Liebe Francisca, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Da ich mit der Eule verwandt bin, bricht mein Tag später an … Erst wenn sie über alle Schlafende wacht, kehre ich zum Schreibtisch zurück. Aber nicht immer lassen sich schwebende Sätze auf dem Blatt nieder. An manchen Tagnächten schlafen rebelle Gedanken oder Wortbilder ein und dann tanzen die Finger auf der Tastatur wie katzenfreie Mäuse oder zeichnen seltsame Hieroglyphen. Irgendwann weckt mich das Werfen herausgekloppter Mauerreste in Container. Was für einen guten, ruhigen Morgen, ein Jahr nach der Flut, sage ich mir dann, während ich die Küche wie eine Oase betrete … Ich trinke den Kaffee beim Stehen auf Fenster, die Weinberge winken mir zu …
Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Ich kann nicht pauschal antworten. Da jeder von uns einzigartig ist, hat jeder eine persönliche Hierarchie von Interessen und Zielen, seine Wichtigkeitsskala. Aber es gibt sicherlich die schon allseits bekannten Punkte, die einen gemeinsamen Codex für jetzt und für morgen bilden könnten, falls ein Morgen für alle gewünscht ist. Gemeint sind hier eine grundsätzliche Rückkehr zum Dialog und zum Respekt voneinander, die Rettung des Friedens, der globalen Natur sowie die Unterstützung der sozial Vergessenen, der ihrem harten Schicksal Überlassenen, über alle Differenzen und Trennungsmerkmale hinaus. Die Triage, auf welcher Ebene auch immer, wäre kein ethischer, schuldenfreier Lösungweg. Es mag utopisch klingen, wenn es auf taube Ohren fällt. Oder wenn man darauf wartet, dass der Wandel zum Guten – wie das biblische Manna – vom Himmel fällt …
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Leider merke bzw. spüre ich keinen Aufbruch, denn Aufbruch ist für mich ein positiv geladener Begriff. Neubeginn ja, ein Neubeginn der irrationalen Konfrontationen. Die Taube mit dem Olivenzweig in dem Schnabel ist nur noch ein nostalgisches Symbol geworden. Der kriegerische Geist spuckt Feuer, droht und zerstört, zieht immer mehr Völker und Geschöpfe aller Art in sein Inferno hinein. Hysterie und vergiftete Statements generieren Revolte und existentielle Angst.
Die Kunst, ob Musik, Malerei, Theater, Literatur etc. werden sich wie bisher, in der langen Geschichte ihres Daseins, oder noch intensiver mit diesen in unserem Leben neu eingetretenen Aspekten und Fakten inhaltlich auseinandersetzen, die Kraft im eigenen Wesen suchen, um das Bewusstsein der Kunstfreunde und der Menschen im allgemeinen aufzurütteln, für den Not des Anderen zu sensibilisieren, auch zu trösten und stärken, neue Wege zu zeigen. Dafür werden vielleicht neue, gar nonkonforme, mutige Ausdrucksformen notwendig sein, die eine gerechte Rezeption des Werkes und dessen Wirksamkeit erleichtern. Das Bedürfnis nach Poesie wird bestehen. Dichter werden weiterhin das an sich Unaussprechliche in bedeutungsvolle Formeln übertragen. Dichter werden ihren Texten Arme und Füße oder Flügel wachsen lassen, damit man zwischen den fröhlichen Klängen und Farben die Tränen der Erde und ihre Schreie hört, ihr jetziges Alphabet aus Feuer und Schatten.
Was liest Du derzeit?
Alle sind Relektüren, unterschiedlich begründet: Umberto Eco, „Quasi dasselbe mit anderen Worten“ (Über das Übersetzen), Silvia Plath, „Die Bibel der Träume“ ; Friedrich Nietzsche, „Gedichte“ und die Poeme des französischen Dichters Gérard Blua aus „Funeriales“, Edition Campanile, Nice, 2021, mit dem von mir geschriebenen Vorwort.
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
Ich zitiere aus Nietzsches zeitloses Gedicht: „Gebet in der Morgenröte“ : „Ach, so gebt doch Wahnsinn,/ihr Himmlischen, /Wahnsinn, dass ich endlich/an mich selber glaube!/Gebt Delirien und Zuckungen,/plötzliche Lichter und Finsternisse,/schreckt mich mit Frost und Glut,/wie sie kein Sterblicher noch empfand,/mit Getöse und umgebenden Gestalten,/lasst mich heulen und winseln/und wie ein Tier kriechen:/nur dass ich bei mir selber Glauben finde! „

Vielen Dank für das Interview liebe Francisca, Schriftstellerin, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Francisca Ricinski, Schriftstellerin und Journalistin
Foto_privat
13.8.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.