„Ein Stempel ist keine Waffe, aber er kann auch töten“ Viviane de Santana, Schriftstellerin _ Berlin 5.1.2022

Liebe Viviane, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ganz normal, ich arbeite, lese und schreibe, besuche Freunde und kulturelle Veranstaltungen. Und ich fühle mich privilegiert, ein solchen Alltag zu haben.

Viviane de Santana, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Ich glaube, dass Rücksichtnahme, Freundschaft und das Bewusstsein, dass das Leben ein Wandel ist, die wichtigsten Dinge sind. Und wir müssen endlich begreifen, dass wir alle zu einer gemeinsamen Gesellschaft gehören, trotz der Entfernung und Unterschiede. Diese Zeit sollte endlich die Zeit sein, in der Kriege aus der Geschichte der Menschheit ausgelöscht wären. Die Zeit, in der der Mensch diese Art der Konfliktlösung, die im Grunde keine Lösung ist, bereits überwunden hätte. Es gibt keinen Krieg, der nicht ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist!

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Im Laufe der Geschichte sind wir oft mit Ausbrüchen und Neuanfängen konfrontiert worden. Die Menschen neigen dazu, sich ernsthaft mit Problemen auseinanderzusetzen, wenn die Situation bereits akut ist. Für den Einzelnen bedeutet dies, dass er sich neu orientieren und anpassen muss. Der Mensch ist aber sehr anpassungsfähig. Für Menschen, die sich für Gerechtigkeit und die Umwelt einsetzen, gibt es keinen Neuanfang, es ist nämlich ein ständiger Kampf. Heutzutage, und seit jeher, ist es wesentlich einander zuzuhören, und objektiv und ehrlich zu argumentieren.

Die Rolle der Literatur in der Gesellschaft besteht gerade darin, andere Sichtweisen aufzuzeigen und einen tieferen Einblick in menschliche Konflikte zu geben, die Möglichkeit, sich in die Lage des anderen zu versetzen. Durch Literatur können wir einen neuen Blickwinkel auf die Realität gewinnen und kritisches Denken entwickeln.

Kunst hat die Kraft, Sensibilität für die Wahrnehmung neuer Perspektiven zu schaffen. Außerdem zeigt uns die Kunst die Schönheit der Ästhetik, die zur Entspannung führt.

Was liest Du derzeit?

Ich habe die Angewohnheit, mehrere Bücher gleichzeitig zu lesen.

The Falling Sky von dem Yanomami Davi Kopenawa unterscheidet sich sehr von dem, was ich bisher gelesen habe, denn es zeigt eine vollige neue Sicht der Welt, eine neue Philosophie. Er beschreibt seine Erfahrung, Schamane zu werden, den ersten Kontakt mit nicht-indigenen Menschen, mit den Goldgräbern und der Gier der Industriegesellschaften, und seine Eindrücke von Europa auf seiner ersten Reise außerhalb Brasiliens. Für mich offenbart die Narrative den Ursprung unserer spirituellen Beziehung zur Natur, die die Großstadtbewohnern vor langer Zeit verloren haben. Insbesondere die Europäer, die einen eurozentrischen und verschwenderischen Lebensstil pflegen. Eine Form von Verschwendung, die absurderweise immer noch als Reichtum angesehen wird!

Notes on Nationalism, von George Orwell, ist eine Pflichtlektüre für alle, die das Thema ernsthaft und rational diskutieren wollen. Das Buch ist kurz und präzise!

Und ich lese auch Schutzzone von Nora Bossong, eine Schriftstellerin, die ich sehr schätze!

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Eine Notiz von mir:  Ein Falkenweibchen ist in zweiundvierzig Tagen mit 230 km/h von Südafrika nach Finnland geflogen, hat dabei zehntausend Kilometer zurückgelegt und ist einer geraden Linie gefolgt. Die Natur ist erstaunlich! Der Mensch ist ebenso in der Lage, mehrere Kilometer zurückzulegen, ist ebenso bewundernswert und Teil der Natur. Eine Art Natur, die einen Pass verlangt. Der Pass wurde als Barriere, als Kontrolle geschafft, und er wurde Teil der menschlichen Natur, genau wie die Konflikte, Grenzen, Nationalität und Kriege. Es ist ein Dokument, das rettet oder verurteilt. Und selbst wenn eine Familie mit Kindern dahintersteckt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, einen Ablehnung-Stempel zu erhalten. Ein Stempel ist keine Waffe, aber er kann auch töten. Meines Erachtens sollte es bei der Diskussion über Migration nicht in erster Linie darum gehen, ob ein Land die Voraussetzungen für die Aufnahme „aller“ hat oder nicht, sondern darum, wie sichergestellt werden kann, dass eine große Zahl von Menschen nicht ihre Familien und ihre Heimat verlassen muss, um in einem anderen Land zu leben. Es geht um die Gründe, die Menschen dazu bringen, sich bedroht zu fühlen und riesige Entfernungen zurückzulegen, Wüsten, Meere und Wälder zu durchqueren, um anderswo auf dem Planeten ein besseres Leben zu suchen, und dafür bestraft zu werden.

Vielen Dank für das Interview liebe Viviane, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Viviane de Santana, Schriftstellerin

Foto_privat


23.11.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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