Liebe Ruth, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Diese Frage beantworte ich gerne mit diesem kürzlich geschriebenen Gedicht:
Persönliche Tagesschau; Spätausgabe
1 x Traum aufgeschrieben
(er gewährte mir Einblick in das
Buch der Verletzten)
1 x Linsen gekocht
(zuvor Kaffee getrunken)
1 x Laufgitter skizziert
(nach Iris von Roten)
1 x im Zug gesessen
(die Augen geschlossen)
Danach Brot gekauft
Briefe eingeworfen
Ausstellung besucht
Nachgedacht, gedacht, ge
laufen, laut klickklack, leise
durch das Wäldchen der Dachs
hörte mich trotzdem ich beugte mich
zu seinem Eingang und bedachte den
Bärlauch mit meinem Lob, dass er
wieder wächst; wächst
danach diese Orange geschält
Stimmen gehört das Durcheinander
erzeugt Kopfschmerzen, es ist 23:59,
liege wach, suche nach einer Technik
im Raum die mich den materiellen
Räumen entbindet. Also Traum.
Also Exodus.
(1 Tag in meinem Leben
Corona 2021)

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Dass wir in eine Balance kommen. Als Weg zum Ziel. Das Ziel als Weg, ich weiß es nicht, aber das Ungleichgewicht – politisch und gesellschaftlich – ist derart groß geworden, dass es den Planeten gefühlt schier aus seiner Umlaufbahn spickt. Jedenfalls die Menschheit aus ihrem Menschsein. Das scheint mir eine Bedrohung, die auch auf die Natur übergreift. Natürlich kann die Natur ohne die Spezies „Mensch“ leben. Sie würde sich besser erholen als mit ihm. Aber welcher Reichtum würde verloren gehen. Daran glaube ich immer noch, dass das Experiment „Mensch“ in seiner Evolution etwas eigenartig Einzigartiges ist. Und: An das Ausbalancieren. Damit wir nicht vergessen, wie die Freiheit schmeckt.
Die Kunst hat dabei eine wichtige Aufgabe. Sie ist in sich bildend, ohne pädagogisch daherkommen zu müssen. Doch sie trägt eine Mitverantwortung, in welche Richtung wir uns als globale Gesellschaft entwickeln.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Grade finde ich es ganz schwierig einzuschätzen, welche Rolle die Kunst, die Literatur auch in Zukunft einnehmen wird. Es stellt sich sicher die Frage, ob die Menschen weiterhin genügend Geld zur Verfügung haben, sich Kunst zu leisten. Also von Seiten derjenigen, die Kunst kaufen möchten in Form von Veranstaltungen oder von denjenigen, die selber Kunst machen.
Die Kunst ist unser Triebmittel. Das schöpferische Tun ist auch in der Wissenschaft wichtig, wird wieder wichtiger werden, damit selbstvergessen sich neue Lösungsansätze finden lassen. Davon bin ich überzeugt. Das ist meine Hoffnung für die kommende Generation/ Generationen mit all den drängenden Fragen.

Was liest Du derzeit?
Dana Grigorcea, Romana Ganzoni, Dragica Rajcic, Martina Clavadetscher, Patricia Büttiker, Seraina Kobler, Ariela Sarbacher: alles Schweizer Autorinnen, die kürzlich oder brandneu ihr neues Werk herausgegeben haben. Daneben Sachbücher über Psychologie und welche über den Hahn. Da gärt ein neues Projekt (Kinderbuch) und ich muss noch mehr Bescheid wissen über das Sozialverhalten dieser Federvögel.
In der letzten Nacht habe ich den dritten Band, «Abhängigkeit», der Trilogie von Tove Ditlevsen gelesen. Ich konnte nicht mehr aufhören damit.
Und natürlich immer Gedichte. Da gab es im letzten Jahr geradezu eine Flut im deutschsprachigen Raum von ausgezeichneten Lyrikbänden. Ich habe selten so viele Bücher gekauft wie in den letzten Monaten.
Kommt dazu, dass ich eine grosse Bewunderin von Kate Tempest bin. Ihre Art, die Dinge beim Namen zu nennen, berühren mich direkt, ohne Umweg in mein Denken und Fühlen hinein. Dazu kommt ihr Sound, die musikalische Begleitung ihrer Band, die eine Mixtur erschafft, die auf mich wie eine Droge wirkt. Ich kann alles ringsum vergessen. Ganz nebenbei und praktisch: Die Bände im Suhrkamp Verlag sind zweisprachig erschienen: deutsch/englisch. Laut lesend im Original, kann ich mit dem anderen Auge auf die Übersetzung schielen. Und lerne englisch dabei.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Wer kennt Ko Un in unseren Breitengraden? Oder Rumi? Der erste schöpft aus dem buddhistischen Gedankengut und der zweite aus dem islamischen. Beiden ist eine Hingabe an das Kleinste eigen, das sich im Grössten (im Geliebten, im Unnennbaren) spiegelt. Da verliert der Name der religiösen Tradition seinen dogmatischen Machtanspruch. Das ist ein zentrales Anliegen in meinem Denken und Schreiben, denn nur so finden wir in ein Miteinander, Synonym „Solidarität“, das wir dringend benötigen; jede(r) mit ihrem Talent.
Und dann gibt es natürlich wiederum die Dichterinnen und Denkerinnen der heutigen Zeit. Sie begleiten und ermutigen mich täglich.
Zitat 1: „Mein Herz schlägt so stark, dass die Außenwelt wackelt.“ Maria Lassnig
Zitat 2: „Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht.“ Rosa Luxemburg
Zitat 3: „Worte nicht in giftige Buchstaben wickeln.“ Meret Oppenheim
Vielen Dank für das Interview liebe Ruth, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Ruth Loosli, Schriftstellerin
Foto_Vanessa Püntener
14.3.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
Wie schön, mal eine Schweizerin – und erst noch aus meiner Geburtststadt!
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Pingback: „Die Kunst ist unser Triebmittel“ Ruth Loosli, Schriftstellerin, Winterthur/CH 10.4.2021 – #KUNST