„Sprachkunst soll erfrischen oder ermüden, erstaunen oder verärgern, überraschen oder langweilen“ Isabella Breier, Schriftstellerin _ Wien 15.1.2023

Liebe Isabella, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Mein Tagesablauf variiert, je nachdem, ob respektive wie viele Wochenstunden ich gerade als Lehrkraft für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache unterrichte, ob ich vor kurzem ein Stipendium bekommen und aufgrund der damit verknüpften finanziellen Förderung weniger anderweitig zu arbeiten und also mehr Zeit und Kraft fürs literarische Tätigsein habe, ob ich etwas (mit Freund*innen oder der Familie) unternehme oder mich eine Weile zum Schreiben zurückziehe, ob ich mich in Wien befinde oder in Südmexiko, ob ich zu Hause bleibe oder umherstrolche oder reise usw.

Isabella Breier, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich hielte es für notwendig, uns schleunigst weltweit in Richtung egalitäre, sozialistisch-demokratische Gesellschaftstransformation zu begeben beziehungsweise zu einer fürsorglichen, bedürfnisgeprägten Strukturierung unseres Zusammenlebens zu finden – eine solche, die Menschen- und Umweltrechte nicht nur artikuliert oder verhandelt, sondern umfassend verwirklicht. (Den Konjunktiv II verwende ich, weil ich lügen würde, wenn ich vorgäbe, derzeit optimistisch zu sein.)

Vor einem Aufbruch werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, dem Theater/Schauspiel, der Kunst an sich zu?

Menschen stehen (je nach sozialen Variablen, sozioökonomischer Situiertheit u.v.m.) vor höchst unterschiedlichen Problemen und Aufbruchszenarien – ob vor Krisenzeiten, währenddessen oder danach. Auch unter jenen Katastrophen, die alle beziehungsweise den humanen Fortbestand unserer besonderen Spezies betreffen, leiden die Ärmeren und Armen, die Unterdrückten und Marginalisierten heftiger. Um’s kompakt auszudrücken: Wesentlich wäre es meines Erachtens, dass – in internationalem Maßstab – ein starkes vernünftiges Bündnis linker antifaschistischer Parteien und Gruppierungen erfolgreich für die Überwindung der kapitalistischen Wirtschafts- und Sozial- als brutale Kreaturen- und Naturausbeutungsordnung kämpft, d.h. für eine menschenwürdige Gesellschaft als eine der sozialen Gleichheit, in der alle Individuen mit ihren jeweiligen Gemeinsamkeiten und Differenzen ein bestmöglichst gutes Leben führen können sollen und die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt beziehungsweise des Planeten (als Existenzraum für uns und alle anderen Tiere und Pflanzen) verantwortungsvoll vollzogen werden.

Bezüglich der Rede von der „Kunst an sich“: Diese ist eine bedeutungsgeladene bis schwärmerische Begrifflichkeit, der sehr komplexe Wirklichkeiten gegenüberstehen. Möchte man auf die Frage, welche Rolle der Literatur in einem bestimmten Zeitraum (als einer vergangenen oder präsenten Etappe einer kulturellen sowie wirtschafts- und soziopolitischen Konstellation) de facto zukommt, ernsthaft sinn- bzw. gehaltvoll replizieren, braucht es notgedrungen eine (literatur)soziologische Analyse respektive fundierte empirische Untersuchungen. (Eine solche Bestandsaufnahme von Präformiertheiten, Korrelationen, Rückkopplungen können KünstlerInnen oder SchriftstellerInnen – in ihrer Position als ebensolche, mit jenen Mitteln oder Instrumentarien – in keinster Weise leisten. Das gilt für sämtliche selbst- und fremdernannte Intellektuelle, die sich nicht an Grundsätzen einer sachlich versierten, konsistenten und nachvollziehbaren Argumentationsführung orientieren (wollen). Ohne irgendetwas genauer erforscht oder durchleuchtet oder sich systematisch ein Mindestlevel an (zu belegenden) Kenntnissen erarbeitet zu haben, kann man maximal sagen oder schreiben, was man so meint, was man erlebt, hört, diskutiert, querliest und vor sich hin oder her sinniert. Mit etwas Glück palavert man originell dahin, und bestenfalls bietet man anregende Denkimpulse. (Genau deswegen nerven mich nicht wenige Essays oder Kommentare gewisser (vor allem prominenter) Kunstschaffender oder Seitenblicke-Sweethearts oder jenseits jeder Fachkompetenz in die Gunst oder Ungunst der Stunde hinein spekulierender Philosophierender zu Themen, von denen sie manchmal (allem Anschein nach) nicht mehr verstehen als ich oder meine (ebenso sachfernen, allerdings weder künstlerisch oder philosophisch tätigen noch prominenten) Nachbarn, deren (nicht geschriebene) Artikel oder Statements nicht veröffentlicht werden würden.))

Um auf die Frage, welche Rolle der Literatur (meiner Meinung (als Privatperson, Autorin und ehemaliger Germanistikstudentin) oder meinem Wunschtraum nach) gegenwärtig zukommen sollte oder könnte, eine (höchstpersönliche und provisorische) Antwort zu formulieren, die natürlich – über die unter spezifischen Lebensbedingungen entwickelte Leidenschaft für Kunst und die auch nicht vom Himmel gefallene „(Hass-)Liebe zur Sprache“ etc. hinaus – mit meiner politischen Einstellung zu tun hat: Vielleicht vermag sie – zusätzlich zur Ermunterung zum Genuss von Metrik und Musikalität, zur Vermittlung von Freude an der Sinnlichkeit und an der Schönheit syntaktischer, rhythmischer und lautlicher Sphären oder mannigfaltig vitalisierter Imaginationen, zur Inspiration als Intensivierung eines Lebendigkeitsgefühls oder einer beseelten Stimmung, zur Aktivierung oder Steigerung von Affekten – dazu beizutragen, Zusammenhänge besser zu begreifen beziehungsweise darauf zu verweisen, dass man in der vermeintlichen Selbstverständlichkeit, in der „wir“ „uns“ als Zeitgenoss*innen bewegen, vieles überhaupt nicht oder völlig falsch versteht. Ich schätze Texte, die veranschaulichen oder zumindest anklingen lassen, wie mehrschichtig und diffizil verwoben sich die verschiedensten Verhältnisse oder Aspekte unserer Welt als „Erscheinungs- oder Handlungsraum“ (Arendt) bzw. Umstände wie Facetten unseres je individuell erfahrenen lust- und schmerzvollen Existierens und Probierens und Scheiterns gestalten. (Das muss weder in realistischem noch naturalistischem Stil geschehen. Es braucht dafür nicht unbedingt einen Brechtschen Erklärungsimpetus oder ambitionierte Parabelhaftigkeit. Surrealistische bis dadaistische Schöpfungen, prima facie völlig apolitische Nabelbeschau-Prosa oder die rigoroseste L’art pour l’art können – oft über ihre Intention hinaus, an der Urheberin oder dem Urheber vorbei, kon-/trans-/intertextuell betrachtet – Allgemeines induzieren oder illustrieren (lassen). Zwischen den Zeilen bezeugen auch scheinbar zeitraumlose Sprachopera den Zeitraum, in dem sie entstanden.) Zwar bin ich aufs äußerste zurückhaltend damit, zu behaupten: A und b müsse ein literarischer Text prinzipiell, und c und d dürfe er keinesfalls. Aber mir persönlich gefällt es, wenn sich Literatur mit den Bedingungsgeflechten, in oder mit deren Schlingen wir Menschen leben oder leben könnten, gelebt haben oder gelebt haben könnten, konfrontiert – in welchem Modus auch immer. Kurzum: Innerhalb der Grenzen dessen, was (Sprach-)Kunst kann (ohne aufzuhören, (nur) (Sprach-)Kunst zu sein), ist sie potentiell zu vielerlei in der Lage und soll sowohl desillusionieren als auch Illusionen verschaffen, etwas Punkt für Punkt klären und verrückt vermischen oder nur zu Entspannung, bloßer Unterhaltung und Zerstreuung dienen, demgegenüber auch Engels- oder Eselsgeduld, emotionale wie kognitive Mühe, anstrengenden oder verdrießlichen Lektüreeinsatz einfordern (ich bin keine Anhängerin der auch von zahlreichen RezensentInnen (wie ein göttliches Gebot) gepredigten Leichtigkeitsdirektive), erfrischen oder ermüden, erstaunen oder verärgern, überraschen oder langweilen, zu eutopischen Phantasien animieren und vor dystopischen Zuständen oder erschreckenden Gegebenheiten warnen oder sogar Trost spenden, Hoffnung wecken oder einen Optimismus heraufbeschwören dürfen, der einer „objektiveren Begutachtung“ des realen Stands oder Laufs der Dinge eventuell oder sicher nicht standhalten würde.

(Amen. 😊 Die gestellte Frage ist sehr interessant, wirft weitere Fragen auf. Deswegen zieht sich diese Erläuterung, warum ich mir mit einer knappen Antwort schwertue, extra in die Länge.)

Was liest Du derzeit?

Mehreres gleichzeitig. Letzte Nacht las ich die letzte Seite des Romans Ghana must go. Deswegen bin ich noch ganz im Bann von Taiye Selasis Erzähluniversum. Und mit folgendem Band wurde ich vorgestern fertig: Strehle, Samuel: Kollektivierung der Träume. Eine Kulturtheorie der Bilder. Weilerswist 2019

Einige Tage vor Weihnachten begann ich außerdem mit Infinite Jest von David Foster Wallace. Vor circa zehn Jahren las ich’s in der deutschen Übersetzung (Unendlicher Spaß), und nun genieße ich das Original.

Bei folgenden Büchern stecke ich momentan ebenso mittendrin:

  • Illades, Carlos: El marxismo en México. Una historia intelectual. Méx. 2018
  • Cassirer, Ernst: Lectures on Ancient Philosophy (Hg.: Borbone, G. (Philosophische Bibliothek)). Hamburg 2022
  • Jaeggi, Rahel u. Loick, Daniel (Hg.): Nach Marx: Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin 2013

Und mehrmals wöchentlich tagträume ich mich ein wenig durch das Œuvre Rajzel Zychlinskis: di lider 1928-1991. Die Gedichte. Jiddisch und deutsch (Hg. u. übertr. von Witt, Hubert). Frankfurt a.M. 2003

Alle diese Werke möchte ich weiterempfehlen!

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Erstens eine (halbwegs guten Gewissens aus dem Zusammenhang gerissene) Zitatstelle von Hannah Arendt – aus dem zuerst 1971 in „The New York Review of Books“ erschienenen Aufsatz „Lying in Politics: Reflections on The Pentagon Papers“ („Die Lüge in der Politik“):

„Tatsachen bedürfen glaubwürdiger Zeugen, um festgestellt und festgehalten zu werden, um einen sicheren Wohnort im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu finden.“

Und zweitens die (hier von K.-P. Wedekind übersetzte) Anfangsstrophe des Gedichts „Το νοήμα της απλότητας“ („Der Sinn der Einfachheit“) von Jannis Ritsos:

„Hinter einfachen Dingen verstecke ich mich, damit ihr mich findet.

Findet ihr mich nicht, findet ihr die Dinge,

ihr berührt, was meine Hand berührt hat,

die Spuren unserer Hände treffen sich.“

Vielen Dank für das Interview liebe Isabella, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Isabella Breier, Schriftstellerin

Zur Person_Isabella Breier

*1976 in Gmünd/NÖ; aufgewachsen in Wels; Studium der Philosophie und Germanistik in Wien; 2000: Geburt ihrer Tochter Hannah Medea; 2005: Dissertation zu Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ und Wittgensteins „Sprachspielbetrachtungen“; seit damals u.a. Lehrkraft für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache; regelmäßige Aufenthalte in Südmexiko; zahlreiche Veröffentlichungen (Lyrik, Prosa) in Literaturzeitschriften und Anthologien

http://www.literaturport.de/Isabella.Breier/

literarische Publikationen:

  • 101 Käfer in der Schachtel. Ihr Verschwinden in Bildern. Klagenfurt: Kitab Verlag 2007
  • Interferenzen. Erzählungen, Kurz- und Kürzestgeschichten. Klagenfurt: Kitab Verlag 2008
  • Prokne & Co. Eine Groteske. Klagenfurt: Kitab Verlag 2013
  • Allerseelenauftrieb. Ein Klartraumprotokoll. Wels: Mitter Verl. 2013
  • Anfang von etwas (Reihe: Neue Lyrik aus Österreich; Hg.: Jensen, Treudl, Vyoral; Band 8). Horn: Verlag Berger 2014
  • DesertLotusNest. Anmerkungen zur „Poetik des Phönix“. Weitra: Bibliothek der Provinz. 2017
  • mir kommt die Hand der Stunde auf meiner Brust so ungelegen, dass ich im Lauf der Dinge beinah mein Herz verwechsle (Lyrikband in zwölf Kapiteln). Wien: fabrik.transit 2019

Aktuelle Veröffentlichung:

Grapefruits oder Vom großen Ganzen (Groteske). Wien: fabrik.transit 2022/2023

https://www.fabriktransit.net/grapefruits.html

Foto_privat.

27.12.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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