Liebe Verena, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Die Tage, seit sich die Kronenkrankheit auf die Länder gesetzt hat, sind spitz geworden, hart, glatt an den Kanten, mit hohen Zacken und blendenden Spiegelungen. Sie sind ungerecht, brutal und bekränzt. Wenn man aber in ihnen sitzt, dann fühlen sie sich groß und weich an. Sie dehnen sich aus, erweitern sich wie Kolonialbestrebungen früherer Königreiche, werden größer und entfernen sich von ihren nächsten. In einem Tag sind jetzt viele, ihre Namen verschlucken sie selbst. Auch halten sie nicht, was sie einst versprochen haben, sondern tragen Neues heran. Die neuen Tage setzen über, in ein scheinbar fremdes Land, denn ich fühle, wie sich die zu den Handlungen gehörenden Gedanken verändert haben, das führt zu einer Veränderung der gesamten Ansicht
Die Zukunft könnte ein Bär auf zwei Pfoten sein, und niemand weiß, welches Gebiet er bewandern will, sage ich zu einer Freundin. Besser wir halten viel Honig bereit. Die Zukunft wohnt auf einem zu hohen Berg, niemand kann sagen, wie sie zu bergen ist, man kann ja nicht in die Zukunft hineingraben wie in einen Stollen, um aus ihr das Glitzernste herauszuholen – aber, warum eigentlich nicht?, frage ich sie. Ich setze meine Maske auf, zum Schutz gegen den feinen Staub, den Schutt und den Dreck, den ich fortzukarren habe
Das mache ich für die Neugeborenen und für die Föten, damit ihre Augen das Schönste sehen, von der Welt
Die alte Zeit holt niemanden mehr ein, wir sind ihr davongezogen, glanzlos. Leb wohl! Ich stehe am Fenster und blicke ihr hinterher, jetzt liegt sie schon weit zurück, ein Teil von mir ist in ihr geblieben
Die Tage, die jetzt sind, sie bringen die Holunderaugen zum Schaukeln, die Wolken wippen auch, sie wiegen sich hin und her wie die Fragen, die ich mir stelle. Deshalb begann ich ihren Lauf auszuheben, herauszuschaufeln die Aussagen der Vergangenheit aus ihren Gruben. Sie kamen in den letzten Wochen auf mich zu, auch jene der Verstorbenen und jetzt entschwinden sie langsam wieder. Sie und ich, wir konnten einander in dieser Zeit noch einmal begegnen, auch das haben die großen Tage hervorgebracht. Nur Antworten gab es keine, die Verstorbenen können nichts mehr über die Gegenwart sagen, sie standen seltsam ratlos vor mir.
Es ist immer noch heuer
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die Gesellschaft ist in ihrem Denken entzweigerissen – eine Rumpelstilzchen-Gesellschaft ist es –
da denke ich an das Wesen der Demokratie, für deren Erhalt eine Meinungs- und Gesinnungspluralität notwendig ist, denn stünden alle hinter einer Ansicht, dann würde eine Kraft zu mächtig und wir liefen Gefahr totalitären Ansprüchen ausgesetzt zu werden
Es ist wichtig für mich an den Gebirgsgraten dieser Zeit mich aufzuschürfen, zur eigenen Stimme in der Tiefe, im Inneren, im Erinnern sich selbst wiederzufinden:
die Eselin, den Glückskerl, den Clown
die Wüterin
Nun aber setze ich lieber wieder meine Maske auf, die Maske der Belustigung ist es nicht, denn wer von Belustigung spricht, der schwebt meist schon in Gefahr, weil es ihm ernst ist
Das mag ich, wenn jemand über ihm ernste Dinge scherzen kann
Es ist mir, als wüchse tags Neues aus den sich verwandelnden Geschehnissen, nachts schlafe ich in einer Krone aus Erde
Glitzernd vor mir die Zukunft, ein Fisch, oder ein Bär mit einem Fisch in der Hand, oder ein glänzender Berg, mit einem Bären mit einem Fisch in der Hand, oder wie die Kronenkrankheit mit uns in der Hand, oder wie der Kronenkrankheitskönig auf einem glänzenden Berg mit einem Bären mit einem Fisch, der Kronenkrankheit und uns in der Hand
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was ist dabei wesentlich und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?
Es ist einerseits wichtig niemanden zurückzulassen, sich für soziale Gerechtigkeit noch stärker einzusetzen. Es ist auch an der Zeit nicht weniger, sondern mehr zu verlangen: noch mehr Freiheit. Noch mehr Unterstützung. Eine Umverteilung von Kräften und Macht
Weniger Massenkonsum, weniger Flugzeuge, weniger Verkehr
Die Welt noch einmal neu zu bauen!
Bücher sind Staumauern gegen totalitäre Bestrebungen der Staaten, gegen eine Radikalisierung der Bevölkerung gegenüber Minderheiten. Vor den Büchern stehen die Schriftsteller*innen, die Dichter*innen, hinter den Büchern die Leserschaft, so bildet sich ein dicker Wall, der dagegenhält
Manchmal sind es Bücher allein, die Trost oder Freude spenden, die einen über schwierige Zeiten retten, mich retten sie
Was liest Du derzeit?
Oh, so viel, viele der Neuerscheinungen, ich möchte lesen und lesen, auch deshalb ist es gut, dass die Tage größer geworden sind
Poschmann, Warzecha, Küchenmeister, Bulucz, Szalay, Okopenko … Adler, Helfer, Meschiks Vaterbuch. Valerie Fritsch, Adalbert Stifter, Hendrik Jackson, Yevgeniy Breyger, Daniel Falb, Sonja vom Brocke, Uljana Wolf und viele mehr …
… aber auch Wissenschaftstheorie, Waldenfels „Erfahrung, die zur Sprache drängt“, über Jean Amery und Paul Feyerabend und ein sehr interessantes Buch über die Geschichte des Transithandels von Lea Haller
Welche Textstelle, welchen Impuls aus Deinem aktuellen Gedichtband möchtest Du uns mitgeben?
„Vorurteile ohne Kausalität oder die Diskreditierung weiblicher Kronen:
Für den Krokus dieser Welt. Und plötzlich in der Lage zu sein
sie doch noch einmal neu zu bauen“
Aus: OUSIA; Verena Stauffer. Kookbooks, März 2020.
Vielen Dank für das Interview liebe Verena, viel Freude und Erfolg für Deinen großartigen aktuellen Lyrikband und Deine kreativen Literaturprojekte wie persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an KünstlerInnen:
Verena Stauffer, Schriftstellerin
11.5..2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.
Fotos_Station bei Bachmann_Romanschauplatz_Malina 16.5.20
Alle Fotos_Walter Pobaschnig
Weitere Informationen:
Die aktuelle Rezension zu OUSIA von Jürgen Brôcan auf fixpoetry:
https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritik/verena-stauffer/ousia-1
Online-Auftritt von Verena Stauffer beim Literaturfestival Viral:
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