„Vielleicht wird die Kunst zum Zünglein an der Waage – sie darf sich nicht wegducken“ Markus Witte, Autor _ Nauen/D 25.4.2023

Lieber Markus, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich wohne an vier Tagen der Woche in Nauen, kurz vor Berlin. An den übrigen drei Tagen bin ich in Hannover. An den Wochentagen tagsüber der Juristenberuf, im Homeoffice in Nauen oder im Büro in Hannover. Und viele Bahnfahrten.

Das Schreiben entfaltet sich vor allem am Abend. In Nauen, in meinem Arbeitszimmer, habe ich dann das Gefühl, sowohl nahe Berlin zu sein und zugleich in der Weite der brandenburgischen Landschaft.

Auch Vereinsaufgaben sind ein Teil des Abends. In Berlin bin ich Vorsitzender des Creative Writing Group e.V., ein über 30 Jahre alter, englisch-deutschsprachiger Literaturverein. In Hannover bin ich im Vorstand des Autor:innenzentrum Hannover e.V., wir sind in kurzer Zeit 80 Mitglieder geworden. Abends kommen also Vorstandstreffen oder Veranstaltungen hinzu.

Das ist der Grundrhythmus in jeder Woche. Lesungen, wie beispielsweise am kommenden Sonntag für eine neue Anthologie, sind dann das eigentliche Salz in der Suppe.

Markus Witte, Autor

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Mir kommt hierzu folgendes in den Sinn. Werten kommt in sehr ruhigen Zeiten auf den ersten Blick keine existenzentscheidende Rolle zu. Manchmal werden sie dann fast für austauschbare Accessoires gehalten. Zeiten, in denen existenzielle gesellschaftliche Umbrüche vonstattengehen, hat es, vor allem in Westdeutschland, lange nicht gegeben. Der russische Krieg in der Ukraine bringt lange verdrängte existentielle Fragen an uns als Gesellschaft auf den Tisch. Das gilt erst recht, wenn wir uns gedanklich in die Situation der Ukrainer versetzen. Welche Rolle spielt Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine? Und wie ist es um die gesamte Sicherheitsarchitektur bestellt? Derart existenzielle Fragen stellen sich übrigens erstmals Ost- und Westdeutschland nach der Wiedervereinigung gemeinsam. Werten kommt in diesen Zeiten eine besondere Bedeutung zu. Werte werden jetzt besonders wichtig.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Freiheitswerte und Kunst sind untrennbar miteinander verbunden. Kunst, sofern sie sich nicht einer feststehenden Meinung andient, steht daher für die generelle Freiheit als solche. Für die Freiheit, eine andere Meinung oder einen anderen Lebensstil haben zu dürfen. Für die Freiheit, eine andere oder gar keine Religion haben zu dürfen. Die gegenwärtige Situation zwingt uns als Gesellschaft dazu, Werte und Kunst nicht nur neben dem Alltag in einem Paralleluniversum zur Schau zu tragen. Werte und damit auch Kunst sind unvermittelt zu Akteuren geworden. Sie können die Gewichte in den entscheidenden Fragen, vor denen die freie Welt jetzt steht, in die eine oder in die andere Richtung bewegen. Vielleicht wird die Kunst zum Zünglein an der Waage. Kunst, die nicht nur Accessoire sein will, darf sich hierbei nicht wegducken. Die Kunst muss diese Rolle annehmen.

Was liest Du derzeit?

„Jeder Aufbruch ist ein kleiner Tod“ von Ivana Sajko, aus dem Kroatischen übersetzt von Alida Bremer. Der Protagonist erzählt auf einer langen Zugfahrt nach Berlin. Dieses Denken im Takt des Ratterns des Zuges trifft mein Lebensgefühl.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

„Worte sind Taten“ (Wittgenstein)

Vielen Dank für das Interview lieber Markus, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Markus Witte, Autor

Zur Person_Markus Witte, geboren 1975 in Parchim (Mecklenburg-Vorpommern). Autor und Jurist. Wohnt in Nauen (Brandenburg) und Hannover. Lyrik und Kurzgeschichten, deutsch und englisch. Zuletzt zwei Gedichte in der Lyrik-Anthologie „Der Amelia Earhart Pfannkuchen“ (Moloko Print 2022). Zudem Fotografie und Fotoausstellungen. Die Grafik von Markus Witte „L VE“ als Teil der Originale-Drucks „More Money“ (42 Künstler, Herausgeberin Jo-Anne Echevarria-Myers, Auflage 100 nummerierte Originale) ist in der Sammlung der Harvard University Fine Arts Library und des Museum of Modern Art in New York (MOMA).

Webseite www.the-moment.com

Foto_Kristina Verzbilovska

23.3.2023_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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