„Worte sind mein Verband, mein Pflaster“ Eva Christina Zeller, Lyrikerin _ Tübingen/D 16.10.2022

Liebe Eva, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Gerade unterrichte ich creative writing im Hamilton College, Clinton in Upstate New York und lese hier aus meinem gerade erschienenen Roman „Unter dem Teppich“, der in Teilen schon übersetzt wurde und hier „under the rug“ heißt. Es ist schön, in interessierte und aufgeweckte Gesichter der jungen, angehenden AutorInnen zu blicken, die mir Fragen stellen, als hätte ich eine Ahnung wie man schreibt!

Eva Christina Zeller, Lyrikerin

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Stellen Sie, Walter Pobaschnig die Frage im Kontext von Klimawandel, Krieg oder Covid?

Mit welchen Schrecklichkeiten oder Herausforderungen müssen wir zurechtkommen? Zum Krieg wurde so viel geschrieben und gesagt. Ich verstehe ihn nicht, wenn ich versuche ihn zu verstehen, dann stehen mir die Haare zu Berge und ich weiß nicht, wie ich mein tägliches Kleinklein bewältigen soll. Krieg zu führen ist verrückt, weil wir den Abgrund vermessen. Aber den Klimawandel nicht aufzuhalten und nur Feigenblätter zu verteilen, ist genauso verrückt.

Aber ich muss mich an die eigene Nase fassen. Ich bin in die USA geflogen, um hier zu arbeiten, um Studierenden meine Gedichte und Geschichten vorzulesen und um ihnen zu erzählen, warum ich schreibe und wie ich schreibe. Kreativität ist eine Kraft und das Schreiben hat mein Leben gerettet, um es pathetisch auszudrücken. Wie das genau vor sich ging, steht in meinem neuen Roman. Ich flog auch hierher, um meine ehemalige Gastfamilie von vor 45 Jahren zu besuchen. Wie kann ich dies rechtfertigen?

Ich sehe hier in den USA die allgemeinen Gegensätze überdeutlich. Die Reichen in ihren großen Autos und riesigen Häusern, die Auswahl von zwanzig verschiedenen Arten von Peanutbutter und gleichzeitig die Wohnungslosen auf der Straße, die die Mieten nicht mehr bezahlen können. Diese Gegensätze sind kaum auszuhalten und machen mich wütend.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?  

Für mich ist sie Nahrung. Ich lese Gedichte, ich schreibe Gedichte. Ich  gehe in die Natur und schaue mir die Bäume an. Sie geben mir einen guten Grund am Leben zu sein. Als ich gerade an der Westküste in Nordkalifornien in einem artist retreat war, hörte ich fast jeden Morgen die Erde beben und es tat weh, wenn wieder ein Redwoodtree, ein Mammutbaum, viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte alt, gefällt wurde.

Was liest Du derzeit?

Ich lese Gedichte von Elizabeth Bishop und das Buch der Anthropologin Nastassja Martin „An das Wilde glauben“. Wie können wir westliche Psychologie und Rationalität auf der einen Seite und den Pantheismus und Animismus auf der anderen Seite nicht nur als Gegensätze betrachten? Dieser Frage geht die Autorin aufgrund einer tätlichen Begegnung und Verletzung mit einem Bären nach. Ich kann nur dadurch leben, dass ich eine Verbindung mit Mensch und Tier und Baum aufzubauen versuche, das klingt jetzt plump. Nichts anderes mache ich in meinen Gedichten: ich verbinde mich mit Worten. Worte sind mein Verband, mein Pflaster. 

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?  

„Ich war bereits einmal Knabe, Mädchen, Pflanze, Vogel und flutentauchender, stummer Fisch“

Empedokles, Über die Natur, Fragment 117

„Zur Ruhe kommen

Wenn der Leib unaufhörlich

in Bewegung gehalten wird,

wird er müde.

Wenn der Geist unaufhörlich

in Bewegung gehalten wird,

wird er sorgenvoll;

und Sorge verursacht Erschöpfung.

Das Wesen des Wassers ist,

dass es klar wird,

wenn man es in Ruhe lässt,

und still,

wenn man es nicht stört.“

Dschuang Dsi

Vielen Dank für das Interview liebe Eva Christina, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Eva Christina Zeller, Lyrikerin

http://eva-christina-zeller.de/

Foto_Wolfgang Irg

6.9.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

Ein Gedanke zu „„Worte sind mein Verband, mein Pflaster“ Eva Christina Zeller, Lyrikerin _ Tübingen/D 16.10.2022

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s