Liebe Marlies, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Ich wache aus Träumen auf, die ich in Stücken erinnere und mit geschlossenen Augen rückwärts versuche wieder aufzufädeln. Ein Kinderfuß im Gesicht unterbricht mich. Ich stopfe kleine hungrige Mäuler und bringe sie weg. Dann kommt ein Zeitfenster für mich, in dem ich an mehreren Projekten zugleich arbeite: Text, Bild, Film. Für einen Moment erkenne ich einen roten Faden, der meine gesamte Arbeit durchzieht. Ich kann ihn greifen, ziehe ihn fester zusammen, es entsteht ein gutes Gefühl von Sinn. Dann entgleitet er mir wieder und ich fahre die Kinder abholen.

Künstlerin (Film, Poesie, Malerei)
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Verbindungen eingehen. Den Mut haben sich zu zeigen. Laut lachen. Laut weinen. Das Menschliche, das Imperfekte, das Widersprüchliche ertragen üben. Das Unvorhergesehene tun. Großzügig sein. Sich in die Augen schauen.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich finde die Kunst lehrt uns das scheinbar Widersprüchliche zu ertragen, sie lehrt uns Toleranz. Mit der Kunst können wir das Unbekannte und Unvorhergesehene, auch das Utopische, erproben und bislang vielleicht noch ungefühlte Gefühle fühlen. Wir können die Frage „Was wäre, wenn…“ in alle möglichen Richtungen zu Ende denken. Wir können das, was wir noch nicht verstehen, die Lücke, ertragen üben und „Ja“ sagen zum Unbekannten, offen sein und Komplexes wirken lassen, ohne es vorher rational verstehen zu müssen. Durch Kunst können wir die Erfahrung machen, dass Mehreres, vielleicht auch Widersprüchliches, zugleich möglich ist und dass das Gefühl der Hilflosigkeit beim Nicht-Verstehen ok ist. Und während wir so die Enge des rationalen Verständnisses erfahren, können wir unseren Gedankenraum dehnen und beobachten wie etwas Neues aufsteigt, eine andere Art Dinge und Zusammenhänge zu verstehen, ein tieferes Verständnis.
Was liest Du derzeit?
Unter Stunden Album 1, von Robert Stripling
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
dazwischen
(wo es noch nicht benannt ist
und alles erstmal
unter den Namen von nebenan
gestopft wird grob und ungefähr
unters gleiche Wort)
da sind Geflüchtete
beige Blutkörperchen
die Wachschutz wegspülen
und an Grenzen Schorf bilden
anschwellen und hinüberheilen
ins Ähnliche
da wo das eine endet
hat das andere längst begonnen
(Aus „Gedanken über Grenzen“, Marlies Pahlenberg)
Vielen Dank für das Interview liebe Marlies, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Marlies Pahlenberg, Künstlerin (Film, Poesie, Malerei)
Kurzbio:
– 1988 geboren in Berlin, lebt und arbeitet in Berlin
– seit 2022 Meisterschülerstudium der Freien Kunst / Bildhauerei an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee
– 2014-2022 Studium der Freien Kunst / Bildhauerei an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee, Abschluss Diplom
– 2019-2020 DAAD Auslandsjahr am Instituto Superior de Arte (ISA), Havanna, CU
– 2009-2013 Studium der Spanischen Sprache und Literatur an der Universidad Complutense de Madrid, ES, Abschluss Bachelor
Foto_privat
1.4.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.