden, dass wir übersiedelt sind – in eine Wohnung mit Terrasse.Seitdem steht urban gardening ganz oben auf meinem Tagesplan.
Mit der Terrasse habe ich eine zweite Natur dazugewonnen. Da ich keinerlei Drang nach langen Spaziergängen verspüre, haben sich meine Bedürfnisse nach Natur und frischer Luft in das Gestalten eigener Welten verlagert. Einen Samen in die Erde legen, das Keimen und Heranwachsen beobachten. Dies alles zu fotografieren, zu dokumentieren – das schafft mir Freiraum im Kopf, gibt mir Ruhe und Kraft, lenkt meinen Blick auf größere Zusammenhänge, weit weg von der Panikmache rundum.

Ich hatte nicht immer das Privileg, eine eigene Terrasse mit Beeren, Kräutern und Gemüse bepflanzen zu können. Seinerzeit leistete mir dafür schon eine erweiterte Fensterbank gute Dienste. Friedensreich Hundertwasser, der in Wien das Fensterrecht erstritt, ist dafür zu danken: “Ein Bewohner muss das Recht haben, sich aus seinem Fenster zu lehnen und außen an der Außenwand alles umzugestalten, wie es ihm entspricht so weit sein Arm reicht, damit man von weitem, von der Straße sehen kann: dort wohnt ein Mensch.“
Mein starker Bezug zu Natur äußerte sich auch schon in früheren Kunstprojekten. Über viele Jahre hinweg unterhielt ich ein lebendiges Mooslabor in meinem Wohnatelier, aus dem mehrere Werkgruppen entstanden.
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Zu Beginn der Pandemie hatte die virale Bedrohung für mich noch kein wirkliches Gesicht. Doch als im Jänner dieses Jahres mein Vater an Covid-19 starb, drang die Angst vor der Krankheit, die Angst vor der Zukunft, die Angst vor dem Tod aus der Anonymität tief in mein Innerstes ein.
Mein Vater liebte und bewunderte die Natur, er hat mich SCHAUEN gelehrt – das Wahrnehmen der kleinen Dinge, den Blick für wunderliche und seltsame Details, die Achtsamkeit, die Freude am hier und jetzt … und das Teilen dieser Erfahrungen mit der Umwelt. Ich vermisse ihn sehr.
Ich wohne gegenüber dem Tiergarten Schönbrunn. Hin und wieder vernehme ich Geräusche, die nicht in die übliche Geräuschkulisse einer Stadt passen, wie das Brüllen eines Löwen, das Trompeten der Elefanten oder das Geheule der Schakale. Maria Lassnig, die 25 Jahre lang ihr Atelier über meiner Wohnung hatte, fühlte sich dadurch an die Wildnis erinnert. Doch für mich – in Zeiten der Pandemie – bekommen diese Rufe eine gänzlich andere Bedeutung: Eingesperrt sein … und dessen Folgen …
Ich beobachte an mir eine gewisse Sprachlosigkeit, die sich während der Lockdown Zeiten fast unmerklich eingeschlichen hat, eine verbale Verarmung. Mir gehen die Gespräche ab, meine Ateliereinladungen, die Teil meiner künstlerischen Arbeit waren. Mit dem LICHTSPEISEN Projekt zum Beispiel, das über mehrere Jahre ging, unternahm ich den Versuch, die bildenden Künste um neue Wahrnehmungen zu erweitern. Ich entwickelte transparente Speisen für meinen LEUCHTTISCH und übertrug die sinnlichen Erfahrungen beim Einverleiben dieser Speisen in Szenerien und Fotomontagen.

Wann wird ein so exzessiver Essgenuss in dieser Dichte wieder möglich sein?


Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Kunst zu?
Ich erlebe – speziell durch meinen Mann, einem Psychologen, dass der Aggressionspegel und die Gewaltbereitschaft der Menschen stark angestiegen sind. Und ich bin mir nicht sicher, wie schnell – und ob überhaupt – diese psychischen Instabilitäten der Menschen nach den bevorstehenden Lockerungen abnehmen werden.
“Kunst macht das Leben bunt“, lese ich auf ausgebleichten, verblassten Plakaten in Wien …
Ich sehe keinen wirklichen Aufbruch in neue Zeiten. Alle – von der Wirtschaft bis zur Kunst – stürzen sich in einen Nachholwettbewerb. Doch da ich mich grundsätzlich für einen sehr optimistischen Mensch halte, versuche ich durch meine Arbeiten, derzeit mit den biomorphen textilen Objekten – den poetischen, auf jeden Hauch reagierenden Skulpturen – zum Innehalten anzuregen und gegenzusteuern.


“ … aus Möglichkeiten Wirklichkeiten werden lassen“ Zitat frei nach Robert Musil
Was liest du derzeit?
Mit den Augen einer Tochter. Meine Erinnerung an Margaret Mead und Gregory Bateson – von Mary Catherine Bateson.
Wie erzog die Anthropologin Margaret Mead ihre Tochter. Ein Lehrbeispiel für Offenheit anderen Kulturen gegenüber. Ein Erkennen individueller und gesellschaftlicher Muster und dessen Entstehung.
Der Pilz am Ende der Welt – von Anna Lowenhaupt Tsing
Das erste neue Leben, das sich nach der nuklearen Katastrophe in Hiroshima wieder regte, war ein Pilz. Ein Matsutake …
Was wird sich wohl nach dieser Pandemie als erstes wieder regen? Was hat das kollektive Unbewusste in sich aufgenommen und wie werden sich dessen Auswirkungen manifestieren? Niemand kann es vorhersagen. Die Geschichtsschreibung wird im Nachhinein für alle Zufälligkeiten plausible Kausalitäten bilden. Wir alle benötigen ja für unser Tun Begründungen, die jedoch durch die wachsenden Komplexitäten immer schwieriger zu finden und zu formulieren sein werden.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest du uns mitgeben?
Schon 1984 schrieb Mary Catherine Bateson, die Tochter von Margaret Mead: „Es scheint nur wenige Menschen zu geben, die sich selbst als Lebewesen innerhalb eines einzigen, mit allem anderen verbundenen Ganzen wahrnehmen, dem gegenüber sie auch verantwortlich sind.“
Dass es immer mehr solche Menschen geben möge, das würde ich mir wünschen.

Vielen Dank für das Interview liebe Theres, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Theres Cassini, Künstlerin
Fotos_1-4, 6,7, 9, 10,11 Theres Cassini; 5,8 Martin Rauchenwald.
21.5.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.