„Gute Literatur rührt immer etwas an und bewegt“ Tanja Dückers, Schriftstellerin _ Wisconsin/USA 10.10.2022

Liebe Tanja, wie sieht jetzt Dein Tagesablauf aus?

Ich stehe früh auf, weil ich mich immer noch nicht ganz vom Jet lag (sieben Stunden Zeitunterschied) gewöhnt habe. Das finde ich jedoch sehr gut, denn morgens kann ich besser arbeiten – bevor andere Leute Mails schreiben oder das Telefon klingelt. Oder der Sohn in die Schule muss… Ich bin derzeit writer-in-residence in Madison, der Hauptstadt von Wisconsin, zweieinhalb Stunden nordwestlich von Chicago gelegen. Mit dem Stipendium ist ein Lehrauftrag an der University of Wisconsin – Madison verbunden. Mein Mann und unser Sohn sind mit dabei.

Tanja Dückers, Schriftstellerin

Madison, die Hauptstadt von Wisconsin, liegt zwischen zwei Seen, dem Lake Monona und dem Lake Mendota.
Von der Uni sind es wenige Minuten hierher.
Man tritt aus der Bibliothek und ist bald in der nordischen Wildnis.

Wenn ich unterrichte, dann radele ich nachmittags eine halbe Stunde an die Uni. Es gibt viele Fahrradwege hier, die Stadt ist diesbezüglich recht fortschrittlich. Auf den Radwegen ist man trotzdem meistens allein. Sieht man einen anderen Radfahrer lächelt man sich komplizenhaft an. Die Leute, die hier Radfahren, nehmen diese Form der Fortbewegung sehr ernst und tragen oft schnittige Sportkleidung. Ich überhaupt nicht, ich habe es gern unschnittig und fahre gemütlich, schaue mich dabei um, Radfahren als eine Form von Spazierengehen. Innerhalb der Nische „Radfahrende“ im Mittleren Westen bilde ich nochmal die Nische „nicht-sportiver Radlerin“. Aber ich fahre sehr gern Rad, auch zuhause in Berlin. Ein Auto hier zu mieten, wäre für den Zeitraum einfach zu teuer für uns gewesen. Seit Corona sind die Preise für Rentals Cars in den USA durch die Decke gegangen.

Einer von uns bringt unseren Sohn – mit Rad – in die Schule. Am Nachmittag wird er wieder abgeholt. Ich bin ganz gut hier eingespannt, ich lehre einen Kurs über Literatur aus Berlin von Fontane bis zur Gegenwart, halte aber auch noch Lesungen und Vorträge, nicht nur in  Wisconsin. Das Unterrichten macht mir immer viel Spaß. Meine Studis sprechen gut Deutsch und lesen selbst Walter Benjamin  („Berliner Kindheit um 1900“) oder Christa Wolf („Unter den Linden“) ohne Probleme.  Wir lesen auch ganz aktuelle Texte, Bücher, die erst vor ein oder zwei Jahren erschienen sind. Es ist spannend, wie die Studis hierauf reagieren, manche waren schon im Berlin.

Dieser Pavillon im Park ist beliebt als Unterstand für Picknicks etc.
Und man kann ihn auch bei nebligem trübem Wetter gut auf die Ferne erkennen…
es gibt viele ausgedehnte Parks hier.

Abends esse ich immer etwas Schokolade, so wie andere Leute ein Glas Bier oder Wein trinken. 

Was ist jetzt für uns alle besonders wichtig?

Sich nicht abzukapseln in gesellschaftlichen Denk-Ghettos, in denen die eigene Meinung unwidersprochen bleibt, in denen kein Widerspruch zu erwarten ist, man „unter sich“ ist. Sich auch mal zum Zweifel zu bekennen. Nicht immer zu wissen glauben, was jetzt „das Richtige“ ist. Gespräche zu beginnen ohne in erster Linie den Impuls zu haben, den anderen überzeugen zu wollen und selber keinen Millimeter „abzuweichen“. Ja, einfach: Gesprächsoffenheit.

Neben dieser eher allgemeinen Aussage, die eine innere Haltung beschreibt: als besonders empfinde ich im Moment – ich spreche hier aus Berliner Perspektive – Engagement für Geflüchtete, konkrete Hilfestellung, zum Beispiel für Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine, die bei uns angekommen sind und irgendwie auch unter den äußerst erschwerten Bedingungen weiterarbeiten, lesen, publizieren wollen.

Vor einem Aufbruch und Neubeginn werden wir jetzt alle gesellschaftlich und persönlich stehen. Was wird dabei wesentlich sein und welche Rolle kommt dabei der Literatur, der Kunst an sich zu?

Als Schriftstellerin bin ich natürlich geneigt, die Rolle der Literatur hoch einzuschätzen. Aber das könnte eher eine falsche Beurteilung aufgrund einer gewissen beruflichen Deformation meinerseits sein als wirklich der derzeitigen gesellschaftlichen Bedeutung der Literatur entsprechen. Als Filmemacherin, Musikerin oder Grafittikünstlerin würde ich in Berlin sicher mehr Menschen erreichen. Spannend finde ich im Moment, was aus der Ukraine geflüchtete Kolleginnen und Kollegen schreiben, auch Geflüchtete aus anderen Ländern. Ihrer Literatur kommt also unter Anderem eine informierende Kraft zu, für sie selber hat das Aufschreiben ihrer Erlebnisse oder ihrer Erinnerungen an ihre Heimat noch eine ganz andere Funktion.  In Umbruchszeiten kann Literatur schon auf eine persönlichere, subjektivere Weise als ein Zeitungsartikel oder ein Nachrichtenbeitrag „sinnliche Geschichtsschreibung“ betreiben. Manchmal kann man mit Literatur, mit Geschichten aufgrund der figuralen Identifizierungsvorlage mehr Empathie bei Menschen erreichen als mit sachlich gehaltenen „News“.

Aber Literatur kann – auch jetzt – einfach nur erfreuen, mit der Leichtigkeit einer Matisse-Zeichnung, und das ist absolut nicht verwerflich. Literatur darf trösten und ablenken. Sie muss nicht in einem aktionistischen Sinne „aufrütteln“ (was auch immer das eigentlich genau heißt). Sie kann auf ganz unterschiedliche Weise wirksam sein.

Ich selber schreibe schon gern Texte mit einem soziologischen Fundament, selbst in meiner Lyrik, aber wehre mich gegen Vorgaben z.B. aus der Literaturkritik, wie „Literatur in Krisenzeiten“ sein sollte. Wenn oft gesagt wird, wie etwas zu sein hat, ist die Krise, die Not meist groß, und die Bevormunder leisten ihren Beitrag zu dieser Not. „Politische Literatur“ ist ein etwas ermüdendes Schlagwort geworden. Gute Literatur rührt immer etwas an und bewegt – im weiteren Sinne.

Was liest Du derzeit?

Hier in den USA habe ich viele Bücher für das Seminar, das ich unterrichte, nochmal gelesen, z.B. – sehr empfehlenswert – „Nachrichten aus Berlin. 1933 – 36“ von Antoni Graf Sobanski, einem großartigen polnischen Journalisten, Essayisten und Übersetzer, der den Aufstieg der Nazis auf der alltagskulturellen Ebene beobachtet und für eine polnische Zeitung als Korrespondent fungiert hat. Sehr lesenswert und tief erschreckend. Leider starb der exzentrische, hochgebildete Bohemian (er sprach sechs europäische Sprachen fließend, darunter Deutsch) ziemlich jung schon im Jahr 1941.

Ich lese derzeit Texte von aus der Ukraine geflohenen Autorinnen und Autoren, die oft noch nicht in Buchform erschienen sind, sondern verstreut auf verschiedenen Webseiten oder Literaturzeitschriften bzw. in ganz informellen Kontexten.

An Sachbüchern liegt bei mir gerade auf dem Tisch: Lukas Hermsmeiers „Uprising. Amerikas Neue Linke“.

Immer gern lese ich Martin Amanshauser, eigentlich alles vom ihm, belletristisch oder journalistisch. Ein guter Kompass.

Welches Zitat, welchen Textimpuls möchtest Du uns mitgeben?

Ein Zitat von Fernando Pessoa, das nach meinem Empfinden für einen grundhumanistischen Ansatz, für Partizipation, Lebensfreude und Neugierde steht. Es hängt über meinem Schreibtisch zuhause in Berlin:

„Ah, dass ich nicht alle Menschen und überall sein kann“.

Tanja Dückers, Schriftstellerin

Vielen Dank für das Interview liebe Tanja, viel Freude und Erfolg weiterhin für Deine großartigen Literaturprojekte und persönlich in diesen Tagen alles Gute! 

5 Fragen an Künstler*innen:

Tanja Dückers, Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin, Publizistin _ Berlin _ aktuell writer-in-residence-Aufenthalt in den USA

www.tanjadueckers.de

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Fotos_Anton Landgraf

3.10.2022_Interview_Walter Pobaschnig. Das Interview wurde online geführt.

https://literaturoutdoors.com

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