„Kunst braucht Zeit“ Achim Engstler, Schriftsteller _ Hannover 17.11.2022

Lieber Achim, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Der öffentliche Teil meines Tagesablaufs ist uninteressant, der interessante ist intim.

Allgemein kann ich aber sagen, dass ich zunehmend versuche, die Schönheit des Analogen wiederzuentdecken. Besser gesagt, der analogen Dinge. Das sind Dinge, die uns nicht von selbst geben, was wir wollen, sondern Absicht und Anstrengung erfordern. Die Gitarre beispielsweise tut von sich aus nichts. Sie steht da und ist still. Möchte ich Musik haben, muss ich sie spielen. Um sie so spielen zu können, wie ich mir das vorstelle, muss ich üben. Wie ich spiele, hängt allein von mir ab. Für den Topf gilt dasselbe. Der gibt mir nicht auf Knopfdruck oder durch eine Wischbewegung Essen. Ich muss kochen. Es mag seltsam klingen, aber mir gefällt das. Einfach mal wieder selbst etwas tun, mit unbestimmtem Ergebnis. Man muss ja nicht gleich einen Roman schreiben.

Achim Engstler, Schriftsteller 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Unterscheidungen. Realismus. Bescheidenheit, was die Relevanz der eigenen Gedanken und Gefühle angeht. Offenheit für all das, was von meiner oder deiner Auffassung abweicht. Vor allem aber: Nachdenklichkeit. Die wichtigen Geschehnisse sind so vielschichtig, dass man sie nur verfehlen kann, wenn man gleich eine Meinung herausschreit. Lieber mal warten, sich Zeit nehmen, abwägen und den Mut haben zuzugeben, dass man sich über dieses oder jenes auch bei bestem Willen kein klares Urteil bilden kann. Leben ist Grauzone. Handeln müssen wir trotzdem, sollten das aber im Bewusstsein unserer Fehlbarkeit tun. Ob die Welt dadurch besser werden kann, weiß ich nicht. Menschlicher auf jeden Fall.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Um mich zu wiederholen: Nachdenklichkeit, in erster Linie. Die Kunst ist, neben der Philosophie, deren Hüter. Beide sind langsame Zugänge zur Welt. Hegel hat diesen Aspekt für die Philosophie unübertrefflich formuliert: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1820, Vorrede) In ihrer grellen Präsenz verwirrt die Gegenwart. Wer erkennen will, muss einen Schritt zurücktreten, abwarten, bis die Unruhe sich geklärt hat, die Umrisse deutlicher geworden sind. Für die Kunst gilt meines Erachtens dasselbe. Sie braucht Zeit, und Zeit sollte sie sich lassen, um die andere Gegenwart gestalten zu können, die ihr Metier ist.  

Was liest Du derzeit?

Thomas Bernhard, „Holzfällen“; Čechov, „Die Insel Sachalin“; Yasmina Reza, „Serge“.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Zitat: „True to the end.“ (Lebensmotto des Philosophen David Hume)

Textimpuls: „Und ich muss daran denken, wie es war, als ich als kleines Kind nur die natürlichen Zahlen kannte, zum Beispiel die Drei […] und die Fünf wie die Finger an jeder Hand und natürlich die Acht, die schöne Acht. Aber dann, irgendwann, ist mir klargeworden, dass es auch negative Zahlen gibt, die weniger darstellen als nichts, und die Brüche, die eher Verhältnisse von Zahlen sind, und irrationale Zahlen mit ihren nicht enden wollenden Nachkommastellen. Ich hab geweint und geweint, doch das hat nichts genützt, es ist nie wieder so geworden wie vorher. Man kann vielleicht die Regeln und Axiome lernen, aber man kann einfach nicht so tun, als gäbe es kein Pi, keine Wurzel aus Zwei und keine Unendlichkeit. So sehr man es sich auch wünscht.“ (Nikola Huppertz, Schön wie die Acht. München: Tulipan 2021, p. 62)

Vielen Dank für das Interview lieber Achim, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Achim Engstler, Schriftsteller 

Foto_privat.

4.9.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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