„Ja, lesen! Jeden Tag und zu jeder Tageszeit“ Undine Materni, Schriftstellerin _ Dresden 22.10.2022

Liebe Undine, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Jetzt könnte ich ja die Mär von der Dichterin im Elfenbeintürmchen erzählen, die den ganzen Tag wundersame Dinge sieht und dann in Verse gießt … Aber so ist es nicht, ich schreibe meist, wenn der Kessel voll ist, also, wenn ein Gedicht vorbei kommt, das ausgerechnet mich ausgesucht hat. Was ich sagen will: Jeder Tag ist anders. Manchmal gehe ich früh im vier ins Bett, manchmal stehe ich zu dieser Zeit auf. Seit 17 Jahren bin ich freiberufliche Autorin, Lektorin, Kuratorin … Als Lektorin muss ich zuweilen Projekte kurzfristig fertigstellen und auch Manuskripte bearbeiten, deren Inhalt mich weniger interessiert, schließlich muss ich ja auch meine Miete bezahlen und will ab und an ein Buch kaufen.

Ja, lesen! Jeden Tag und zu jeder Tageszeit. Eigentlich lese ich immer, beginne morgens im Bett und ende damit auch abends. Musik! Musik ist auch jeden Tag dabei, ich kann gar nicht ohne. Seit der Pandemie ist ein regionaler Kultursender mein treuer Begleiter und wenn es mal ohne Stimmen gehen muss, dann höre ich Klaviermusik. Die tröstet, wenn ein Manuskript besonders schlimm ist. Ansonsten gehe ich natürlich auch aus, treffe Freunde, lausche Lesungen, stromere durch Ausstellungen. Oder trinke gern Gin Tonic auf dem Balkon mit meinem wunderbaren Sohn Jakob.

Undine Materni, Schriftstellerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Die Frage ist ja: Wer ist hier mit uns gemeint? Wer sind wir? Das hat sich doch gerade in den letzten drei Jahren gezeigt, dass diesbezüglich die Ansichten sehr weit auseinander gehen. Ich glaube, wir sollten jeden Tag beim kleinsten Nenner beginnen, der besteht unter anderem darin, respektvoll miteinander umzugehen, der Bäckersfrau ein Danke über die Theke zu reichen, dem alten Nachbarn Kekse zu schenken (er legt mir dafür Gemüse aus seinem Garten vor die Tür) und auch Dinge ohne unmittelbare Gegenleistung zu tun. Ja, Respekt und … wie soll ich sagen? Auch Demut und Dankbarkeit gegenüber den Dingen und Lebensumständen, die wir hier in Mitteleuropa haben – im Gegensatz zu Menschen, die jeden Tag um Anwesenheit in ihrem Leben kämpfen müssen.

Wir sollten verstehen, dass die Gier und die Maßlosigkeit im Umgang mit den Ressourcen der Erde Katastrophen wie die Pandemie, Hochwasser, Erderwärmung eingebrockt haben. Lange waren diese Dinge weit weg, aber wenn du morgens aufwachst und es riecht hier in Dresden verbrannt, das Fensterbrett ist voller Ruß, weil es in der Sächsischen Schweiz brennt, weil dort irgendwelche Idioten im Wald Shisha geraucht haben, dann bist du mittendrin und fragst dich, ob das Ganze irgendwie noch aufzuhalten ist.

Ja, und bisher waren die Kriege ja auch weit weg, und jetzt mitten in Europa, an Orten, die wir bereist haben und kennen, wie Odessa zum Beispiel. Und dann ist da immer wieder dieser Hass, diese Niederträchtigkeit von Leuten, die glauben, zu kurz gekommen zu sein, die sitzen dann in ihren weichen Sesseln und verfassen niederträchtige Nachrichten, um Schwächere zu beleidigen und zu denunzieren. Hier dürfen wir nicht aufhören, solidarisch zu sein, dem etwas entgegen zu setzen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Wenn Kunst und Literatur authentisch sind, dann ist sie auch lebendig und im besten Fall engagiert. In den letzten drei Jahren hat sich auch gezeigt, wie engagiert und kreativ die Kulturszene sein kann, auch wenn ihr das Wasser am Hals steht. Es wurden neue Formate gefunden, um Kunst und Kultur zu vermitteln und auch Menschen zu erreichen, die vielleicht etwas weiter weg davon waren. So ist beispielsweise während der Pandemie mal ein LKW mit einem Piano auf der Ladefläche nach Berlin Marzahn gefahren und jemand spielte ein paar Stunden für die Bewohner*innen, die nach und nach aus den Häusern kamen und sehr berührt und begeistert waren.

Insofern können wir den Kunstschaffenden vertrauen, dass sie in Bewegung bleiben, ihre Themen finden und diese auch wirkungsvoll vermitteln.

Was liest Du derzeit?

Viel, das kann ich hier nicht alles aufzählen. Was mich kürzlich aber ganz besonders beeindruckt hat, ist das Buch Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror von Grit Lemke.Die Autorin arbeitet auf mitreißende Weise die Biografie ihrer Generation auf. In einem dokumentarischen Roman verschränkt sie virtuos die Stimmen der Kinder von Hoyerswerda zu einer mitreißenden Oral History.

Ja, und dann lese ich natürlich auch Gedichte. Die letzte großartige Entdeckung ist der Berliner Dichter Gabriel Wolkenfeld, er ist einer von den Stillen, feinen klugen Stimmen in dieser lärmenden Welt.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Poesie –

was aber ist Poesie.

Manch wacklige Antwort

ist dieser Frage bereits gefolgt.

Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich halte mich daran fest,

wie an einem rettenden Geländer.

Wisława Szymborska

(übertragen von Karl Dedecius)

Vielen Dank für das Interview liebe Undine, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Undine Materni, Schriftstellerin

https://www.undine-materni.com/

Foto_Anja Schneider

6.9.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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