„Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahrnehmungen und Welt-Verbindungen“ Karin Ivancsics, Schriftstellerin_Wien 29.11.2020

Liebe Karin, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich bin erst Anfang November von meinem Sommerdomizil im Burgenland in die Wiener Wohnung übersiedelt, und dann gleich zweiter Lockdown und dann gleich Terroranschlag am Abend nach der In memoriam-Veranstaltung im Literaturhaus, das war heftig. Es ist eine ziemliche Umstellung, weil ich nun nicht einfach die Türe aufmachen und in den Garten gehen kann.

Der erste Lockdown passierte ja, nachdem ich am Freitag, den 13. 3. von einer Reise aus Sansibar zurück kam – nach zwei Wochen zog ich aufs Land und blieb dort, mit ein paar Abstechern in die Stadt. Ich empfand es als großes Privileg und lernte die Natur dadurch noch mehr zu schätzen als ich es eh schon tue: Sie heilt und gibt Kraft. Es war ein arbeitsamer und herausfordernder Sommer und Herbst, vor allem in organisatorischer Hinsicht (ich arbeite auch als Kuratorin/Programmgestalterin). Phasenweise hatte und habe ich natürlich Zeit für Notizen, Projektentwicklung, Weiterarbeiten an meinem Sansibar-Buch und dem Schreiben neuer Texte.

Einen geregelten Tagesablauf habe ich nicht, er ergibt sich aus dem, was anfällt; Mail-Beantworten und Bürokram, „das Lästige“ erledige ich gerne am Vormittag. Zurzeit bin ich mit der Überarbeitung der „Aufzeichnungen einer Blumendiebin“ beschäftigt, sie sollen im Frühjahr bei KLEVER neu aufgelegt werden, worüber ich mich sehr freue. Zusätzlich schreibe ich an einem Textbeitrag anlässlich 100 Jahre Burgenland.

Karin Ivancsics, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Weiterhin Masken verwenden und Hände waschen. Zuhause bleiben.

Und: Geduld und Zuversicht. Alles endet, auch diese Pandemie. Als ich im März in den Lockdown hineinplatzte, platzte mir auch teilweise der Kragen ob der Wehleidigkeit und der Ansprüche meiner europäischen Mitmenschen! Ich kam aus einem afrikanischen Land, in dem der Durchschnittsverdienst 250 € beträgt: jährlich!, und musste mitansehen, wie die Leute hier schier ausrasteten, Klopapier horteten usw. Ich verstehe, dass es vielen reicht und dass wir alle müde sind und erschöpft von den Corona-Maßnahmen – und dennoch: wir haben es vergleichsweise gut getroffen in diesem reichen Land. Wir sind durch die Gnade der Geburt seit vielen Jahrzehnten von realen, uns unmittelbar betreffenden, wirklich schlimmen und todbringenden Kriegen verschont geblieben – ein wenig Demut und sich Zurücknehmen wäre angebracht, das fällt in einer von Individualisten geprägten Gesellschaft anscheinend schwer.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Ich bin nicht sicher, ob es einen Neubeginn geben bzw. wie sich dieser gestalten wird. Anfangs stimmte ich in den Hoffnungskanon ein: Vielleicht zeigten sich die Menschen tatsächlich einsichtig und würden erkennen, dass die sozialen Verzichte, die sie – auf ungewisse Zeit – zu leisten genötigt waren, weniger schlimm waren als befürchtet und dass sie Kosmetik- und Friseurbesuche, tägliches Essengehen in Restaurants oder Shopping als Freizeitbeschäftigung beiseite lassen konnten ohne zu verzweifeln, vielleicht würden sie dieses Virus als Folge unseres unverantwortlichen Konsumverhaltens und der Zerstörung der Natur begreifen? Aber denkste, diese Illusion habe ich mittlerweile als solche entlarvt  – kaum waren zwischenzeitlich die Möglichkeiten da, Geld für Klamotten rauszuschmeißen, in Flugzeuge zu steigen und den AI-Urlaub anzutreten etc., hat das Gros der Mitbürger*innen diese wieder genutzt – ich weiß wovon ich spreche: in der Nähe meines burgenländischen Zweitwohnsitzes befindet sich das Outlet-Center!

Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahrnehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es oftmals gerade der Bruch mit dem Gewohnten, der unseren Zukunftssinn und unsere Kreativität wieder freisetzt, die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch und vor allem zum Besseren. Man sollte diesem Bruch mit der Routine, dem wir uns derzeit alle nicht entziehen können – mehr Chancen geben, ihn willkommen heißen und schauen, was passiert: das unter anderem tut die Kunst und die Literatur.

Was liest Du derzeit?

Nachdem ich im Sommer vor allem Fahnen von Neuerscheinungen als Vorbereitung auf die Literaturtage im Weinwerk gelesen habe, genieße ich es, in die großartigen fertigen Bücher nochmals hinein zu blättern. Andererseits darf ich mich nun auch gänzlich „zweckfrei“ spannender Literatur hingeben, was für ein Luxus! Zurzeit lese ich zwei Bücher parallel, die mir Ilija Trojanow geschenkt hat: „Töchter Afrikas“ ist ein Sammelband schwarzer Autorinnen, die er Mitte der 1990er-Jahren in seinem Marino Verlag veröffentlichte ,wir kommen viel zu selten mit dieser Literatur in Kontakt – „Eine Weltliteratur ohne afrikanische Literatur ist wie ein Orchester, dem einige Instrumente fehlen“, so Doris Lessing. Das zweite ist die ungekürzte Neufassung von Gandhis Autobiografie „Mein Leben“ (C. H. Beck), mit einem wunderbaren Nachwort von Trojanow ergänzt, in dem er über die Widersprüchlichkeit der Person Ghandi und Paradoxien als Instrumente der Erkenntnis und Entwicklung schreibt.

Lesen ist das Betreten fremder Welten; für mich als passionierte Reisende finden Reisen zurzeit im Kopf statt.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ich habe zwei:

Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann. – Leo Tolstoi

Und:

Mit jedem Verlust habe ich auch etwas gewonnen. – Ishraga Mustafa Hamid, die ich bei den Literaturtagen im Weinwerk kennenlernen durfte; gebürtige Sudanesin und seit 27 Jahren eine „Schwarze Wienerin“, wie sie sich gerne selbst bezeichnet.

Vielen Dank für das Interview liebe Karin, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an KünstlerInnen:

Karin Ivancsics, Schriftstellerin

http://www.karinivancsics.at/karinivancsics/Willkommen.html

Foto_Alain Barbaro

10.11.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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