„Die Literatur steht auf. Tritt auf die Bühne. Spielt. Die Bühne tritt ab.“ Michael Hammerschmid, Lyriker _ Wien 26.10.2023

Lieber Michael Hammerschmid, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Wie ein Umschleichen von Papier. Ein Hinter-dem-Fenster-Sitzen. Vorhang zu oder offen. Das Bett hüten, ein mit dem Fahrrad-Fahren, den Wind spüren, den Tag verlieren oder gewinnen, lesen, den Computer lassen, dann doch Emails-Schreiben, das Schreibheft halten, Listen machen. Ein Teetrinken, etwas für meine Töchter kochen, ein Abgelenktwerden. Eine Klarheit finden. Einen Raum öffnen, aus dem Tag in den Tag schlüpfen, ans Schreiben gehen. Ein Gedicht schreiben. Es in den Computer tippen. Zurück zu anderem. An einem Aufsatz arbeiten. Die Hausübung kontrollieren. Die Küche aufräumen. Ein Gespräch führen. Mich nach etwas sehnen. Im Abend verschwinden. Im Schlaf. In der Nacht.

michael hammerschmid, lyriker
und kurator des internationalen lyrikfestivals „dichterloh“ in wien

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich weiß nicht, wer alle sind. Wer sind alle? Wo sind alle? Es gibt so viele Menschen. Das Einfache ist für jeden Menschen wichtig. Das Wichtige ist nicht einfach, aber einfach. Das Wichtige ist besonders. Jeder Mensch ist besonders. Das Wesentliche nicht aus dem Auge verlieren. Dranbleiben. Die Informationen genau beobachten. Nicht schnell urteilen. Genau bleiben. Nicht zuviel und nicht zu wenig die Medien verfolgen. In Beziehung bleiben. Forschen. Horchen. Fragen. Mehr fragen. Nachdenken. Sich austauschen. Wieder nachdenken. Sich nicht hängen lassen. Sich ausruhen. Offen sein. Den Terror benennen. Den Krieg. Traurig sein. Nicht traurig bleiben. Handeln, leben, denken, hoffen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Ach, die Literatur. Sie mischt sich ständig ein. Unscheinbar meist, schreibt sie mit, legt sie sich quer zum Bestehenden, unterquert die Macht, sticht in sie kleine Wahrheiten, doch die Macht schlägt nach ihr, will sie loswerden. Die Literatur schreibt weiter, die Kunst entsteht. Wehe, sie wird unterdrückt (sie wird unterdrückt, in halbwegs funktionierenden Demokratien eher ignoriert), sie schreibt weiter. Lässt sich nicht angenehm machen. Lässt sich nicht verflachen. Ist zu vielfältig. Begehrt gegen Einfalt auf. Atmet, lebt. Welcher Neubeginn? Es ist soviel Apokalypse im Raum. Krieg. Es ist so viel Tod im Raum. Welcher Aufbruch? Der Aufbruch des einzelnen Wortes, Satzes, der Menschen, die sich wehren und nicht unterkriegen lassen. Persönliches Ungenügen. Persönliches Dennoch. Die Literatur steht auf. Tritt auf die Bühne. Spielt. Die Bühne tritt ab.

Was liest Du derzeit?

Renate Welshs „Johanna“, ein Roman über das Wesentliche, das im Leben eines zur Dirn bei einem Bauern genötigten jungen Mädchen in den faschistischen 1930er Jahren in Österreich präsent bleibt. Roman und Figur lassen sich nicht kaputtmachen. Sie konzentrieren sich und bleiben genau. Sie bleiben genauer als genau. Die Aufgabe der Literatur / im Leben.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ich saß mit Renate Welsh-Rabady und Ihrem Mann Shiraz Rabady in einem Zugabteil. Der Zug ratterte oder glitt vielmehr durch die sonnengefluteten Felder. Ich erzählte Renate Welsh von einem Aufsatz, den ich über die Frage „Was ist Lyrik?“ gerade geschrieben hatte. Renate Welsh dachte scharf nach. Dann sagte sie: Lyrik ist der Versuch, dem Chaos eine Melodie abzutrotzen. Der Zug strich weiter über das Land. Er schien zu schnell für diese Welt. Er zeichnete, schien mir, eine leise Melodie.

Vielen Dank für das Interview, lieber Michael, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

michael hammerschmid, lyriker und kurator des internationalen lyrikfestivals „dichterloh“ in wien.

Zur Person _michael hammerschmid, lyriker (für kinder und erwachsene), kurator des internationalen lyrikfestivals „dichterloh“ in wien, lebt und arbeitet in wien.

www.michaelhammerschmid.com 

Aktuelles Buch (Oktober 2023, noch nicht erschienen): stopptanzstill! wiener tier figuren gedichte. Picus Verlag

Michael Hammerschmid, stopptanzstill! wiener tier figuren gedichte. Picus Verlag

Einband gebunden

Umfang 96 Seiten

Format 17,5 x 25,0

ISBN 978-3-7117-4035-9

Ersch.Datum Oktober 2023

€18,00

(picus 2023) 

stopptanzstill!

Foto_Barbara Schwarcz

Walter Pobaschnig _ 20.10.2023

https://literaturoutdoors.com

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