„Die, die in unserer Gesellschaft das Sagen haben, sind keine guten Gärtner“ Verena Dürr, Schriftstellerin_Wien 21.4.2020

Liebe Verena, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Nach dem Aufstehen setze ich mich mit Kaffee und Notebook zum Schreiben in den Innenhof vom Gemeindebau gegenüber. Der ist begrünt und alles blüht – eine kleine Stadtoase. Im Unterschied zu früher telefoniere ich mehr mit Familie, Freund*innen und wegen künstlerischer Projekte – einige Veranstaltungen, die erst abgesagt wurden, finden jetzt doch online statt. Sonst mache ich konsequent (!) mindestens eine halbe Stunde Sport (Yoga/Laufen) am Tag.

Was meinen Tagesablauf in den letzten Wochen aber vor allem bestimmt hat, war meine andere Arbeit in einer Wiener Notschlafstelle. Dort gab es in kurzer Zeit sehr viele Veränderungen, sowohl für uns, das Personal, als auch unsere Klienten. Normalerweise wäre mein Arbeitsvertrag Ende April ausgelaufen, doch wegen der aktuellen Situation sperren die Winternotquartiere nicht wie jedes Jahr im Mai zu, sondern sind vorerst einmal bis August geöffnet. Das ist einerseits gut, weil die Leute ja wegen der strengen Bestimmungen nicht gut auf der Straße oder auf der Donauinsel schlafen können und auch die Hilfsangebote durch den lock-down beschränkt wurden. Andererseits haben viele Klienten Vorerkrankungen und/oder sind schon alt – müssen sich im Notquartier aber Mehrbettzimmer mit anderen teilen. Notquartiere sind, wie ihr Name schon sagt eine Notlösung – leider sind sie dem Sozialstaat zur Gewohnheit geworden. Bessere Konzepte gäbe es – Finnland zum Beispiel hat Obdachlosigkeit quasi abgeschafft (siehe housing first). Aktuell werden wegen der Pandemie in Berlin, London oder L.A. Hotels und Hostels geöffnet, von denen ja die meisten seid Wochen und vermutlich noch eine ganze Weile leer stehen. Hoffentlich zieht Österreich bald nach. Auch und gerade obdachlose Menschen brauchen jetzt mehr denn je einen Rückzugsort für sich alleine, wo sie sich vor Ansteckung schützen können.

Ansonsten beschäftigen mich noch die Arbeitskämpfe im Sozialbereich. Während Pflege- und Sozialkräfte von allen Seiten Lob und Anerkennung hören, wurde ihre zentrale Forderung nach einer 35-Stunden-Woche vor Kurzem bei den KV-Verhandlungen abgelehnt. Eine verpasste Chance – nicht nur einmalige Prämien, Dankesreden und Blumen zu streuen, sondern diejenigen, die gerade unsere Gesellschaft am laufen halten, einfach besser zu bezahlen und ihre Arbeit damit dauerhafte aufzuwerten.

 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Irgendwo habe ich gelesen, dass wir derzeit verstärkt mit verschiedenen Formen des Verlusts konfrontiert sind und noch sein werden – Verlust von geliebten Menschen, Verlust von körperlicher Nähe und Intimität, Arbeitsverlust, Vertrauensverlust in die eigenen Werte und die der Gesellschaft, Verlust der persönlichen Freiheit – das ist traurig und deswegen wird es jetzt und in Zukunft sehr wichtig, zu trauern und manchmal das trauern auch erst einmal zu erlernen.

 

Jetzt wird es ein Neubeginn sein, vor dem wir gesellschaftlich wie persönlich stehen werden. Was ist dabei wesentlich und welche Rolle kommt der Literatur dabei zu?

Ich wünsche mir einen Neubeginn, mache mir aber ein bisschen Sorgen, dass doch wieder nur alles so weiter geht, wie bisher; dass die Entscheidungstragenden im Notfallmodus stecken bleiben und sich nie Zeit nehmen werden, um visionär zu denken. Dass die Einflussreichen in unserer Gesellschaft gar keine Veränderung wollen, weil es ihnen vorher ja eh sehr gut gegangen ist. Oder auch, dass sich die Mehrheit der Menschen nicht vorstellen kann, was sich alles zum Besseren verändern ließe – ich denke, da kann die Literatur ihre Rolle spielen.

 

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Was liest Du derzeit?

Ein antikes Büchlein in Frakturschrift – weswegen ich für das Lesen mehr Zeit und Konzentration aufwenden muss, als normalerweise – was ich angenehm entschleunigend finde. Es geht um die Geschichte der Gartenkunst. Ein Garten ist ja quasi der Versuch des Menschen sich in ein harmonisches Verhältnis zur Natur zu versetzen – diejenigen, die in unserer Gesellschaft derzeit das Sagen haben sind keine so guten Gärtner.

 

Welches Zitat, welche Textstelle aus Deinen Literaturprojekten möchtest Du uns mitgeben?

Nach ein paar Tagen sieht die Welt schon anders aus. Der Nebel verzieht sich und Geheimnisse werden gelüftet. Kein Weichzeichner (Marke: „American Spirit“) mehr auf der Wahrnehmung. Gefühle bekommen Kontur. Das Rauchen ist ein gut trainierter, reflexhafter Ausweichschritt weg von den eigenen Empfindungen. Damit aufzuhören, ist wie eine Brille mit unpassendem Dipotrie-Wert abzunehmen, die einem allerdings ganz gut zu Gesicht steht. Im Spiegel erkenne ich mich plötzlich selbst nicht mehr; Doch der Entfremdungseffekt vergeht bald und ich stehe mir klarer vor Augen denn je. Auch der Husten wird sich legen, der nach ein- bis vier Wochen einsetzt. Unangenehmes Hals-Kratzen, unschöner Auswurf, doch auch Erleichterung darüber, dass die Flimmerhärchen – Siedler im Epithel der Atemwege – den Streik beendet und ihre systemerhaltende Arbeit wieder aufgenommen haben. Eines morgens wütend erwachen – gereizt vom Duft des Lavendelsträußchens am Fensterbrett – mein Geruchssinn ist scheinbar ein Frühaufsteher und ich spüre zum ersten Mal, wie das ist – sich vollkommen innezuwohnen.

 

(aus dem Manuskript: „IDA – die Kunst, sich von der Rauchsucht zu befreien“)

 

Vielen Dank für das Interview liebe Verena, viel Freude und Erfolg für Deine vielfältigen Literatur- und Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

 

5 Fragen an KünstlerInnen:

Verena Dürr, Schriftstellerin

http://www.venerasinn.com/

 

 

29.3.2020_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

Foto_Walter Pobaschnig: Lesung Verena Dürr_Bachmannpreis 2017

 

 

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