Liebe Melitta, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Morgens um kurz nach sieben weckt mich das Rattern und Quietschen der Bagger von der Abrissbaustelle des Holstenareals. Seit über einem Jahr geht das so. Bis auf zwei Pausen tagsüber begleitet mich wochentags der Lärm bis 18 Uhr. Manchmal bebt unser Haus, wenn wieder riesige Metallpfeiler oder Betonplatten zu Boden stürzen. Zum Glück kann ich an manchen Tagen ich außer Haus arbeiten. Dennoch habe ich oft morgens Zeit, um Radio zu hören, Morgenseiten zu schreiben. Von da an, sehen die Tage unterschiedlich aus.
Lesen, wenn ich nicht erwerbsmäßig arbeite, oder schreiben, wenn ich genug Kraft habe. In den letzten Monaten fielen mir das Schreiben oder Recherchieren allerdings schwer, ich war wie paralysiert von dem erneuten Krieg in der Ukraine. Vor dem 24. Februar habe ich mich mit den Ereignissen in den deutschen Kolonien am Schwarzen Meer um 1942 beschäftigt. Das sollte ein Zeitstrang in meinem Romanprojekt werden, doch seit Beginn des russischen Angriffskrieges war es undenkbar geworden, so weiterzumachen wie bisher.
Im Moment widme ich mich nicht so sehr dem Roman, sondern schreibe mir die Angst von der Seele, in dem ich mir Wege ausdenke, wie man einen Diktator loswird.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich kann nicht für alle sprechen, aber was für mich wichtig ist: Sich nicht von Ängsten oder Ohnmachtsgefühlen überwältigen lassen. Den Kopf über Wasser zu behalten, oder immer wieder an die Oberfläche zu schwimmen.
Auch wenn es schwer fällt, ist es jetzt wichtig, sich die Zukunft nicht nehmen zu lassen. Den Gedanken an einen möglichen guten Ausgang beizubehalten.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Anders als noch vor drei, vor zwei Jahren, fällt es mir schwer, an einen Neubeginn zu glauben und an Kunst und Literatur als verändernde Kräfte. Die Zeichen stehen so sehr auf ein fatalistisches: es war schon immer so, es wird sich nie was ändern, dass ich nah dran bin, zu verzweifeln. Literatur und Kunst als Spiegel der Zeit? Wohl eher als eine Ablenkung davon. Was gerade passiert, wird erst aus der zeitlichen Distanz klar werden. Jetzt sind wir mittendrin im Strudel und da sind existenzielle Dinge vorrangig. Mein eigenes Schreiben wirkt kopflos, richtungslos, flimmernd. Kann es Antworten geben?
Wir streamen uns in Welten, die mit unserer nichts zu tun haben. Ziehen uns Marveluniversen und Truecrime-Serien rein, hyperbrutal oder phantastisch, aber Hauptsache raus aus dem Hier und Jetzt.
Eine positive Entwicklung, trotz all dem Schrecklichen: der kulturelle Blick hat sich nach Osteuropa ausgeweitet. Waren all diese Länder auf der literarischen Landkarte des Westens immer bloß weiße Flecken gewesen, jetzt bekommen sie Aufmerksamkeit, werden die Stimmen osteuropäischer Autorinnen und Autoren endlich relevant. Osteuropa wird in Sachen Literatur nicht mehr als das rückständige Hinterland betrachtet und wir sind erstaunt, was für schlaue Leute da leben. Die können schreiben. Wow!
Aber musste es erst zu einem Krieg in der Nachbarschaft kommen, damit das passiert? Damit deutlich wird, welche Arroganz und Ignoranz den östlichen Nachbarn gegenüber geherrscht hat. Jahrzehntelang.
Was liest Du derzeit?
Als die Pandemie angefangen hat, konnte ich mich nicht lang genug konzentrieren, um überhaupt ein Buch zu lesen. Dann der Angriff auf die Ukraine. So langsam geht es wieder. Derzeit entdecke ich immer neue Autorinnen und Autoren, die sich mit Themen befassen, an denen ich mich auch abarbeite, wie der Auswirkung von Traumata oder dem Verlust der eigenen kulturellen Identität.
Ich lese Hiromi Gotos „Chor der Pilze“, das bereits 1995 erschienen ist oder Helga Büsters „Luzis Erbe“ von 2020, das zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat, oder Abdulrazak Gurnahs „Nachleben“, der übrigens ein großartiger Erzähler ist.
Aber auch tiefsinnige SF wie „Piranesi“ von Susanna Clarke, wie gesagt, Ablenkung und sich in andere Welten begeben, das ist was ich viel mache.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Es geht, wie ich meine, nicht nur darum, sich zu erinnern.
Sich zu erinnern ist viel zu wenig.
Man muss sich erinnern und verstehen.“
Arsenij Roginskij, Mitbegründer von MEMORIAL
Vielen Dank für das Interview liebe Melitta, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
Ich danke dir, dass ich Teil dieser illustren Runde sein durfte!

5 Fragen an Künstler*innen:
Melitta L. Roth, Schriftstellerin und Bloggerin
https://scherbensammeln.wordpress.com/
Fotos_privat
13.11.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.