„Alles, was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verändert werden“ Christian Baron, Schriftsteller_Berlin_6.12.2020

Lieber Christian, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Wenn ich nicht ins Büro muss, was aktuell zum Glück meist der Fall ist, dann schalte ich mich morgens gegen zehn Uhr bei „Zoom“ noch im Schlafanzug in die Redaktionskonferenz der Wochenzeitung „der Freitag“, bei der ich in Teilzeit als Redakteur angestellt bin. Danach setze ich Kaffee auf, mache mich frisch für den Tag und gehe meinem Broterwerb nach, der meist darin besteht, die Texte anderer Autorinnen und Autoren zu redigieren. Wenn ich nicht für die Zeitung arbeiten muss, widme ich mich mit großer Leidenschaft meinem nächsten Buch, an dem ich gerade angefangen habe zu arbeiten. Nach Feierabend nutze ich die Phase der Kontaktverbote, der Reisebeschränkungen und des stillgelegten Kulturlebens zum Lesen. Außerdem wühle ich mich seit Monaten begeistert durch die Filmgeschichte. Das Western-Genre hat es mir besonders angetan, wie konnte ich nur so lange ohne John Ford und Sergio Leone leben? Meine beiden Katzen freuen sich übrigens auch, dass ich für sie jetzt noch mehr Zeit zum Spielen und Kuscheln hab.

Christian Baron, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Dass man diejenigen in seinem sozialen Umfeld besonders im Blick behält, die diese Krise nicht als Chance zur Entschleunigung nutzen können. Es macht einen Unterschied, ob man diese Zeit als Teil der Home-Office-Elite nutzt, um im Eigenheim in der grünen Vorstadt mit den Kindern und Enkeln im Garten zu spielen, oder ob man als alleinerziehende Mutter in Zwangskurzzeit in der engen Zweizimmerwohnung ohne Balkon verbringen muss. In vielen Haushalten ist das Konto leer, die Nerven sind überspannt, soziale Kontakte sind immer noch weitgehend untersagt – das ist eine toxische Mischung, die häusliche Gewalt begünstigt.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Mein Vertrauen in das bestehende Wirtschaftssystem ist sehr gering, weshalb ich von der Politik auch leider keine Verbesserung erwarte, was die Bekämpfung der Armut angeht. Die müsste aber dringend zur Priorität werden, das zeigt diese Pandemie sehr deutlich. Was die Rolle der Kunst angeht, hat sich aus meiner Sicht nichts wesentlich geändert. Nehmen wir nur mal mein Feld, die Literatur: Ich empfinde das Lesen von Büchern an sich schon als subversiven Akt. Diktatoren fürchten die Kunst seit jeher, darum verbieten sie ja so gern Filme, Bücher und Bilder. Wer Bücher liest, versetzt sich in andere hinein, lernt oder stärkt seine Fähigkeit zu Empathie und erkennt, dass jede Existenz veränderbar ist. Das gilt auch für das Politische: Alles, was von Menschen geschaffen wurde, kann von Menschen verändert werden. An dieses aufklärerische und gesellschaftsverändernde Potenzial der Kunst glaube ich, auch wenn diese Sichtweise in zynisch-abgeklärten Zeiten wie diesen oft als naiv abgetan wird.

Was liest Du derzeit?

Gerade lese ich mich durch das Gesamtwerk von Irmgard Keun, die dabei ist, zu einer meiner literarischen Hausgöttinen zu werden. Was für eine atemberaubende Autorin! In ihrer Sprache liegt so ein souveräner, böser Witz. Ihr Stil ist so unprätentiös und zugänglich, aber trotzdem ungemein poetisch. Die Hauptfiguren sind fast immer Frauen vom unteren Rand der Klassengesellschaft, die an den Grenzen des Kapitalismus und des Patriarchats verzweifeln, ohne einfach nur Opfer zu sein. Allein dieser herrliche Satz, den Doris sagt, die Protagonistin im Roman „Das kunstseidene Mädchen“ von 1932: „Man muss alle hassen, die einen entlassen können!“

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Wenn sie es schaffen, dass du dir die falschen Fragen stellst, brauchen sie sich keine Sorgen über die Antworten zu machen.“

Thomas Pynchon

Christian Baron, Schriftsteller

Vielen Dank für das Interview lieber Christian, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Christian Baron_Schriftsteller

Fotos_Hans Scherhaufer

29.11.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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