Liebe Carola, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Seit Mitte März nach meiner Ankunft in Wien nach der Flucht aus Odessa ist mein Tageslauf mittlerweile ausschließlich auf ‚‘Wien tanzt mit Ukraine‘ ausgerichtet‘
Aufwachen um 6 Uhr oder früher, sofort Griff nach dem Handy : Nachrichten. Bin hellwach, liege aber noch in den Federn, deren Wärme ich sehr bewusst genieße. Irgendwann zw. 7 und 8 große Kanne grüner Tee und eine Stunde Tanztraining. Modernes Martha Graham Training, mit Anteilen von klassisch. Erst langsam und dann ziemlich gründlich, Spagat, weicher Rücken pusch ups, auch manchmal an die Schmerzgrenze. Aber immer ist es anders. Manchmal muss ich mich quälen, schaue alle fünf Minuten ob die Stunde nicht bald vorbei ist, manchmal genieße ich jede Minute. In Odessa hatte ich einen großen Spiegel, oft entdecke ich neue Bewegungen, wenn ich gut drauf bin. Aber Training passiert 365 Mal im Jahr. Dabei ist das nur Minimum. Wenn ich auftrete, kommt ein zweites Training abends dazu, auch eine Stunde, während der Nachrichten….normalerweise in Odessa morgens 40 Minuten Rennen ans Meer, 30 Min. schwimmen mit Hund vor dem Training und je nachdem zusätzlich Proben und Unterricht. Mit dem Fahrrad, wo immer ich mich hinbewegen muss. So komme ich auf 20 Stunden Training pro Woche, hier in Wien leider weniger,
Frühstück: große Portion Musli, Bananen etc. griechisches Jogurt, so sahnig wies nur geht 10% Fett.
Dann je nachdem telefonieren viel am Computer, Texte, viele viele e mails, Anrufe, Treffen. Wir bekommen zwar Unterstützung von Wien und Bund, aber auch das fiel nicht vom Himmel. Die gesamte Logistik, Theatersuche, Administration bis in kleinste Detail muss ich machen. Träume von den Zeiten wo ich nur Künstlerin sein kann. Ab und zu passiert das, werde ich zu Projekten eingeladen, oder Film: das ist dann eine völlig andere Daseinsform. Aber je ungewöhnlicher ein Projekt, je mehr muss ich alles selber an Land ziehen.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Meinen wunderbaren bunten Haufen zusammen-, das heißt bei Stimmung zu halten. Jeder muss Freude haben, sich selbst sein zu dürfen. Daher gehen die Proben über einen langen Zeitraum – denn das Stück entsteht aus der Gruppe. Wir sind ja gemischt Amateure und Profis, jeder bringt die eigene Farbe hinein. Das Vereinende ist das gemeinsame Warm up, wo die Leitung ständig routiniert und jeder Führende zur Musik improvisiert, und alle nachmachen. Hier geht’s weniger um Technik als um Ausdruck und spontane Umsetzung der Musik. Unsere älteste Teilnehmerin ist 79 unsere jüngste 9. Es herrscht vollkommene Gleichberechtigung und es wird viel gelacht. Für mich ist die Aufrechterhaltung dieser Leichtigkeit zwischen uns das oberste Gesetz.
Die Musiker sind alle Profis und nehmen erst kürzlich in voller Anzahl an den Proben teil. . Wir sind im Endspurt – und wenn alle Musiker in dieser warm up session Kommunikation zwischen uns allen herstellen, geht die Post ab. Afrikanische Trommel, Marimba, Saxophon, Gitarre, Harmonika – eine sagenhafte Energie, die uns mit einer unerwarteten Elektrizität plötzlich überfällt und mit so etwas wie einer Riesenvorfreude erfüllt. Es hapert an allen Ecken noch, einige Szenen sind noch unausgegoren, aber in so einem Moment wissen wir – wir kriegen es hin – es wird gut, vielleicht so richtig gut.

WIEN TANZT MIT UKRAINE
TheaterArche _ Wien
11/12/13 November 2022
19.30 Uhr
Abends dann vor dem Einschlafen höre ich ukrainische Kriegsberichte und Kommentare – das ist ein Muss – kann kein Auge zudrücken, ohne meine Informationsspeicher aufzufüllen. Man bekommt die ungeheure Energie der Ukrainer mit, wie sie ihr Land verteidigen, wie heroisch und professionell sie sich hinein werfen. Habe mittlerweile ein völlig neues Verständnis zum sogenannten Heldentum. Normalerweise kann ich Helden nicht leiden. Aber ohne die Bereitschaft, das eigene Leben zu verlieren für die Verteidigung ihrer Heimat, wären die Ukrainer schon weg vom Fenster. Ich zittere mit ihnen und will meine Energie auch hineinwerfen-eben mit diesem Projekt.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei dem Tanz, der Kunst an sich zu?
Ja, wir erleben gerade einen historischen Moment und haben das herrliche Privileg, ihn mitgestalten zu können. Werte bröckeln, neue, konstruktive scheinen durch. Bis jetzt war das Vorrangige die Erderwärmung. jetzt kommt der Krieg dazu. Er hat sich über Jahre abgezeichnet, aber dass er mit so einer Grenzenlosigkeit, so einer bewussten Zerstörung lang erarbeiteter Tabus hereinbrechen sollte, war glaube ich niemanden klar. Aber auch er, so wie die Erderwärmung ist das Endprodukt vieler verpasster Wahrnehmungen und nicht realisierter Verantwortlichkeiten.
Stichwort Krieg: wieso konnten wir nach dem kalten Krieg nicht erkennen, dass wir ein NEUES Friedenssystem erbauen müssten MIT den Russen statt sich auf die Brust zu schlagen über den Sieg über sie. Ich rede von den Amerikanern. Aber das ist Vergangenheit. Jetzt muss Putin mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gestoppt werden. Er will das prekäre Regelwerk der Nachkriegsordnung zerstören. Er hat zu viele Jahre absolute Macht gespürt und ist nicht angehalten worden. Er darf unter keinen Umständen Nutzen aus diesem Krieg ziehen. Es muss Gesetzeshaftigkeit die Oberhand behalten. Die Ukrainer brauchen die Leopold und Haimars und wir hier dürfen nicht murren, wenn wir die Zimmertemperatur auf 18 oder 16 drehen. Ich stricke fleißig Pulswärmer für alle meine Freunde – geniales Oma Rezept aus den Jahren der kalten Winter: macht den ganzen Körper warm.
Soweit zur Eindämmung einer dieser beiden Krisen – aber wir müssen ja auch die Dynamiken verändern, die dazu führten. Co2 muss runter, verstehen wir ja, und trotzdem erfindet jemand SUVs und die werden glatt gekauft als Stadtwagen. Die dominierenden Wertigkeiten sind immer noch zu materialismuslastig, obwohl das allgemeine Bewusstsein doch wächst, dass wir alle in einer einzigen prekären Welt leben und sie bewahren müssen. Solange zu viele Menschen noch meinen: „Ich bin weil ich viel habe“, wird’s schwierig mit dem Co2. Klar, der Mensch will wachsen, ein urmenschliches Bedürfnis, nur müssen wir das Wachstum mehr und mehr ins Ideelle rücken – aus der Entwicklung unserer Fähigkeiten Befriedigung ziehen, nicht aus dem erweiterten Besitz. Fromm brachte es auf den Punkt „Sein oder Haben“ Die jetzt immer größer werdende Frage…
Was ist dann Sein? Wir müssen erst einmal wir selber werden. Darum kommen wir nicht drum rum. Und durch erhöhten Konsum und Sichtbarmachung unseres Status gibt’s in dem Gebiet keine wirklich befriedigenden Ergebnisse. Und schon sind wir bei der Kunst. Sie ermöglicht Ausdruck, das Hochholen des Inneren ins Äußere, die Kommunikation mit der Welt – der unmittel- und der mittelbaren, samt Kosmos. Die Kunst ist eines der effektivsten Vehikel, unsere Eigenart zu realisieren und damit diesem Urbedürfnis nach SELBST Sein Raum zu geben, auf friedliche Art und Weise.
Und zum Tanz: In den Projekten, von denen ich gerade eins davon leite, kommen alle künstlerischen Prozesse ideal in Einklang: der des Selbstausdruckes sowie der der Wahrnehmung und des Respekts für den Selbstausdruck des anderen– es werden Treue und Mut zu sich geschult und gleichzeitig ein großer Sozialisierungsschub bewirkt. Hat alles auch etwas Therapeutisches wegen all dieser Aspekte bin ich der Überzeugung, dass die Gesellschaft der Entfaltung der Kunst viel mehr Bedeutung beimessen muss – sie hat höchste politische Bedeutung. Nur ein Gedanke: Wenn Hitler damals von der Wiener Kunstakademie wegen seiner Malereien nicht abgelehnt worden wäre, hätte es keinen 2.Weltkrieg gegeben. Ebenso stell ich mir die Frage: hätte Putin, der kleinwüchsige Vova, eine andere Kindheit genossen als die, in den Petersburgen Hinterhöfen, wo er bald merkte, dass man ihn erst dann wahrnahm, wenn er mit rücksichtslosen Strassenkampfqualitäten brillierte….. dann ..
Gut, da haben wir eine Menge anderer Aspekte, die diesen Krieg ermöglichten. Will sagen, dass noch vor dem Urbedürfnis zu wachsen, wir Menschen geliebt und wahrgenommen werden wollen. Und dass eine Frustration auf der Ebene verdammt viel Unglück bewirken kann, nicht nur im Falle von Hitler und Putin. Aber vor allem will ich sagen, dass die Gesellschaft Kunst wie die Luft zum Atmen braucht weil die Kunst dem Menschen eine Möglichkeit bietet, sich nicht nur aus seinem Tiefsten mitzuteilen, sich zu verfeinern, die Welt damit zu bereichern, die Wertigkeiten ins Ideelle rückt, sondern sie auch weniger gefährlich macht.
Was liest Du derzeit?
Hab leider fast keinen Platz im Hirn für den Konsum von interessanten Gedanken, so sehr muss ich den Platz dort leer halten für den Inhalt des Projektes. Kann nicht einmal mein geliebtes ZEIT Abonnement in meinem Computer lesen. Sehr frustrierend. ABER habe mir Tanja Maljartschuk: Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur gekauft und auch etwas reingelugt!
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Primer ser hombre, segundo poeta Atahualpa Yupanqui
(frei übersetzt: erst Mensch werden, dann Künstler oder sonst was sein).
ps ist ein bisschen viel geworden, .sorry. Aber Ihre Fragen trafen so genau in meinen schwarzen Punkt

Vielen Dank für das Interview liebe Carola, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Tanz- Kunstprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Carola von Herder, Regisseurin u. Choreographin _ Odessa/Wien
Zur Person Carola von Herder:
In München geboren.
Schulbildung in Deutschland,Amerika und Frankreich(einjähriges Stipendium in Amerika mit ASSIST, Abschluss Baccalaureat Franco-Almand in Paris).
Tanzausbildung : eine volle klassische sowohl als moderne Tanzausbildung (Ballett Akademie München, Martha Graham School New York, LCDT London-the London Contemporary Dance Theatre).
Universitätsausbildung:Erstes Studium an der LMU (Uni München) und London University, BA in Geschichte und Philosophie. Kürzlich zweites Studium: BA Slavistik LMU.
Sie spricht fünf Sprachen.
Sie tanzte und choreographierte in England, Deutschland, Frankreich, Spanien und der Ukraine und choreographierte über zwei Dutzend abendfüllende Aufführungen. Sie arbeitete als Tänzerin und Choreographin, davon über 10 Jahre in England (London und Lancashire) und fast 10 Jahre in Odessa am schwarzen Meer.
Unter anderem erhielt sie die Auszeichnung ‘Pick of the Fringe’ für ihre Choreographie und Darstellung des Tanztheaters ‘A Dance for Anne Frank’ (Link zu Kritiken) als beste Tanzperformance des Edinburgh Festivals, dem größten Theater Festival der Welt. Gründete die Dance Companie AVIS DANCE.
Tanz ohne Grenzen e.V.
Alle Fotos_Carola von Herder
Aktuelles Tanzprojekt in Wien:
Tanztheater _ WIEN TANZT MIT UKRAINE _Theater Arche
Termine: 11/12/13 November 2022 _19.30 Uhr
WIEN TANZT MIT UKRAINE – Kooperation

4.11.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.