„…ob wir uns aus der Gemütlichkeit des Althergebrachten lösen können“ Safak Saricicek, Schriftsteller_Heidelberg 5.2.2021

Lieber Safak, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Relativ geregelt, lieber Walter. Ich stehe  früh auf, um einige Stunden als HiWi in der Bibliothek der Juristischen Fakultät zu arbeiten. Nach einem kleinen  Abstecher zwecks Mittagsessen  widme ich mich sodann dem Lernen. Oft gehe ich am Ende des Arbeits- und Studientags  eine halbe Stunde zu Fuß nach Hause, um nicht in der vollen Straßenbahn zu sein, um die  zauberhaften Heidelberger Viertel aufmerksamer wahrzunehmen  sowie  der Bewegung wegen.

Safak Saricicek, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Optimismus trotz allem, Geduld und Mitgefühl  mit uns selbst und für unsere Mitmenschen, Vertrauen in die Wissenschaft und das wir alternative Wege finden, mit Freunden und Familie  zu reden. Auch unser Glaube kann uns jetzt bestärken und beitragen zur Resilienz.

Konkret und pragmatisch würde ich sagen: Bewegung, Beschäftigung, unsere sozialen Kontakte sowie die Pflege des Geists (in der Gestalt von Kunst und Kultur).

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Die Digitalisierung beschleunigt sich gezwungenermaßen, Konzepte wie Home Office werden gezwungenermaßen weitestgehend verbreitet und darüber hinaus wird ein Umdenken forciert, was unsere Bedeutung im globalen Ökosystem, wie auch unsere Handlungen bezüglich anderer Lebewesen angeht. Wesentlich wird sein, ob wir als  Menschheit die Egozentrik und den Narzissmus im Kleinen überwinden werden können, was letztlich darüber entscheiden wird, ob wir den kollektiven Narzissmus werden überwinden können, namentlich den bis zum Rassismus führenden Nationalismus, den absoluten Anthropozentrismus, den raubbeuterischen Neoliberalismus und ob wir uns aus der Gemütlichkeit des Althergebrachten lösen können, dass der Mensch ein Wolf ist für den Menschen und vom zynischen Determinismus. Ich sehe vielmehr in der jetzigen pandemischen Krise, die nur eine von vielen zukünftigen sein wird, dass Menschen selbst in einer am Profit und Kapitalmaximierung orientierten Gesellschaft, zur Solidarität fähig sind und willens sich auch um die Schwachen zu kümmern, einfach gesagt: willens, menschlich zu handeln. Der Literatur und Kunst kommt, so denke ich, mitunter die Aufgabe zu dieses Menschsein und Menschlichsein höchstindividuell auszudrücken.

Was liest Du derzeit?

Zu viele Bücher parallel, was hier als Aufzählung ausufern würde. Ich habe, um einige spontan zu nennen, vor Kurzem die Vorrede zu Hegels Phänomenologie des Geistes abgeschlossen und lese darin weiter, lyrisch war ich beispielsweise in den Gefilden Jules Supervielles unterwegs oder zB mit Edip Cansever.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Guy Debord “Society of the Spectacle“

(…) The unreal unity proclaimed by the spectacle masks the class division underlying the real unity of the capitalist mode of production. What obliges the producers to participate in the construction of the world is also what excludes them from it. What brings people into relation with each other by liberating them from their local and national limitations is also what keeps them apart. What requires increased rationality is also what nourishes the irrationality of hierarchical exploitation and repression. What produces society’s abstract power also produces its concrete lack of freedom.

Vielen Dank für das Interview lieber Safak, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Safak Saricicek, Schriftsteller

Foto_privat

11.1.2021_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

2 Gedanken zu „„…ob wir uns aus der Gemütlichkeit des Althergebrachten lösen können“ Safak Saricicek, Schriftsteller_Heidelberg 5.2.2021

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