„Literatur ist ein Wagnis, ein Experiment“ Ursula Kirchenmayer, Autorin _ München _ 27.4.2023

Liebe Ursula Kirchenmayer, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich wecke die Kinder, mache mir einen Kaffee, räume die Spülmaschine aus, schmiere Brotzeiten, packe Rucksäcke, die Kinder frühstücken und ziehen sich an. Irgendwann werden wir, die Erwachsenen, ungeduldig, wir denken an die Uhrzeit, wir flehen und werden laut, wir entschuldigen uns, wir werfen alle unsere montessorischen Grundsätze über Bord und ziehen den Kindern überstürzt Schuhe und Jacken an. Meistens bringt mein Partner die Kinder in den Kindergarten.

Ich räume die schmutzigen Teller in die Spülmaschine und setze mich an den Schreibtisch, der eigentlich unser Esstisch im Wohnzimmer ist, denn mein Arbeitszimmer wurde von den Kindern, die sich noch ein Zimmer teilen, schleichend in ein zweites Spielzimmer verwandelt. Das macht mir nichts aus, im Gegenteil, am Esstisch arbeite ich am liebsten. Die nächsten Stunden sind kostbar, da begrenzt, und weil ich das weiß, konzentriere ich mich.

Ursula Kirchenmayer, Autorin

Die Kinder geben meinen Tagen Struktur, Haushalt und Arbeit sind fast eine Einheit geworden; wenn ich nachdenken muss, hänge ich Wäsche auf. Manchmal gibt es E-Mails zu beantworten, oder Interviewfragen, so wie jetzt, und gelegentlich auch Deadlines abzuarbeiten – denn wie die meisten Autor*innen bin ich auf Stipendien finanziell angewiesen. Meistens aber schreibe ich einfach, oder überarbeite bestehenden Text. Das Mittagessen kommt dabei oft zu kurz.

Um 14 Uhr bin ich es, die die Kinder abholt. Der Nachmittag wird von den Kindern bestimmt, nur in dringenden Fällen versuche ich nebenher zu arbeiten. Das ist meist keine gute Idee: am Ende sind alle frustriert, Tränen fließen.

Dieser Winter war hart, weil wir viel krank waren, häufig war eines der Kinder zuhause, oder auch beide, und da mein Partner einen Job hat, der besser entlohnt wird als meiner, war ich es, die das abfangen musste, und es war meine Arbeit, die darunter gelitten hat.

Jetzt freue ich mich schon sehr auf den Sommer.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Wir müssen ernst nehmen, dass Teile der Bevölkerung gerade offenbar ihr Vertrauen in den Staat und in die Medien, auch in die Politik verlieren. Wir müssen raus aus unseren Blasen – nicht alle fühlen sich in den aktuellen Debatten gehört. Wenn man sich einmal Deutschland anschaut, da ist die Armutsquote zwischen 2010 und 2019 um 40 Prozent gestiegen! Das trifft zunehmend auch die Mittelschicht. Und Armut ist vererbbar. In Österreich gibt es einen ähnlichen Trend. Ich mache mir Sorgen um die Zukunft unserer Kinder. Wir müssen uns mehr um die Welt kümmern, deren Ressourcen begrenzt sind, aber auch mehr umeinander. Wir müssen lernen uns wieder zuzuhören. Es ist doch verrückt: Das reichste 1 Prozent emittiert doppelt so viel wie ganze 50 Prozent der Ärmeren. Warum werden dann ausgerechnet die Reichsten so zaghaft besteuert? Wir müssen unser bestehendes System hinterfragen, vielleicht von Grund auf neu denken. Wir müssen langsamer werden, weniger und bewusster konsumieren, wir müssen lernen zu verzichten. Das geht uns alle etwas an. Aber gleichzeitig müssen wir endlich und ganz besonders auch diejenigen in die Verantwortung nehmen, die tatsächlich etwas bewegen könnten. Keine Privatjets mehr, keine Flüge zum Mars.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Literatur und Kunst können die Dinge in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zeigen. In der Literatur ist Platz für Zwischentöne. Literatur bewegt, trifft, schmerzt – anders als eine rein theoretische Analyse. Ich glaube fest daran, dass Literatur deshalb auch eine im brecht’schen Sinne gesellschaftsdurchwirkende, eine heilende Kraft hat. Und Literatur ist nicht schnelllebig. Es kann Jahre dauern einen Roman zu schreiben, es kann Wochen dauern einen Roman zu lesen. Literatur ist damit auch ein Relikt aus einer anderen Zeit. Sie lädt uns ein stehen zu bleiben, uns umzuschauen. Beim Lesen dürfen wir langsam sein. Literatur ist, genau wie die Kunst, ein Wagnis, ein Experiment – und als solches muss sie es sich erlauben können auch mal zu scheitern. Die prekären Schaffensbedingungen von Künstler*innen lassen das aber kaum zu. Das trifft im Übrigen ganz besonders Menschen, die zusätzlich noch Care-Arbeit leisten. Die meisten ausgeschriebenen Stipendien sind Aufenthaltsstipendien, aber als Mutter zweier kleiner Kinder kann ich mich darauf nicht bewerben. Man muss es sich leisten können Künstler*in zu sein. Das ist ein großes Problem, denn: Wenn nur eine kleine Elite überhaupt dazu in der Lage ist Kunst und Literatur zu produzieren, wessen Geschichten erzählt sie dann noch?

Was liest Du derzeit?

Kindheit von Tove Ditlevsen. Und Motherhood von Sheila Heti. Ich fange endlich wieder an mehr zu lesen; meine kleine Tochter ist jetzt drei, sie verschwindet manchmal für längere Zeit im Kinderzimmer, und plötzlich ist die Zeit wieder da. Das ist schön.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Die Zeit der Dinge überrollte uns. Das Gleichgewicht, das lange zwischen dem Warten auf etwas Neues und seinem Besitz geherrscht hatte, zwischen Entbehrung und Erfüllung, war gestört. Mittlerweile riefen neue Produkte keine Abwehr oder Begeisterung mehr hervor, sie beschäftigten nicht mehr die Fantasie. (…) Unbegrenzte Möglichkeiten zeichneten sich ab. (…) Sechzigjährige bekamen Kinder. Durch das Lifting gefror die Zeit auf den Gesichtern.“

Annie Ernaux, Die Jahre

Ursula Kirchenmayer, Autorin

Vielen Dank für das Interview, liebe Ursula, viel Freude und Erfolg für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!

5 Fragen an Künstler*innen:

Ursula Kirchenmayer, Autorin

Zur Person_Ursula Kirchenmayer, geboren 1984 in Lugoj, Rumänien, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München. Sie studierte Literarisches Schreiben in Leipzig und
gewann zahlreiche Literaturwettbewerbe. Ihre Texte erschienen in Zeitschriften
und Anthologien sowie im Rundfunk, u.a. in BELLA triste, poet, STILL und auf
SWR2. ›Der Boden unter unseren Füßen‹ ist ihr erster Roman

Ursula Kirchenmayer, Der Boden unter unseren Füßen. Roman. dtv.

Eine junge Familie, eine Nachbarin und das Recht auf ein Zuhause
Kurz vor der Geburt ihres Sohnes finden Laura und Nils die lang ersehnte
Altbauwohnung, das Glück scheint perfekt. Wäre da nicht die psychisch kranke
Nachbarin aus dem Erdgeschoss. Ungefragt legt sie ihre Hand auf Lauras
Bauch – und alles verändert sich. Als sie eines Tages sogar die Wohnungstür
eintritt, beginnt ein Kampf, auch um Gespenster der Vergangenheit und die
eigenen Ideale. Wer hat die größere Daseinsberechtigung, wer mehr Anspruch
auf Wohnraum in einem System, das nicht allen gerecht werden kann?


In ihrem Debütroman wirft Ursula Kirchenmayer drängende Fragen unseres
gesellschaftlichen Zusammenlebens auf und porträtiert ebenso einfühlsam wie
schonungslos die Verletzlichkeit junger Eltern in der Großstadt.
»Niemals zu klar und mit einem fesselnden Feingefühl für die Ängste und
Ansprüche der jungen Mittelschicht legt Ursula Kirchenmayer mit diesem
Roman den Finger in gleich mehrere Wunden.« Alina Herbing

Ursula Kirchenmayer, Der Boden unter den Füßen, dtv Verlag _ Originalausgabe 400 Seiten _ 2023

ISBN: 978-3-423-28313-7
EUR 23,00 [DE] – EUR 23,70
[AT]
ET 12. Januar 2023 , 1. Auflage
Format: 12,5 x 19,6 cm
Sprache: Deutsch

Fotos_Sascha Kokot

3.4.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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