Liebe Kirstin, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Für Autorinnen, die wie ich in ihren Nebenberufen nicht fest angestellt sind, läuft der Tag in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen gar nicht so anders ab als sonst. Ich bin jeden Tag froh, wenn ich schreiben kann. Und ich bin derzeit jeden Tag froh, dass mein Talent nicht in darstellenden Künsten liegt. Beim Schreiben ist man notwendigerweise alleine und kann niemanden anstecken – außer mit Worten, Bildern und Geschichten, Gedanken und Ideen. Auch meinen körperlichen Ausgleich zur Schreibtischtäterei, Yoga, kann ich zu Hause problemlos ausüben. Aber ich leide darunter, Yoga zum ersten Mal seit 25 Jahren nicht unterrichten zu dürfen – oder nur online. Dieser direkte Austausch mit Menschen gehört für mich zum seelischen Gleichgewicht, denn beim Schreiben, sei das jetzt literarisch oder journalistisch, hat man oft das Gefühl, in eine Black Box zu rufen. Es kommt kein Feedback zurück. Das ist beim Yogaunterrichten anders.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Für Menschen, die wie ich in freien Zeiten aufgewachsen sind, ist es schwer, von außen reglementiert zu werden. Die Parole unserer Kindheit lautete: Sei du selbst! Dass man unabhängig von den anderen ist – im positiven wie im negativen Sinn –, war aber schon immer eine Illusion. Es kann hilfreich sein, einzusehen, dass der Einzelne relativ machtlos ist. Und nicht gegen Windmühlen zu kämpfen. Aber es ist genauso wichtig, wachsam zu bleiben und nicht alles hinzunehmen, was man für ungerecht, kontraproduktiv oder schlicht gefährlich hält. Gefährlich wird es für mich, wenn man keine Argumente mehr austauschen kann, wenn das Gespräch schon am Beginn durch gegenseitige Verurteilungen und Argumente „ad hominem“ abgewürgt wird. Wenn es nur noch darum geht, wer Recht hat und der bessere Mensch ist. Das ist derzeit allzu oft der Fall.
Da ich über Opfer gearbeitet habe („Wie können wir über Opfer reden?“, Passagen 2018), bin ich besonders sensibilisiert für Sündenbockprozesse. Wenn man plötzlich meint, dass Jugendliche, die feiern, die Hauptschuldigen am Anstieg der Infektionen sind, der schon seit Monaten für den Beginn der kalten Jahreszeit prognostiziert wurde. Oder Menschen, die ihre Maske nicht tragen. Wenn man meint, dass man ohne das Fehlverhalten dieser „Schuldigen“ alles im Griff gehabt hätte.
Wir haben uns eine unmögliche Aufgabe gestellt: Ein Virus zu kontrollieren. Den Tod zu kontrollieren. Das Leben zu kontrollieren. Wenn Gesellschaften etwas zu sehr kontrollieren wollen, was man nicht kontrollieren kann, artet es am Schluss unweigerlich in Sündenbockprozesse aus. Denn irgendjemand muss ja schuld daran gewesen sein, dass es nicht geklappt hat … Damit will ich nichts gegen konkrete Maßnahmen sagen. Auch ich trage meine Maske, halte Abstand und verstoße nicht gegen die sich immer schneller ändernden Bestimmungen.
Es geht darum, darauf zu achten, durch Maßnahmen nicht mehr Schaden anzurichten als zu verhindern, darauf zu achten, dass niemand stellvertretend geopfert wird, und anzuerkennen, dass es möglich ist, sich geirrt zu haben – denn auch Kollektive können irren, wie die Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts eindrücklich vor Augen geführt haben.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich glaube nicht, dass wir vor einem Aufbruch stehen, denn der Mensch hat sich durch wie auch immer geartet Krisen noch nie geändert, geschweige denn „gebessert“. Das Management der Pandemie produziert Gewinner und Verlierer, das öffnet für die Zukunft Neid und Missgunst Tür und Tor. Manche Branchen stehen vor dem Ruin, wie die Gastwirte, Fitness- und Yogastudios etc., während andere keinen Solidarbeitrag zahlen, wie Beamte oder jene, von Mieten leben. Welche Parteien werden die tatsächlichen oder gefühlten Verlierer wählen? Das macht mir Sorgen. Ich denke aber auch an die Jugend, die Schülerinnen und Schüler, die derzeit keine Unterstützung von zu Hause haben, sowie diejenigen, die gerade mit der Schule fertig sind und im Regen stehen gelassen werden von der Gesellschaft, aber in Zukunft unsere Schulden abbezahlen sollen. Auch sie gehören zu den Verlierern der Krise …
Unsere Hauptaufgabe wird sein, den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu verlieren. Eine Diskussionskultur zurückzugewinnen, in der jeder die Argumente des anderen anhört und man dann versucht, das Überzeugendere zu tun bzw. einen Kompromiss zu finden.
Kunst und Literatur kann solche Missstände und Aufgaben nur aufzeigen, lösen müssen sie alle gemeinsam.
Was liest Du derzeit?
Ich habe sehr spät die Erzählungen und Gedichte von Christine Lavant entdeckt, in denen eine eigentümliche Kraft und Unerschrockenheit zu spüren ist, die überrascht und beeindruckt, vor allem, wenn man weiß, dass Lavant von Krankheit geschlagen war, und Fotos von ihr kennt: In dieser zarten, asketisch wirkenden Frau mit den traurigen Augen wohnte ein großer, unabhängiger, ja rebellischer Geist.
Außerdem lese ich im Zuge einer Romanrecherche Biografien von und über Frauen in den 1950er und 1960er Jahren in Wien: Maria Lassnig, Ingrid Wiener, Rosemarie Philomena Sebek u.A. Diese Frauen hatten mit noch viel mehr Gegenwind seitens einer sie abwertenden und ausschließenden Männergesellschaft zu kämpfen als wir heutigen Frauen
…
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Literatur beschäftigt sich mit den großen Menschheitsfragen, auch wenn das anhand von konkreten Geschichten passiert. Ich denke derzeit viel über Angst nach, zu der der renommierte Neurophysiologe Gerald Hüther soeben ein Büchlein vorgelegt hat, das auch über die Coronakrise hinaus relevant bleiben wird. Denn er hat dabei die weise Entscheidung getroffen, die derzeitige Krise zu beschreiben, ohne konkrete Personen und Entscheidungen zu kritisieren oder Ereignisse zu rekapitulieren („Wege aus der Angst. Über die Kunst, die Unvorhersehbarkeit des Lebens anzunehmen“, V&R 2020). Es geht ausschließlich darum, zu verstehen, was Angst mit dem Einzelnen und mit Gesellschaften macht.
„Alle Vorstellungen, die wir Menschen herausbilden, um unser Leben zu bewältigen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Vorstellungen davon, wie es uns gelingen kann, die Angst zu besiegen. Und wir haben allergrößte Angst davor, dass diese einmal gefundenen, Halt bietenden Überzeugungen ins Wanken geraten.
Am weitesten verbreitet ist die Vorstellung, wir könnten alles, was uns bedroht, durch geeignete Maßnahmen unter Kontrolle bringen. Deshalb betreiben wir Wissenschaft, suchen Rat bei Experten und versuchen uns so viele Fähigkeiten wie möglich anzueignen. Getragen wird dieses Bemühen von der Überzeugung, wir könnten irgendwann einmal alles kontrollieren, was uns bedroht. Alles, was darauf hindeutet, dass diese verständliche Vorstellung unzutreffend sein könnte, macht uns Angst.
Ebenfalls verbreitet ist die Vorstellung, es gäbe besonders kluge, umsichtige und kompetente Personen, die besser als wir wissen, was in schwierigen Situationen zu tun ist, die uns Halt und Sicherheit bieten und uns aus der Gefahr herausführen. Auch diese Vorstellung erweist sich allzu oft als unzutreffend. Und wenn wir feststellen, dass solche Anführer die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten, bekommen wir Angst.
Sicher gibt es noch mehr solcher Vorstellungen, die uns helfen, unsere Ängste zu beschwichtigen – bis sie sich als ungeeignet erweisen. Dann befällt uns eine noch größere Angst. Deshalb geht es in diesem Buch nicht um das Besiegen von Angst. Was ich hier gemeinsam mit Ihnen herausfinden möchte, sind mögliche Wege, die uns herausführen aus der Gefangenschaft unserer eigenen Vorstellungen und Überzeugungen davon, wie sich die Angst besiegen lässt.“ (S. 10f.)
Eine lohnende Lektüre!
Vielen Dank für das Interview liebe Kirstin, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte – Deinen neuen Gedichtband „Gemütsstörungen“ (lieferbar ab Montag 23.11.2020)
– und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Kirstin Breitenfellner, Schriftstellerin
https://www.kirstinbreitenfellner.at/
Foto_Mats Bergen.
2.11.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.