„Der Roman ist heute genauso relevant wie vor 52 Jahren“ Julia Gradl, Musikerin _ Station bei Malina _ Wien 26.3.2023

Julia Gradl, Musikerin, Performerin _ Wien _
Romanschauplatz „Malina“ Ingeborg Bachmann (1971) _ 50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)
Julia Gradl, Musikerin, Pädagogin _ Wien _
Romanschauplatz „Malina“ Ingeborg Bachmann (1971) _ 50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)

Liebe Julia Gradl, wir sind hier an literarischen Bezugsorten des Romans „Malina“ (1971) von Ingeborg Bachmann in Wien. Sind Dir die Orte, die Umgebung hier vertraut?

Gelegentlich spaziere ich im Stadtpark, aber immer seltener, da er oft von Menschen überhäuft ist, das ist mir dann schnell zu viel. Das „Ungargassenland“, sowie der ganze dritte Bezirk, sind mir tatsächlich wenig vertraut.

Welche Bezüge und Zugänge gibt es von Dir zu Ingeborg Bachmann und dem Roman Malina?

Der Bezug zum Roman entstand tatsächlich erst durch das Fotoprojekt. Damit hat auch eine etwas „konkretere“ Form der Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk von Ingeborg Bachmann begonnen. Ich bin hingerissen und erschüttert zugleich. Vom Werk als auch von dem, was über ihre Person und ihr Leben bekannt ist.

Welche Eindrücke hast Du von den Schauplätzen in der Ungargasse, die wir besucht haben?

Einige der Schauplätze haben mich besonders gepackt. Dazu zählt der gefühlt tiefste und älteste Keller, in dem ich je war. Auch den Eingangsbereich der Ungargasse 6 empfand ich als besonders – ein Durchgang von so Vielem, und das, schon so lange. Mit dem Innenhof der Ungargasse 9 verbinde ich jetzt, wo ich zurückdenke etwas Friedliches und Geborgenes. Ein Ort für Rückzug. Ein Stückchen unbeschadete Natur.

Wie siehst Du den Aufbau und das Konzept des Romans?

Man könnte einen Zusammenhang zwischen den drei Kapiteln und den drei Protagonisten (Ich-Person, Ivan, Malina) der Dreiecksbeziehung erkennen. Vielleicht sind die drei Teile auch ein Sinnbild für Lebensabschnitte.

Nach einer steckbriefartigen Einführung der Figuren beginnt der erste Teil, in dem die Liebe zu Ivan beschrieben wird. Von Teil zu Teil wird es abgründiger. Den Höhepunkt stellen für mich die Schilderung der Albträume dar. Fortgeführt durch ein immer depressiveres und verstörteres Ableben einer Frau.

Teil 1 wirkte auf mich wie der Versuch einer liebevollen inneren Zuwendung, angeregt und eingeleitet durch Ivan. Teil 2 lässt Traumata in Form von Traumbildern zu Wort kommen. Träume vom immerzu quälenden, folternden und kriegsbehafteten Vater. Im Teil 3 spitzte sich die Dreiecksbeziehung zu. Tod und Sterben werden zu zentralen Themen.

Was sind für Dich zentrale Themen und Aussagen des Romans?

Zentrale Themen sind für mich die Vaterfigur, Krieg, Tod, Leid, Abhängigkeiten, Machtverhältnisse, Geschlechterungleichheiten, Alltag, Sehnsucht nach Geborgenheit und Eingebettet-Sein.

Einige Aussagen, die mich bewegt haben und im Zusammenhang mit den eben genannten Themen stehen:

„Ivan heilt.“

Ivan: „Warum hat noch nie jemand eine Freudemauer gebaut?“

„Gerechtigkeit ist eine unerreichbare reine Größe.“

„Denn der Mensch ist ein dunkles Wesen. Er ist nur Herr über sich in der Finsternis. Am Tag kehrt er zurück in die Sklaverei.“

„Die Geschichte lehrt, aber sie hat keine Schüler.“

„Eigentlich müsste man in jedem einzelnen Mann einen unheilbaren klinischen Fall sehen […] Frauen sind gezeichnet durch die Ansteckungen“.

„Ich habe in Ivan gelebt und sterbe in Malina“.

Wie ist die Beziehung zwischen Mann und Frau im Roman dargestellt und wie ist dies heute zu sehen?

Die beiden Männer Ivan und Malina sind voll berufstätig, sehr viel beschäftigt, verdienen ausreichend Geld und haben kaum Freizeit. Sie sind zwar für die Ich-Person da, jedoch fühlt diese sich kaum von ihnen gehört oder richtig verstanden. Die Ich-Person ist einerseits emanzipiert und Feministin, das kommt vor allem in Teil 3 ausdrücklich zu Wort, und andererseits doch den beiden Männern ergeben und unterlegen: Sie macht sich emotional von ihnen und ihrer Nähe abhängig.

Der Roman wurde 1971 veröffentlich und enthält wichtige Passagen, die das Patriarchat verurteilen und nach Veränderungen drängen. Heute genauso relevant wie vor 52 Jahren.

Wie beurteilst Du die Protagonisten Ivan, Malina, Ich-Person in Ihrem literarischen Kontext bzw. dem Kontext der Autorin und Ihrer Biographie?

Im literarischen Kontext spiegelt sich in den drei Protagonisten ein Geflecht verschiedener (Persönlichkeits-)Anteile/Qualitäten. Ivan als Sinnbild für Lebensfreude, Wildheit, Jugendlichkeit, heilsames Zuwenden zu sich selbst und zur eigenen Vergangenheit. Malina ist der Kontrast dazu: Rationalität und Beherrschung dominieren im Roman sein Auftreten. Die feinfühlige Ich-Person führt mit beiden Männern eine Beziehung, wobei nicht immer deutlich rauskommt, ob sie voneinander wissen. Sie fühlt sich zu beiden hingezogen, macht sich von ihrer Nähe und Zuwendung zwanghaft abhängig und wird immer verstörter und benommener, je mehr sich Ivan von ihr entfernt.

Die Ich-Person wohnt in allen drei Teilen bzw. Romanabschnitten mit Malina zusammen. Dementsprechend präsent sind auch die Dialoge der beiden. Von Ivan ist von Teil zu Teil immer weniger die Rede, wobei zu spüren ist, dass nur er es ist, nach dem sie letztlich lechzt.

Was den biographischen Kontext betrifft, so drückt die Autorin über die Figuren Ivan und Malina möglicherweise ihre innigsten persönlichen Verstrickungen aus. Als wären Ivan und Malina Teile, die in ihr Selbst wohnen und um Aufmerksamkeit ringen.

Welchen Einfluss hatte und hat der Roman auf die Entwicklung von Literatur, Kunst und Emanzipation und Gesellschaft?

Im Roman wird ein patriarchales Gesellschaftsbild dem Innenleben einer kriegstraumatisierten Frau gegenübergestellt. Malina wurde durch ein Drehbuch von Elfriede Jelinek verfilmt, ins Englische übersetzt und vergangenes Jahr als Theaterstück aufgeführt. Die Inhalte des Romans wirken bis heute in unterschiedlichen Bereichen weiter und beschäftigen die Menschen… 2026 jährt sich ihr Geburtstag zum hundertsten Mal… Wieder ein Anlass zum Weiterwirken und Gedenken ihres Werks.

Wie siehst Du das Ende des Romans?

Der letzte Satz im Roman lautet „Es war Mord“. Im Roman war oft von Mord, vom Sterben, vom Sich selbst zerstören die Rede… Das Ende ist schmerzbehaftet aber auch erlösend.

Gab es in Deinen Musik-, Kunstprojekten Berührungspunkte zu Ingeborg Bachmann?

Nein, bisher nicht.

Du bist wie Ingeborg Bachmann als Künstlerin von Salzburg nach Wien gezogen. Was bedeutet Dir Wien und welche Erfahrungen hast Du hier als Künstlerin gemacht?

Wien ist für mich Anonymität, ein künstlerisches Nest, Wienerwald, Bewegung und Begegnung. Als Künstlerin durfte ich hier in Wien schon einige Bühnen bespielen und besingen. Dafür mache ich Musik, um das, was mich ausmacht und ich in Musik finde, mit Menschen zu teilen und Nähe und Verbundenheit zu spüren.

Was sind Deine derzeitigen Projektpläne?

Bald wird es neue Veröffentlichungen vom Duo Kardamom.T geben, auch werde ich in einer anderen Formation bald auf der Bühne zu sehen sein.

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Hättest Du mit Ingeborg Bachmann gerne einen Tag in Wien verbracht und wenn ja, wie würde dieser aussehen?

Ja, das hätte ich sehr gerne. Morgens am Balkon mit Kaffee und Zigarette verweilen und vielleicht über Träume der vergangenen Nacht sprechen… zur Abwechslung hätte ich vorgeschlagen, in den Wienerwald wandern zu gehen und dort vielleicht an Bäume gelehnt Texte oder Gedicht improvisatorisch zu vertonen…

Darf ich Dich abschließend zu einem Malina Akrostichon bitten?

M ALINA

A BHÄNGIGKEIT

L ILY

I VAN

N ÄHE

A LL-EIN(S)

Julia Gradl, Musikerin, Pädagogin _ Wien _
Romanschauplatz „Malina“ Ingeborg Bachmann (1971) _ 50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)

Vielen Dank, liebe Julia Gradl, für Deine Zeit in Wort und Bild bei Malina, alles Gute für alle Projekte!

Station bei Malina_Roman Ingeborg Bachmann_Wien_1971

im Interview und szenischem Fotoportrait_

Julia Gradl, Musikerin, Pädagogin _ Wien _

2023 _ 50.Todesjahr_Ingeborg Bachmann_ Schriftstellerin (25.Juni 1926 Klagenfurt – 17.Oktober 1973 Rom)

Interview und alle Fotos_Romanschauplatz _ Malina_Wien _ Walter Pobaschnig

Walter Pobaschnig, 3_23

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