Liebe Noshin, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?
Da ich meistens gegen Mittag zur Arbeit fahre, gehe ich erst in den Garten, schaue nach den Blumen und Vögeln und tanke Energie und gute Laune, um den ganzen Tag energisch und fröhlich Erwachsene und Kinder zu unterrichten.

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?
Die Erde wird von vielen Menschen zerstört und die meisten tragen ihren Teil dazu bei. Wir sollten unsere „Natur-GöttInnen“ wiedererkennen und Wasser, Luft und Erde schätzen und pflegen.
Der Mensch hat die Gabe zwischen Gut und Böse zu wählen. Aber um die richtige Wahl zu treffen, braucht die Person nicht nur Bewusstsein und Verantwortung, sondern auch die Erkenntnis, die in der Mystik als Liebe bezeichnet wird. Die Liebe besteht aus Frieden und Toleranz, vertreibt Gier, Zorn und andere Dämonen und lässt keine Kriege zu. Was der Menschheit in unserer Zeit fehlt, ist die Liebe zu Natur, zu Tier und auch zu Menschen und die Erkenntnis, dass die Muttererde ihre Kinder alle gleich liebt, egal wo sie geboren und aufgewachsen sind.
Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?
Literatur und Kunst kennen keine Grenzen, keinen vergänglichen Körper, keine Landesgrenzen und sind nicht in einem beschränkten Raum gefangen. Sie sind die Seelen der Menschheit, die ewig in uns leben. Sie sind wie das fließende Wasser, die uns mit ihren Tropfen (Wörtern), Wellen (Sätzen) und Strömungen (neunen Ansichten) Tiefe gibt. Wenn die Musik unsere Seele zum Tanzen bringt, wenn ein Gemälde oder ein Skulptur Geschichten erzählt, eröffnen sie uns unbekannte Welten, die auf reiche Sprachen und Gedanken schweben und uns ins Reich der Fantasie, Mehrdeutlichkeit, unterschiedlichen Wahrheiten, oder schmerzhafte Realität bringen, die wir in menschlichen oder tierischen Gestalten wie das eigene Leib fühlen und durch die Schönheit der Kunst nicht mehr ignorieren können.
Die Kunst und Literatur bereichern die Menschheit tiefer zu fühlen, fruchtbarer zu denken und auch qualitativer zu lieben, was ich als Ästhetik eines Kunstwerkes verstehe.
Was liest Du derzeit?
Nach vielen Jahren lese ich wieder „Der Garten“ von Saadi, dem großen Dichter aus dem dreizehnten Jahrhundert, der mich jedes Mal überrascht, wie tiefsinnig ein Dichter sein könnte. Seine Lektüren sind auch für unsere Zeit geeignet, aber leider nicht die alte deutsche Übersetzung:
O ihr Gebornen eines Weibes-
Seid ihr nicht Glieder eines Leibes?
Kann auch ein Glied dem Weh verfallen,
Dass es nicht wird gefühlt von allen?
Du, den nicht Menschenleiden rühren,
Kannst auch den Namen Mensch nicht führen.
Saadi (Übers. Rückert)
Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?
„Um die Finsternis zu bekämpfen, ziehe ich kein Schwert, sondern zünde ein Licht!“ Zarathustras zugeschriebenes Zitat
Und die Dichter und Künstler waren und sind unsere Lichter!
Vielen Dank für das Interview liebe Noshin, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute!
5 Fragen an Künstler*innen:
Noshin Shahrokhi, Schriftstellerin
Noshin Shahrokhi ist Autorin und hat mehrere Bücher publiziert. Sowohl auf Persisch als auch auf Deutsch hat sie Romane, Erzählungen, Satiren und auch Gedichte geschrieben. Ihr neuer Roman heißt: „So leicht kommst du nicht ins Paradies“ (Alibri Verlag, 2021)
Sie wohnt in der Nähe von Hannover und hat in Hannover Germanistik und Religionswissenschaft studiert und Jahrzehnte als Journalistin für die persischen Redaktionen (darunter auch bei der deutschen Welle) gearbeitet. Zurzeit arbeitet sie als Dozentin bei der Arbeitsgemeinschaft Arbeit und Leben.
Foto_privat
10.8.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.