Bachmannpreis – Rückblickinterview: „als würde ich in einem Auto sitzen, das sich überschlägt, aber bei vollem Bewusstsein.“ Tanja Langer, Schriftstellerin_Bachmannpreisteilnehmerin 2001 _ Berlin 22.4..2023

Liebe Tanja Langer, Du hast 2001 am Bachmannpreis in Klagenfurt teilgenommen. Wie kam es zu Deiner Teilnahme und wie gestaltete sich Deine Vorbereitung? Welche Erwartungen hattest Du?

Mein damaliger Verlag Volk & Welt, bei dem mein Debüt „Cap Esterel“ 1999 erschienen war, wurde von Elisabeth Bronfen angesprochen – sie interessierte sich für meinen Roman „Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich“, an dem ich gerade arbeitete und für den ich bereits zwei Stipendien erhalten hatte. Sie schlug mich für Klagenfurt vor. Ulrike Draesner, die auch bei Volk & Welt war, sollte ihren Roman etwas früher herausbringen, deshalb entschied man sich, sie zuerst zu schicken, sonst wäre ich im Jahr 2000 hingefahren.

Ich war relativ blauäugig und hatte mich nicht genau mit den Abläufen zuvor befasst; ich hatte drei kleine Kinder und schrieb viel für Zeitungen über Literatur, meine Zeit war begrenzt. Dort eingeladen zu werden, galt damals als hohe Ehre. Ich freute mich einfach über die Einladung und machte mir nicht viele Gedanken. Das einzige, was doof war: Ich hatte den Anfang des Romans aufgrund der Stipendien im Radio gelesen, diesen Text durfte ich dann nicht in Klagenfurt vorstellen (man darf nichts lesen, was schon einmal an die Öffentlichkeit gekommen ist).

Das Grundproblem war: Früher lasen die Autor*innen die Texte, OHNE dass die Jury sie vorher kannte. Jetzt bekam die Jury die Texte schon lange vorher.

Tanja Langer, Schriftstellerin und Verlegerin _
Bachmannpreisteilnehmerin 2001

Gab es im Vorfeld der Veranstaltung Kontakte zu den Mitlesenden und der Jury und wie war der Kontakt (Kontaktmöglichkeiten) vor Ort?

Es gab eine Pressekonferenz im Literarischen Colloquium in Berlin-Wannsee mit einigen der Juroren; dabei wurden drei Kandidat*innen vorgestellt: Mir war sehr schnell klar, dass es diejenigen waren, die man für die Gewinner*innen hielt – und so war es dann auch. Ich sprach an diesem Tag mit einem der Juroren, Robert Schindel, und teilte ihm meine Beobachtung mit; dass ich Sorge hatte, dass wir anderen dann nur noch als Statisten eingeladen wurden, die Sieger schon feststünden, und dass ich überlegte, dann nicht zu fahren. Er beruhigte mich. Doch ich hätte auf mein Urin hören sollen. Wenn man so etwas im Nachhinein erzählt, sagen die Leute: Klar, die ist verärgert – aber so einfach ist es nicht. Es ist mehr ein struktureller Ärger.

In welchem Hotel und wie war die Unterbringung und an welche Begleitveranstaltungen erinnerst Du Dich?

An das Hotel kann ich mich gar nicht erinnern; ich erinnere mich an den wunderbaren türkisfarbenen See, an dem sich zwischendurch alle tummelten, und die Abende im Biergarten.

Wie gestaltete sich die Auswahl für die Lesungstermine und wann hast Du gelesen?

Ich habe vage in Erinnerung, dass die Termine ausgelost wurden (angeblich, ich weiß es nicht), ich las am zweiten oder dritten Tag morgens um elf.

Wie hast Du Dich unmittelbar auf Deine Lesung vorbereitet?

Ich war mit den Nerven so runter, dass ich vorher – komplett gegen meine Gewohnheiten – einen Cognac trank! Herr Siblewski, mein neuer Lektor bei Luchterhand (dort sollte der Roman erscheinen, denn Volk & Welt wurde als Verlag eingestellt), war besorgt, er ermunterte mich: Es ist ein Schwergewicht, Ihr Roman, Sie müssen nicht aufgeregt sein.

Ich war aber aufgeregt, weil ich das Strippenziehen hinter den Kulissen längst begriffen und das Gekungel beobachtet hatte. Das war eine unfassbare Desillusionierung und ich wäre am liebsten abgereist.

Welchen Text hast Du in Klagenfurt vorgestellt?

Einen Auszug aus meinem Roman „Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich“. Darin ging es um eine junge Frau mit kleinen Kindern, die sich mit dem frühen Hitler-Freund Dietrich Eckart befasst, der u.a. der Erfinder des Völkischen Beobachters war. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, wie ihre Eltern im Dritten Reich geprägt wurden, nämlich durch Figuren wie Eckart auch, was es für sie selbst bedeutet, und zugleich beschreibt sie, wie Eckart, als frustrierter Theaterautor, zum Antisemiten wird.

Wie hast Du die Jurydiskussion persönlich erlebt und wie beurteilst Du diese? Hast Du Dich in der Diskussion zu Wort gemeldet?

Einzig Robert Schindel verteidigte mich, begriff, was ich dort versuchte, ehrlich zu sein nämlich, skrupulös.

Damals konnte man nicht in die Diskussion eingreifen, es gab nur die Möglichkeit zu einem Schlusswort. Ich bestand auf meinem Schlusswort. Es fühlte sich an, als würde ich in einem Auto sitzen, das sich überschlägt, aber bei vollem Bewusstsein.

Mit welchem Feedback und persönlichen Emotionen hast Du den Lesungsort danach verlassen?

Es war ein Fiasko. Ich hatte irrsinnige Kopfschmerzen, der ganze Körper tat mir weh, ich brauchte sehr, sehr lange, mich davon zu erholen.

Eine Frau aus dem Publikum kam auf mich zu und sagte (das werde ich nie vergessen): Schreiben Sie weiter. Wir Mütter sind die Kehrschaufel der Nation. Sie geben uns Müttern eine Stimme. Manche Kollegen kamen und sagten: Du hast dich wacker geschlagen, ich ziehe meinen Hut.

Wie hast Du die Zeit unmittelbar nach der Lesung verbracht und was war für Dich da wichtig? Gab es Gespräche mit Jury, Mitlesenden danach?

Das Wichtigste und Beste war eigentlich: Am Abend sprach mich Lutz Wolff, Cheflektor von dtv, an. Er war dort mit der amerikanischen Schriftstellerin Binnie Kirschenbaum, sie war voller Anerkennung und riet Lutz Wolff, mich sofort zu dtv zu holen. „She must have pressed some button“, sagte sie, „that they got so upset“. Sie sagte: „Solange wir Hitler auf einen Sockel stellen, kapieren wir nichts. Solange wir Opfer auf den Sockel stellen, auch nicht. Diese junge unerschrockene Autorin holt sie runter. Nimm sie.“

Tatsächlich holte mich Lutz Wolff nach dem Morphinisten zu dtv, wo ich meine nächsten Romane veröffentlicht habe.

Die Mitlesenden bis auf zwei, drei Ausnahmen waren mit sich selbst beschäftigt. Woran ich mich gut erinnern kann, war Annegret Held. Sie sagte zu einem Interviewer: Wenn ich gewusst hätte, dass man hier eine Erzählung abgeben soll, mit Anfang, Höhepunkt und Ende, dann hätt ich brav meine Hausaufgaben gemacht. Sie war ebenfalls verrissen worden und genauso perplex wie ich von allem.

Wer mich auch getröstet hat, war Ulrich Greiner von der ZEIT: Er drückte mir seine Hochachtung aus, sagte: „Lassen Sie sich bloß nicht beirren. Es gibt berühmte Schriftsteller*innen, die hier auch abgeschmettert wurden.“ Und er fragte nach dem Fortgang des Buchs.

Wie gestalteten sich für Dich die weiteren Lesungstage und die Preisverleihung?

Ich hielt irgendwie durch. Ging viel schwimmen. Hörte noch die eine oder andere Lesung. Beobachtete die Welt, das Karussell der Eitelkeiten. Trank zu viel. Knutschte mit einem Kollegen (mein Ex-Mann wird mir verzeihen).

Wie bist Du als Schriftstellerin und persönlich von Klagenfurt abgereist und welche Erinnerung und Resümee hast Du in Abstand an den Bachmannpreis?

Ach, diese Erfahrung hätte ich mir schenken können!

Wie hat die Teilnahme am Bachmannpreis Deine weitere schriftstellerische Laufbahn beeinflusst?

Zunächst hatte das Buch es sehr schwer, als es erschien. „Hitler in Muttis Hausapotheke“ titelte die NZZ. Es war ein Desaster. Zum Glück verteidigten einige Schriftsteller*innen meinen Roman: Allen voran Daniel Kehlmann, Tanja Dückers, Hans Christoph Buch.

Immerhin: Ich kam zu dtv, ich hielt durch, ich bin noch immer da. Es gibt auch Autor*innen, die danach aufgehört haben zu schreiben.

Gibt es noch Kontakt zu Mitlesenden, Jury, Journalisten*innen oder Bezugspersonen in Klagenfurt?

Kaum. Es ist ja schon so lange her. Danach begegnete ich natürlich Kolleg*innen von der Presse, solange ich noch für die Zeitungen schrieb, aber das schaffte ich zeitlich irgendwann nicht mehr, dann verlepperte sich das.

Würdest Du noch einmal am Bachmannpreis teilnehmen?

Nein.

Was wünscht Du Dir für den Bachmannpreis?

Ich weiß nicht, wie es heute ist, aber ich fand die uralte Offenheit schön, als die Autor*innen Texte lasen, die die Juror*innen vorher noch nicht kannten. Ich fände es auch gut, wenn das Publikum mitdiskutieren dürfte.

Was möchtest Du den aktuellen Teilnehmer*innen mitgeben?

Sich gut überlegen, ob sie den Konsequenzen gewachsen sind. Sich die Sendungen vorher genau anschauen. Sich gut beraten lassen. Ich bin von der Agentin damals weg.

Welche Erinnerung hast Du an den Lesungsort Klagenfurt und welche Aktivitäten hast Du in der Stadt unternommen?

Ich habe an die Stadt selbst nur eine Erinnerung: Ich laufe mit einem Kollegen durch die Straßen und er redet ununterbrochen davon, dass ein Flugzeug über uns abstürzen könnte!

Ich erinnere mich an das phantastische Wasser des Sees, das Schwimmen war meine Rettung. Und dass im Flieger hinzu tatsächlich Jörg Haider mitflog.

Welche aktuellen Projekte gibt es derzeit für Dich?

Ich arbeite an einem Roman über eine armenische Familie im Libanon, die z.T. den Genozid im Osmanischen Reich überlebt hat, ich begleite sie über ein Jahrhundert, ihre Wege, auch bis Marseille und Erewan, aber hauptsächlich im Libanon. Die Frauen und Kinder, die sich mit Handarbeiten das Leben verdienten, die große handwerkliche, oft verdrängte Fähigkeit der Armenier*innen im Textilbereich spielt eine Rolle, aber auch, wie sich in ihrem Gedächtnis die Erlebnisse verändern.

Außerdem führe ich meinen unabhängigen mehrsprachigen Bübül Verlag Berlin!

Tanja Langer, Schriftstellerin und Verlegerin _
Bachmannpreisteilnehmerin 2001

Vielen Dank für das Interview, liebe Tanja Langer, und alles Gute für alle Projekte!

Bachmannpreis _ Rückblick _Interview:

Tanja Langer, Schriftstellerin und Verlegerin _
Bachmannpreisteilnehmerin 2001

Zur Person_Tanja Langer, geboren 1962 in Wiesbaden, lebt seit 1986 in Berlin. Sie veröffentlichte Erzählungen, Hörspiele und Romane wie Der Tag ist hell, ich schreibe dir, Der Maler Munch, Kleine Geschichte von der Frau, die nicht treu sein konnte und den Afghanistanroman Der Himmel ist ein Taschenspieler (mit D. Majed). Als Textdichterin für Neue Musik verfasste sie das Libretto für die Oper Kleist (UA 2008) und den Liederzyklus Künstlerinnen / Fürchterlich ist die Braut am Abend von Rainer Rubbert, die Oper Ovartaci – crazy, queer & loveable für 12 Komponist*innen (2017/8 Staatsoper Unter den Linden, Berlin) u.a.. 2019 eröffnete sie ihr Projekt zum Erinnern und Vergessen mit dem Roman Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday oder die Erfindung der Erinnerung. 2016 gründete sie den polyphonen Bübül Verlag Berlin.

Langer gilt als »… eine aufregende und avancierte Autorin mit Gespür für politisch-gesellschaftliche Umbrüche, die sie immer auch aus privater Sicht zu spiegeln weiß.«  Volker Heigenmooser, literaturkritik.de

http://www.tanjalanger.de

Tanja Langer _ BÜBÜL VERLAG BERLIN

https://tanjalanger.de/buebuel/

Fotos _ 1 Michele Corleone; 2 privat.

Bachmannpreisrückblickinterview_

Walter Pobaschnig, Interview 5.4.2023

https://literaturoutdoors.com

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