Lieber Paul Jennerjahn, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Um 8 Uhr klingelt der Wecker. Ich stehe auf, frühstücke am liebsten mit der Zeitung, trinke Cappuccino. Danach geht es an den Schreibtisch, Romanschreiben. Am Nachmittag breche ich zur Spätschicht in einer Geflüchtetenunterkunft auf, in der ich arbeite, vielleicht auch erst kurz vor Mitternacht, wenn eine Nachtschicht ansteht.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Intuitiv gesagt, denn ich bin nicht kompetent in dieser Frage, weil ich Künstler bin: uns in ein emotionales Verhältnis setzen zu den Krisen, unter denen wir leben. Betroffenheit, nicht im Sinne eines sentimentalen Traurigseins, sondern als Erfahrung.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Ich bin skeptischer geworden, was die unmittelbare Politik der Kunst und der Literatur angeht. Der politische Aufbruch zu einer sozial-ökologischen Transformationsgesellschaft braucht zwingend die Zuspitzung, Eindeutigkeit, Entschiedenheit. Der Literatur nimmt aber Vereindeutigung tendenziell die Luft, die Figuren und die Sprache zum Atmen benötigen. Andererseits: Die Verwandlung und die Ambiguität der Literatur werden sicherlich dringend gebraucht.
Was liest Du derzeit?
Mehrere Bücher gleichzeitig, wie immer. Von Annett Gröschner Walpurgistag. Von Böll Fürsorgliche Belagerung, das stärkere Buch über die Nachwehen seiner Auseinandersetzung mit der Springer-Presse Anfang der 1970er als Katharina Blum. Dann lese ich gerade endlich Girl, Woman, Other von Bernardine Evaristo. Gedichte von Charles Simic, aus der zweisprachigen Anthologie Picknick in der Nacht.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
In ihrem überaus beeindruckenden Buch Death of a Discipline schreibt die Postcolonial-Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak über das Mensch-Erde-Verhältnis in Zeiten, die Globalisierung genannt werden, unter anderem das hier: “The globe is on our computers. No one lives there. It allows us to think that we aim to control it.”
Vielen Dank für das Interview lieber Paul, und viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Paul Jennerjahn, Autor
Zur Person_Paul Jennerjahn, geboren 1993, studierte Germanistik und Sozialwissenschaften in Hamburg und arbeitete zunächst als Lehrer. Heute lebt er als Autor in Köln, schreibt regelmäßig Reportagen und Rezensionen für die Stadtrevue und studiert Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien Köln. 2020 erhielt er den Friedrich Engels-Essay-Preis, 2021 den Bad Godesberger Literaturpreis und eine Nominierung zum 29. open mike, 2022 war er Stipendiat am Center for Literature in Münster. Seine Erzählungen, Gedichte und Essays erscheinen in Zeitschriften und Anthologien, u.a. BELLA triste, JENNY, mosaik und KARUSSELL. Gemeinsam mit Julie Sophia Schöttner kuratiert und moderiert Paul Jennerjahn die neue Lesereihe AUSWÄRTSLESUNGEN, die Anfang Mai in Köln Premiere feiern wird. Aktuell arbeitet er an einem Roman und einem Gedichtband.
6.4.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.