„Der Mangel an Visionen und Menschlichkeit – die Kauflaune bleibt das politische Maß aller Dinge“ Bettina Gärtner, Schriftstellerin_Wien 22.12.2020

Liebe Bettina, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Im Grunde wie immer: Ich setze mich morgens mit einem Viertelliter Espresso und der Hoffnung an den Schreibtisch, dass etwas weitergeht. Mit dem Unterschied, dass meist nicht allzu viel geht und das Verfolgen der Entwicklungen im Land und in der Welt seit Monaten viel zu viel Raum und Zeit einnimmt. Trotzdem stehe ich auch jetzt nach Möglichkeit erst wieder am frühen Nachmittag vom Schreibtisch auf, esse etwas und trinke den nächsten Espresso, um mich anschließend ans Private und Soziale, Administrative und Lebenstechnische zu machen – es ist ja immer etwas los oder zu klären, zu erledigen oder kaputt, im Moment zum Beispiel die Therme.

Bettina Gärtner, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich würde ‚durchhalten‘ oder ‚nicht verstummen‘ zu den kleinsten gemeinsamen Nennern zählen.

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Für so gut wie alle Schieflagen, Missstände und Katastrophen der Gegenwart scheinen mir Jahrhunderte kapitalistischer Gier und paternalistischer White Supremacy ursächlich zu sein. Das einzuräumen und in großem Stil umzudenken wäre politisch und gesellschaftlich wesentlich. ‚Weiter wie bisher‘ ist in kaum einem Lebensbereich mehr eine Option, beinahe alles, was sich längst hätte verbessern sollen, muss sich nun schleunigst ändern. Die C-Krise wirkt wie ein Brennglas, der Mangel an Visionen und Menschlichkeit tritt derzeit wieder besonders krass zutage: Die Kauflaune bleibt das politische Maß aller Dinge, außer ‚Konsum ankurbeln‘ ist wenig zu vernehmen, Shame on Europe! Dass auf den Stillstand ein wirklicher Aufbruch folgt, steht aber zu hoffen und wird sich nicht zuletzt in der Kunst zeigen. Was die Literatur betrifft, habe ich mir immer die Frage gestellt, inwieweit etwas heute in Angriff Genommenes am Ende noch zur Welt passt, jetzt beschäftigt mich vor allem, wie und was überhaupt noch geschrieben werden könnte und sollte. Furchtlosigkeit ist und bleibt entscheidend, denke ich, auf allen Kanälen.

Was liest Du derzeit?

Terézia Mora. Die Relektüre ihrer Frankfurter Poetikvorlesung ‚Nicht sterben‘ plus die Erstlektüre ihrer Salzburger Poetikvorlesung ‚Der geheime Text‘ haben mich endlich auch zu ihrem Erzählband ‚Die Liebe unter Aliens‘ und ihrem Debütroman ‚Alle Tage‘ geführt, ich lese beides abwechselnd. Danach kommen mit ‚Das Ungeheuer‘ und ‚Auf dem Seil‘ Teil zwei und drei ihrer Romantrilogie an die Reihe, den ersten Teil ‚Der einzige Mann auf dem Kontinent‘ habe ich vor Jahren schon gelesen.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Eine Meinung ist das Gegenteil von Literatur. Um zu schreiben, muss man sich dem Markt entziehen, den Schlagworten, den Formaten, der Verfügbarkeit, dem Funktionieren.“, zu der Erkenntnis kommt die Schriftstellerin Laura Freudenthaler in ihrem Essay ‚Schreiben. Bis wir verbrennen.‘ im Theatermagazin ‚Bühne‘ (Nr. 4/Dez. 2020).

Vielen Dank für das Interview liebe Bettina, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

Ich habe zu danken.

5 Fragen an KünstlerInnen:

Bettina Gärtner, Schriftstellerin

Bettina Gärtner – Autorin (xn--bettinagrtner-ifb.at)

Foto_privat.

22.12.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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