„Und dass man bei deutschsprachiger Literatur lachen muss, kommt leider sehr selten vor“ Clemens Schittko, Schriftsteller_Berlin 2.12.2020

Lieber Clemens, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Nicht viel anders als vor der Pandemie. Ich hatte das Glück, auch schon in den Monaten zuvor einigermaßen zurückgezogen leben zu können. Es ist ein wenig paradox: Obwohl ich als sogenannter Hartz-IV-Empfänger relativ arm bin, wird mir momentan dennoch der Luxus zugestanden, möglichst wenig Menschen persönlich begegnen zu müssen. Ich gehe für meine Mutter (Risikogruppe) und mich einkaufen, treffe draußen gelegentlich einen Freund oder eine Freundin, suche ab und zu eine Arztpraxis auf (nicht wegen Corona) – das war es jedoch schon! Ach ja … Hin und wieder gehe ich jetzt nachts spazieren. Ich mag die menschenleeren Straßen in meinem Kiez. Vor der Pandemie war Berlin-Friedrichshain das reinste Vergnügungs- bzw. Party-Viertel. Das ist nun ein Stück weit vorbei. Und ich mag es – auch wenn es mir leidtut für die Gastronomie hier. Die Ruhe hat fast etwas von einem Generalstreik. Aber es ist natürlich kein Generalstreik. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass genau die Branchen (Kultur, Gastronomie etc.) in den Lockdown geschickt wurden, die sich gewerkschaftlich am wenigsten wehren können. Es hat alles mehr mit politischen als mit medizinischen Entscheidungen zu tun, denke ich. Aber ich bin weder ein Politiker noch ein Mediziner.

Clemens Schittko, Schriftsteller

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich weiß nicht, was jetzt FÜR UNS ALLE besonders wichtig ist. Ich kann eigentlich nur FÜR MICH sprechen. Es gilt, abzuwarten und durchzuhalten. Doch selbst wenn es Mitte nächsten Jahres für alle einen Impfstoff geben sollte, befürchte ich, dass wir wohl dauerhaft mit dem Virus leben müssen, so wie wir es gelernt haben, mit der Grippe zu leben. Ich denke, dass das möglich ist, zumal in einem so reichen Land wie Deutschland. Man gewöhnt sich auch an so vieles. Und die wirklichen Katastrophen dürften uns noch bevorstehen. Wie den Klimawandel stoppen? Oder auch das Artensterben? Dafür müsste man vermutlich den Kapitalismus überwinden. Manchmal denke ich, die Pandemie wird benutzt, um vom Kapitalismus abzulenken und davon, dass die Kluft zwischen Arm und Reich weiter wächst. Denn die letzten Krisen haben doch gezeigt, dass die Reichen reicher geworden sind und die Armen ärmer.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Ich denke, es wird keinen Aufbruch oder Neubeginn geben. Man will im Grunde zurück zu einem Zustand vor der Pandemie. Deshalb wird jetzt sehr viel Geld ins System „gepumpt“, um die alten Strukturen zu erhalten. Es war aber gerade der Zustand vor der Pandemie, der in die Pandemie geführt hat. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass wir in wenigen Jahren neue Pandemien erleben werden. Und was die Literatur bzw. die Kunst an sich betrifft: Ich hoffe, dass ihr überhaupt keine Rolle zukommt. Denn immer dort, wo Kunst eine wichtige Rolle zukam und -kommt, in Diktaturen zum Beispiel, gibt es Zensur und werden die Künstler*innen verfolgt. So gesehen wäre es das beste, die Kunst könnte sich allen Erwartungen und Zuschreibungen entziehen. Kunst kann umso mehr sagen, je weniger sich für sie interessieren.

Was liest Du derzeit?

Momentan recht wenig an „klassischer“ Literatur. Stattdessen surfe ich derzeit viel im Internet herum auf der Suche nach neuem Material für kommende Gedichte.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Vor ein paar Tagen ist die 8. Ausgabe der Literaturzeitschrift „Maulhure“ erschienen. Darin befindet sich in einem Text des kürzlich verstorbenen Autors Jürgen Ploog folgender Satz: „Wenn die Geranien auf dem Fensterbrett zum Thema eines Gedichts werden, ist es Zeit, die Koffer zu packen.“ Das hat mir irgendwie gefallen, sodass ich lachen musste. Und dass man bei deutschsprachiger Literatur lachen muss, kommt leider sehr selten vor.

Clemens Schittko, Schriftsteller

Vielen Dank für das Interview lieber Clemens, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Clemens Schittko_Schriftsteller

Alle Fotos_privat.

17.11.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

2 Gedanken zu „„Und dass man bei deutschsprachiger Literatur lachen muss, kommt leider sehr selten vor“ Clemens Schittko, Schriftsteller_Berlin 2.12.2020

  1. Pingback: Clemens Schittko: Auslagerung der Mitte

  2. Pingback: Clemens Schittko: Manifest der Nachhut

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s