Bachmannpreis 2023 _ „dass die Jury ohne Vorkenntnisse der Texte urteilt, finde ich als Idee weiterhin sehr reizvoll“ Thomas Strässle, Bachmannpreisjuror _Zürich 12.4.2023

Lieber Thomas Strässle, in knapp drei Monaten beginnt der 46. Bachmannpreis in Klagenfurt. Du bist heuer erstmals in der Jury. Wie kam es dazu und wie gehst Du auf Klagenfurt zu?

Wie es dazu kam, kann ich nicht genau sagen. Ich erhielt einen Anruf des ORF, in dem mir mitgeteilt wurde, ich sei in die Klagenfurter Jury „berufen“ worden. Ich freute mich natürlich, erbat mir aber auch Bedenkzeit. Schließlich sagte ich zu. Wie ich auf Klagenfurt zugehe? Ohne bestimmte Erwartung, aber mit gespannter Vorfreude.

Thomas Strässle, Bachmannpreisjuror _
Literaturwissenschaftler, Autor

Welche Schriftsteller:innen, Bachmannpreissieger:innen, Texte, Ereignisse sind Dir spontan zu Klagenfurt in Erinnerung?

Es kommen mir viele in den Sinn, aber besonders gut erinnere ich mich an Hermann Burgers Wasserfallfinsternis von Badgastein, den Siegertext von 1985. Ich kannte Burger durch mein Elternhaus schon als Kind, er war der erste Schriftsteller, den ich aus der Nähe erlebte. Und ich weiß noch genau, wie triumphal er damals aus Klagenfurt zurückkehrte und von sich selber nur noch in der dritten Person als „The Number One“ sprach. Klagenfurt hat seine Manie auf die Spitze getrieben, die Depression danach muss umso schlimmer gewesen sein.

Warst Du auch in den vergangenen Jahren vor Ort?

Ich war noch überhaupt nie da!

Du bist Hochschulprofessor für Literatur in Zürich und Bern und Kritiker im „Literaturclub“ des Schweizer Fernsehens SRF. In Deinen Publikationen hast Du etwa über „Salz. Eine Literaturgeschichte“ (Hanser 2009) und „Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt“ (Hanser 2013) publiziert. Was ist für Dich das „Salz“ des Bachmannpreises und die „Gelassenheit“?

Ursprünglich war das Salz des Bachmannpreises, dass die Jury ihre Urteile ohne Vorkenntnisse der Texte treffen musste. Man konnte ihr bei der Urteilsfindung zusehen. Das war natürlich mit viel Risiko verbunden, aber ich finde die Idee weiterhin sehr reizvoll, das Setting ist attraktiv und spontan und auch demokratisch, weil Publikum und Jury dieselbe Ausgangslage haben. Die Gelassenheit besteht wohl darin, sich von dem ganzen Rummel rund um den Bewerb nicht allzu sehr beeindrucken zu lassen.

Welche drei Kriterien machen für Dich wesentlich eine gelungene Literaturkritik aus?

Offenheit, Nachvollziehbarkeit, Fairness.

Auf was freust Du Dich besonders in Klagenfurt und wovor hast Du auch etwas Angst?

Ich freue mich vor allem auf die Texte und die Diskussionen. Und auch auf den Rummel. Angst habe ich höchstens davor, dass mir im Eifer des Gefechts etwas rausrutscht, wofür ich mich nachher schäme.

Was wünscht Du Dir von den teilnehmenden Schriftsteller:innen und Deinen Jurykollegen:innen wie vom Publikum?

Von den teilnehmenden Schriftsteller:innen erhoffe ich mir natürlich Texte, von denen jeder einzelne den Hauptpreis verdienen würde, von den Jurykolleg:innen, dass sie klug, vergnügt und umsichtig auftreten.

Wie siehst Du die Zukunft des klassischen Buches?

Da bin ich sehr zuversichtlich. Abgesänge auf das klassische Buch haben ja ihre eigene Tradition. Wenn ich mir die Absätze von E-Books anschaue, mache ich mir wenig Sorgen um das gedruckte Buch.

„Hätten wir das Wort, hätten wir die Sprache, wir bräuchten die Waffen nicht“, sagte Ingeborg Bachmann in ihren Poetik Vorlesungen, 1959, Frankfurt. Was kann, muss Literatur angesichts des Krieges leisten?

Das ist natürlich eine schwierige Frage. Man sollte die Literatur nicht mit Aufgaben belasten, die sie überfordern. Sie kann den Krieg weder entscheiden noch beenden. Aber sie kann Stimmen hörbar und Perspektiven sichtbar machen, die uns ansonsten verschlossen blieben. Und das ist nicht wenig.

Du bist Präsident der Max Frisch-Stiftung an der ETH Zürich und Mitherausgeber von „Wir haben es nicht gut gemacht. Ingeborg Bachmann/Max Frisch: Der Briefwechsel“ (Suhrkamp 2022). Welche Herausforderungen gab es im Konzeptionsprozess und was ist für Dich das Bemerkenswerteste im literarisch-biographischen Kontext?

Dazu müsste ich weit ausholen, ich habe mich zehn Jahre lang mit diesem Briefwechsel beschäftigt. Eine besondere Schwierigkeit bei der Konzeption bestand darin, überhaupt festzulegen, was alles zu diesem Konvolut gehört, einschließlich Umkreisbriefen etc. Das Bemerkenswerteste am Briefwechsel liegt in dessen literarischer Qualität und in den Korrekturen am klassischen Bachmann/Frisch-Mythos, die nach der Veröffentlichung der Briefe nötig geworden sind.

Was schätzt Du literarisch und persönlich an Ingeborg Bachmann und Max Frisch?

Die Radikalität, mit der sie sich einander und der Literatur verschrieben haben.

Hätten Ingeborg Bachmann und Max Frisch selbst am Literaturformat Bachmannpreis teilgenommen?

Darüber lässt sich nur spekulieren. Mit anderen Worten: Ich weiß es nicht. Frisch hat ja nicht einmal an den Treffen der Gruppe 47 teilgenommen, Bachmann schon.

Welche 3 Dinge kommen unbedingt in die Reisetasche für Klagenfurt?

Sonnenbrille, Lesebrille, frische Hemden.

Thomas Strässle, Bachmannpreisjuror _
Literaturwissenschaftler, Autor

Vielen Dank für das Interview, lieber Thomas Strässle! Gutes Ankommen und viel Freude in Klagenfurt!

Zur Person_ Thomas Strässle

Thomas Strässle wurde 1972 in Baden (CH) geboren, lebt in Zürich.

Er studierte Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Zürich, Cambridge und Paris. promovierte über Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch“ und habilitierte sich mit einer Studie über die Symboliken des Salzes von Homer bis zur Gegenwart. Parallel dazu ließ er sich zum Flötisten ausbilden und erlangte sein Konzertdiplom „mit Auszeichnung“.

Heute ist er Leiter des spartenübergreifenden Y Instituts an der Hochschule der Künste Bern und Professor für Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Außerdem ist er ständiger Kritiker im „Literaturclub“ von Schweizer Fernsehen SRF und Präsident der Max Frisch-Stiftung an der ETH Zürich.

Zu seinen Publikationen zählen „Salz. Eine Literaturgeschichte“ (Hanser 2009), „Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt“ (Hanser 2013), „Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit“ (Hanser 2019) sowie, zusammen mit Carolin Emcke, „Für den Zweifel“ (Kampa 2022) und, als Mitherausgeber, „Wir haben es nicht gut gemacht. Ingeborg Bachmann/Max Frisch: Der Briefwechsel“ (Suhrkamp 2022).

https://bachmannpreis.orf.at/stories/3183750/

Bachmannpreis 2023_Interview

Walter Pobaschnig 4_23

https://literaturoutdoors.com

2 Gedanken zu „Bachmannpreis 2023 _ „dass die Jury ohne Vorkenntnisse der Texte urteilt, finde ich als Idee weiterhin sehr reizvoll“ Thomas Strässle, Bachmannpreisjuror _Zürich 12.4.2023

  1. Lieber Walter 

    Danke dir für deine unermüdliche Arbeit!

    Darf ich ab deiner Seite dieses Gespräch twittern?

    Mit herzlichen Grüßen 

    Ruth 

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